Das Geheimprojekt: die Ausrottung der weißen, grauhaarigen, alten Männer

Agentin A, wie ist Ihr Fortschritt?

Erhabene Meisterin, heute waren es sechsundneunzig.

Sechsundneunzig?

Ich hatte heute Mittag eine kostenlose Filmvorführung von “Ritter der Kokosnuss” organisiert. Jeder erhielt ein Gummischwert mit Eisenkern. Vierundvierzig starben mit dem Satz “Ist doch nur eine Fleischwunde” auf den Lippen. Die Restlichen hielten das für den “Tödlichsten Witz der Menschheitsgeschichte” und erstickten an ihrem Lachen.

Sehr gut, sehr gut.

Zusätzlich organisierte ich noch ausschließlich für Erz-Boomer-Kleriker “Das Leben des Brians”. Die kamen, sahen und regten sich wie erwartet über Gebühr auf und gingen mit Herzinfarkt über die Wupper. Siebenundneunzig. Die Hartnäckigen, die während jenem Film eingeschlafen waren, erhielten noch im Anschluss den Film “The last Temptation of Christ”. Sechs wirklich Hartgesottene überlebten allerdings auch dieses, ich konnte denen noch heimlich iranische Pässe in die Soutane stecken. Am Ausgang wartete bereits die Polizei und hat jene aufgrund Kindesmissbrauchsvergehen einkassiert. Die Priester wurden direkt mit Tatvorwurfsbeschreibung in neun Sprachen in ein Flugzeug nach Teheran abgeschoben.

Agentin A, hört sich gut an, weitermachen. Agent B, was sind Ihre Ergebnisse.

Erhabene Meisterin, ich habe heute eine Vorlesung über das Thema “Haben und Sein” durchgeführt. Inmitten der Vorlesung ließ ich einen Mitverschwörer auf der Bühne den Ausruf “Okay, Boomer” tätigen. Ca. 75% der Zuhörer starben an Schnappatmung. Der Rest lachte anfangs noch, wurde dann aber mit wohldosiertem “Jaja, ihr Baby-Boomer” erledigt.

Agent B, seht gut. Kommt morgen die AKW-Bewegung dran?

Ja, ich habe festgestellt, dass hier die Dichte der Boomer und Baby-Boomer am höchsten ist. Wir werden denen das Gesetz über die Laufzeitverlängerungen vorlesen. Zudem erklären wir denen noch den Nutzen von Braunkohlekraftwerken, Panzern und anderen grünen Entscheidungen. Zu erwartende Herzinfarktrate wird bei 78% liegen. Die restlichen 22 Prozent erledigen wird mittels Unwirksamkeitsstudien von Globuli, Friedensdemos und vegetarischem Veganismus in Zeiten von Weber-Grill-Kugeln. Beim zu erwartenden Handgemenge ist mit Gewalt zwischen Zuhörern zu rechnen, da die sich eh nicht alle grüne sind.

Agent B, Handgemenge sind nicht effizient. Bitte ergänzen Sie die Maßnahmen mit mehr Effektivität. Verteilen Sie vor dem Vortrag noch bitte Brieföffner und Schwiegermütter.

Schwiegermütter?

Wirkt immer, bei diesen Bürokraten, die wissen, was ein Schwiegermuttermörder ist. Agent-etwas C. Ihr Resümee?

Erhabene Meisterin, vierhundertneunundvierzig Menschen konnten wir mit der Titelmelodie “Pat und Patachon” in eine sehr düstere Ecke ihrer Stadt locken und mit Dauerbeschallung mit der Titelmelodie von “Die rote Zora” erledigen. Die Polizei tappt  bislang – wie erwartet – noch immer im Dunkeln. Weitere siebenhundertdreiundsechzig Baby-Boomer lockten wir mit der alten Titelmelodien von “Väter der Klamotten”, “Western von Gestern” und “Dick und Doof” in ein tiefes Gewässer, wo sie unter Klängen von “Hey hey Wickie” elendig ersoffen.

Sehr schön, sehr schön.

Weitere siebenhundertelfundsechzig Baby-Boomer haben wir mit der Melodie “Wer hat an der Uhr gedreht” aus deren Arbeitsplätzen geholt und dann mit “Die schnellste Maus von Mexiko” und Udo Jürgens “Vielen Dank für die Blumen” in ein Tigerkäfig locken können. Exitus. Die Tiger sind gesättigt. Leider aber auch übersättigt. Morgen steht dafür der Löwenkäfig auf den Plan.

Agentin D?

Chefin, ich habe einen Fernsehsender infiltriert. Und niemand hat es gemerkt.

Sehr gut.

Mit Geschick habe ich dort eine Show mit Boomern, Baby-Boomern und paar anderen Normalos organisiert.

Sehr, sehr gut.

Dazu habe ich Tweets über diese dämliche Boomer und deren over-cringe Baby-Boomer verfasst. Diese Tweets gingen gnadenlos viral. Beifall war mir hundertfach. Meine Followerzahl stieg annähernd fünfstellig. Ich organisierte Anruforgien in der Show mit dem Ziel: Diskreditierung der weißen, grauhaarigen, alten Männer, diesen dämlichen Boomer und deren over-cringe Baby-Boomer. Sie sollten demaskiert werden, als das was sie sind: überflüssig und ready to go. Ich erreichte meine Zuschauer in der anvisierten Altersgruppe der 14- bis 49-Jährigen: 1,6 Millionen. Mehr als genug, um Anrufer der Gruppe der weißen, grauhaarigen, alten Männer zu übertrumpfen.

Und?

Tja, Chefin, dann hat so ein dämlicher, weiblicher Boomer mit Schönheitsidealen a la Botox und Schlauchbootlippen abgeräumt und wurde Dschungelkönigin …

WAS?! Unglaublich! Elende Versagerin! Agentin D, du bist gefeuert! Du miese Nulpe, du!

Egal.

Wie bitte?

Der Sender hat mich einen Vertrag angeboten. Als Boomer- und Baby-Boomer-Expertin hätte ich mit meinen 39 Jährchen die passende Einstellung und Erfahrung, hieß es …

RAUS!!!!

Kneipengespräch: Davertgeschichten oder … in der Davert lügt man, wenn man höflich ist

Ein kehliges Röhren, direkt aus dem Rachen, unterstützt von einem Geräusch von zusammengeklebten Schleim, der Blasen wirft. Ein Geräusch, das fast aus dem Magen zu kommen scheint, gurgelnd aufsteigend in den Hals-Nasen-Rachenbereich. Ein Geräusch wie bei den Zombies aus der Fernsehserie „The Walking Dead“.

»Hey!«

Der Wirt hatte in seiner Zapfbewegung innegehalten und meinen Nachbarn lauthals angeranzt. Jetzt blickte er ihn eindringlich an.

»Wage es nicht! Oder ich schmeiße dich raus!«

Das Gesicht meines Nachbarn zeigte Überraschung. Er hielt inne und das Geräusch, das er von sich gegeben hat, endete sofort. Seine Kiefer mahlten jetzt dafür. Er schien etwas im Mund zu haben, an dem er kaute. Er hob sein Glas Pinkus hoch und nahm einen langen Schluck. Er hatte es runter gespült.

Es schüttelte mich. Ich dachte, dass ich mich verabschieden sollte. Aber der Wunsch nach einem weiteren Pinkus machte meine Absicht, mich zu verabschieden, zunichte. Nicht immer hatte der Wirt diese Art Sonderaktionen. Diesmal gab es eine Sonderaktion mit Pinkus-Bier aus Münster. Ich hob mein Pinkus und winkte damit dem Wirt zu. Er nickte und brachte mir ein neues, volles Glas.

Mein Blick fixierte die Barauslage hinter dem Wirt. Wie lange würde ich wohl brauchen, um alle Flaschen zu auszutrinken? Oder zumindest einmal alle probiert zu haben? Das Zweite war realer, aber reichte noch mein Geld dazu? Ich öffnete im Geiste meine Geldbörse und fing an, den Inhalt durchzuzählen.

»Es tut mir leid, ich wollte niemanden ekeln«, entschuldigte sich mein Nachbar beim Wirt  und bei mir, »ich war in Gedanken versunken und mir gingen dabei die letzten Tage durch den Kopf.«

»Das mag ja sein, aber solche Geräusche von sich zu geben, geht mal erst gar nicht. Du bist hier nur Gast«, entgegnete der Wirt unterkühlt, »selbst wenn die letzten Nachrichten, was die Ausschreitungen zu Silvester-Neujahr anbetrifft, zum Kotzen waren. Okay? So etwas machst du hier nicht bei mir! Bei mir nicht!«

»Es tut mir leid.«

Ich ignorierte den Nachbarn und fixierte meinen Blick auf eine schlanke grüne Flasche. Schliersee-Gin. Den wollte ich jetzt. Mit einem Schluck trank ich mein gerade mir hingestelltes Pinkus leer.

»Herr Oberspielleiter, etwas von dem Schliersee-Gin hätte ich gern.«

Der Wirt blickte mich an, nickte und fragte: »Pur oder auf Tonic?«

»Pur.«

Er griff Gin-Flasche und Longdrink-Glas und füllte mir etwas ab. Zusammen mit einem weiteren Glas Pinkus schob er mir den Gin rüber. Aus dem Gin-Glas stieg mir der intensive Duft von Wacholderbeeren in die Nase. Ich hielt inne, für einen Augenblick, um diesen Duft für mich festzuhalten und zu genießen, um diesem Moment ein Stück Ewigkeit zu geben.

»Wissen Sie, meine Mutter kam aus Schlesien. Sie war auf der Flucht, ihr Leben lang, sie floh mit ihrer Mutter und ihren paar Habseligkeiten vor der Ostfront Richtung Westen, da wo es ruhiger und sicherer war.«

Er redete wohl mit mir. Ich versuchte den Nachbarn weiterhin zu ignorieren und konzentrierte mich auf den Geschmack der verschiedenen Gin-Botanicals unter meinem Gaumen.

»Sie legten den ganzen Weg zu Fuß zurück bei Wind und Wetter«, hörte ich meinen Nachbarn sagen, »und als sie in der Gegend von Münster ankamen, unterkühlt und vergrippt, wurden sie als erstes gefragt, warum sie denn nicht im Osten der sowjetischen Besatzungszone geblieben wären. Oder, warum sie ihre Heimat Schlesien nicht bis zum letzten Atemzug verteidigt hätten.«

Ich schmeckte Zitrone, Orange und Fenchel … ich musste mich konzentrieren, … doch, da war ganz sicher ein Hauch von Heublumen, …

»Willkommen waren beide nicht, außer meine Mutter. Der fast 18-jährige Sohn vom Dorfvorsteher soll sie – wie behauptet wird – geschwängert haben. Meine erst 14-jährige Mutter wurde darauf zu einer Engelsmacherin gebracht. Und der Dorfvorsteher strafte seinen Sohn, weil jener sich mit einem Flüchtlingsmädchen sexuell eingelassen hätte. Er schickte ihn in ein bekanntes Internat am Niederrhein. Dort erhoffte sich der Dorfvorsteher eine bessere Erziehung für seinen Jungen. Denn das Internats stand unter einer erzkatholischen Leitung, die ihm Ruf stand, mit strenger Hand auf die sittsame und moralische Erziehung der ihnen anvertrauten Jungen zu achten. Später wurde hinter vorgehaltener Hand das Gerücht gestreut, dass der Junge des Dorfvorstehers sich aus Reue in jenem Internat umgebracht haben sollte. Weil der Junge in jenem Internat sein bereits Dorf bekanntes, ausschweifendes sexuelles Leben auch mit anderen Jungs und verwerflicher weise auch mit Priestern fortgeführt haben sollte, war sein Selbstmord zu Recht die Strafe Gottes. Das inzwischen aber herausgefunden wurde, dass in dem Internat nur die Priester sexuell aktiv mit den Jungen agierten, das wurde nicht weiter thematisiert. Schließlich – so die Ansicht im Dorf – das war ja Angelegenheit des Internats, und nicht des Dorfes. Und in Wahrheit war es in jenem Dorf auch damals nicht unbekannt. Aber irgendwie musste man ungehorsame Kinder ja zur Vernunft bringen. Und wenn es nicht die Kirche Gottes könne, wer hätte es denn je besser gekonnt, so wurde als Rechtfertigung immer gemunkelt.«

Ich wollte ihm nicht zuhören. Es interessierte mich einfach nicht. Konnte er seine Geschichte nicht seinem Glas Pinkus flüsternd erzählen? Warum mir? Was hatte ich verbrochen? Ich wollte meine Ruhe: »He, Wirt, haste noch einen anderen Gin?«

»Es tut mir leid. Meine Geschichte interessiert Sie nicht?«, warf mein Nachbar ein.

»Nein«, blaffte ich zurück.

»Das sagte meine Mutter auch immer. Sie hasste den Krieg. Sie hasste die Lust an der Zerstörung. Jene Zerstörung, die die Militärs jetzt immer als Kollateralschaden bezeichnen und uns gegenüber damit verniedlichen. Und sie hasste den Krieg weiterhin, diesen organisierten generalstabsmäßigen Tod. Genauso wie die heutigen Beschwörungen, dass Krieg unbedingt unabdingbar sei, um gegen die anderen zu kämpfen. Sie hasste Krieg. Aber niemand interessierte sich für ihre Ansicht und Erfahrungen mit Krieg, niemand interessierte sich für ihre Lebenserfahrungen. Was haben die heutigen Menschen damit zu schaffen, wer interessiert sich dafür? Für ihre Panik, wenn Bombenalarm herrschte. Wenn alle, die auf den Feldern arbeiteten, in die Feldbunker flohen. Einmal, als die Bunkertüren bereits verrammelt waren, kam ihr Vater – ein Münsterländische Westfale, wie er im Buche steht, als Beispiel der westfälischen Langsamkeit – und donnerte mit Fäusten und Steinen gegen die verschlossenen Türe, um noch reingelassen zu werden. Im Bunker dachte jedoch jeder, dass draußen bereits Bomben einschlugen, weil die Schläge an der Tür im Bunker so dröhnend hallten. Alle hatten in Todesangst geschrien, es herrschte ein heilloser Bunkerkoller, bis der Öhm meiner Großmutter die Tür aufmachte und ihr Vater rein stolperte. Beim zweiten Mal kam ihr Vater wieder nicht rechtzeitig. Er kam überhaupt nicht an. Nach dem sonntäglichen Gottesdienst radelte er gemächlich von der Kirche direkt zu seinem Hof, während seine Familie im Bunker wartete und dort zu Gott betete, dass nichts passieren sollte, traf ihn eine Fliegerbombe frontal. Fast nichts von ihm blieb übrig. Nach der schnellen Beerdigung ihres Ehemannes beschloss meine Großmutter mit Kind und Kegel aus Schlesien zu fliehen. Flucht. Dahin, wo es sicher sein sollte, dahin, wovon ihr Ehemann immer schwärmte: ins Westfalenland. Dort, wo das Leben nicht vom Terror durch Bomben und Tod regiert werden würde.«

Der Wirt war weit und breit nicht zu sehen. Oder er hatte sich verdrückt. Vorhin hatte ich ihn doch noch gesehen. Keine Ahnung.

Ich konzentrierte mich auf meinen Rest Gin im Glas und versuchte den Moment des ersten Geruchskontakts, das jungfräuliche Erschnuppern der Gin-Blume, wieder zu beleben. Da war noch ein weitere Duft. Ich erkannte den Duft von Kartoffeln. Aber wird Gin aus Kartoffeln gemacht?

»Sie erreichte das Westfalenland und damit erfuhr sie gleich, wie es dort zuging. Nach der Geschichte mit dem Sohn des Dorfvorstehers und dem Schwangerschaftsabbruch riet der dortige Dorfpfarrer sowohl meiner Mutter als auch ihrer Mutter in ein anderes Dorf umzuziehen. Er kannte den dortigen Dorfpfarrer und so zogen Mutter und Tochter in den Süden Münsters, in die Davert. Nur dort wurde es noch schwieriger. Sie waren nicht nur Flüchtlinge, sondern auch todsündig: es verbreitete sich wie ein Lauffeuer, dass meine Mutter bereits mit weniger als 15 Jahren einen Mann zum Sex verführt – so verführt wie die Eva den Adam zur Sünde brachte – und dann auch noch gotteslästerlich abgetrieben hatte. Sie war der Aussatz, das personifizierte Lepra des Dorfes, in dem sie sich niedergelassen hatten. Und genau so wurde die Frau behandelt. Und ihre Mutter wurde als Rabenmutter verschrien, eine Inkarnation der biblischen Hure Maria Magdalena des Dorfes. Von dem Dorf stigmatisiert sowohl als heimatloser Flüchtling als auch gotteslästerliche Rabenmutter. Nur Kommunist oder eventuell evangelisch zu sein, das erschien noch schlimmer für Gemeinde und Bevölkerung des Dorfes. Aber was war schon schlimmer als Pest? Cholera? Der dortige Dorfpfarrer hielt zwar seine Hand einigermaßen schützend über beide. Nur machte ihn dafür der Pfarrgemeinderat in vielen Sitzungen immer wieder rund, weil er als Mann Gottes doch die Bibel nicht befolgen würde, sondern vielmehr die Sünde protegieren und dazu auch noch beherbergen würde.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

Langsam wurde ich aggressiv. Der Mann laberte mir mit irgendwelchen Heulgeschichten mein Ohr ab und der Wirt wollte einfach nicht auftauchen, um mir einen anderen Gin zu bringen. Wo blieb er nur?

»Was kann ich dafür, dass Ihre Familie auf der Flucht war und dann hier Probleme bekam? Ist das meine Schuld, was andere damals verbrochen haben? Was kann ich dafür? Ich habe damit nichts zu schaffen! Lassen Sie mich damit in Ruhe!«

»Meine Mutter ist 84 Jahre alt und ich bin 69.«

Ich hielt inne und rechnete nach:

»Ihre Mutter ist 84? Und Sie 69? Da stimmt etwas nicht.«

Ich schaute meinen Nachbarn zum ersten Mal direkt ins Gesicht. Das Leben hatte seine Autogramme in Form von Falten und Grübchen in sein Gesicht geschrieben. Das Haar war silbergrau und spärlich auf seinem Haupt. Unrasiert war er und seine Bartstoppeln changierten von dunkelbraun zu hellgrau. Sein Rücken war gebeugt und zeigte einen Buckel. Die Augen schienen eingetrübt, vom bereits konsumierten Pinkus leicht glasig. Aber zugleich war sein Blick erkennbar müde. Seine Lider wirkten übernächtigt, verschlissen, abgenutzt vom dauernden Blinzeln. Dicke Tränensäcke klebten unter seinen Augen. Er vermittelte den Eindruck eines Menschen, der unter Bedrückung, vielleicht sogar unter Depression litt.

»Ihre Mutter hatte nicht abgetrieben, nicht wahr? Sie war 15, als sie Sie gebar. Und somit ist ihr Vater der Sohn des Dorfvorstehers, der Selbstmord beging, nicht wahr?«

»Nein, der Sohn war es nicht.«

»Sondern?«

»Der Dorfvorsteher selber.«

»Der Dorfvorsteher?«

»Ja, der Dorfvorsteher und spätere Kreisvorsitzender. Ein Kinderficker von Gottes Gnaden. Im wahrsten Sinne des Wortes. E selber ist ein Erzkatholik und hatte alle Pfaffen unter seiner Fuchtel. Sein Einfluss soll bis ins Domkapitel gegangen sein. Einige behaupteten sogar, er würde morgens Weihwasser pinkeln.«

»Und sein Sohn? Hatte er diesen nicht auf das Internat geschickt?«

»Ja. Er musste es jenem wohl als Karrierebildungschance verkauft haben. Als sein Sohn dann dort auf dem Internat war, hatte der Dorfvorsteher öffentlich herum erzählt, dass allein sein Sohn an der Schwangerschaft des Flüchtlingsmädchen Schuld gewesen sei.«

»Moment. Und der Dorfvorsteher hatte nicht bemerkt, dass Ihre Mutter schwanger blieb und nicht abgetrieben hatte?«

»Der Umzug ging schnell und sowohl der erste Pfarrer insbesondere aber auch der Pfarrer der Davert-Gemeinde hatte sie geschützt und beschützt. Dafür hatte eben jener zweite Pfarrer in den Pfarrgemeinderatssitzungen dann bitter bezahlen müssen. Die Pfarrgemeinderatsmitglieder waren unerbittlich fromm und streng gottgläubig. Der Dorfvorsteher hatte wohl mitbekommen, dass meine Mutter sich der Abtreibung widersetzt hatte, und jener Dorfvorsteher vom anderen Dorf, der eigentliche Vater, er hatte seinen Einfluss bis in den Pfarrgemeinderat wirken lassen.«

»Aber hat niemand gewusst, wer ihr Vater in Wahrheit war?«

»Später schon. Als dessen Sohn sich umbrachte, weil er die sexuellen Übergriffe der Internatspriester nicht mehr ertrug, war der Dorfvorsteher mit den Nerven fertig. Zudem kam raus, dass er im Nachbardorf ebenfalls zwei Mädchen missbraucht hatte, die ebenfalls noch nicht mal 15 Jahre waren. Alle Pfarrgemeinderäte in der Umgebung baten den Bischof in Münster den Dorfvorsteher wegen seinen Todsünden sofort zu exkommunizieren. Allein gegenüber der ermittelnden Staatsanwaltschaft bildete man eine unerbittliche Mauer des Schweigens. Es ging schließlich um die Ehre aller Mitwissenden. Zum letzten Mal sah man jenen Dorfvorsteher noch in der Karfreitags-Messe. Man sagte, er saß auf seinem Stammplatz in der Kirche, vorne, isoliert, recht und links von ihm blieb exakt ein Platz frei, er im Zentrum davon strotzend von unnahbaren Stolz. Aber doch irgendetwas sollte nicht gestimmt haben: er sah zerbrochen aus, behaupteten einige. Gebrochen wie eine Gebäude-Fassade aus Dresden 45, so soll er gewirkt haben. Und als er das Weihwasser vom Pfarrer abbekam, bemerkten einige, dass er empfindlich gezuckt haben soll. Obwohl – und das betonte jeder – er wie jedes Jahr mit seiner dröhnenden Bassstimme das Kirchenlied ‚Oh Haupt voll Blut und Wunden‘ mit an brutaler Wollust grenzender Inbrunst gesungen habe.«

»Und?«

»Beim Ostersonntag-Spaziergang fanden ihn dann Spaziergänger aus dem nahen Münster an der berühmten Teufelseiche der Davert baumelnd. Sonnenstrahlen hatten den Schatten des Leichnams von der Teufelseiche auf dem Weg der Wanderer geworfen.«

»Selbstmord?«

»Man sagt, das Ho-Ho-Männeken habe ihn vom rechten Weg in die Wacholderbüsche gelockt. Dort hatte es ihn niedergeschlagen und dann am äußersten Ast der Teufelseiche in fünf Meter Höhe aufgeknüpft.«

»Wer? Das Ho-Ho-Männeken? Wer soll das ein?«

»Der ermittelnde Dorf-Polizist war selber ein Bewohner der Davert, ein sogenannter Davertnickel. Zudem noch Pfarrgemeinderatsmitglied. Er hatte die Akte als Selbstmordfall abgeschlossen. Ob es das Ho-Ho-Männeken war oder der Ritter zur Davertsburg, der wegen seiner damaligen Jagd zu Ostern dazu verdammt war, in der Davert unweit der Teufelseiche ruhelos umher zu irren, das weiß niemand. Nicht mal einer der Pfarrgemeinderäte beider Gemeinden. Und erst recht niemand interessiert es, was das alles aus mir gemacht hat.«

»Das ist doch ein Schmarren!«

»Nun, kein Schmarren ist, dass ich der Sohn eines katholischen Kinderschänders bin, meine Mutter bis zu ihrem Tod ein unwillkommener Flüchtling blieb und bei mir 50% Schlesierblut in den unehelichen Adern fließt. Niemand mag Flüchtlinge, die nicht deutsch sind.«

»Und zu Hundert Prozent ist sicher, dass du Vollidiot jetzt meinen Laden verlässt«, der Wirt war für mich überraschend hinter ihm aufgetaucht, packte meinen Nachbarn an seinem Arm und zugleich an den Kragen seiner Jacke. Er schleifte ihn von seinem Hocker zur Tür, öffnete mit seinem Fuß die Eingangstür auf und stieß den Nachbarn hinaus.

»Jetzt ist es genug mit deinen Mitleidsgemäre von wegen Flüchtlingskind und Spukgeschichten in irgendwelche preußischen Regionen! Lass dir gesagt sein, wir mögen Flüchtlinge. Bis zum Verrecken mögen wir sie, da können die drauf Gift nehmen. Wörtlich. Und dich mögen wir nicht. Zum Verrecken mögen wir dich hier nicht: Lass dich nicht mehr blicken! Und nimm deine Pinkus-Rechnung als mein Abschiedsgeschenk an mich! Du kannst wieder kommen, wenn du dich endlich in unserer Kultur Bayerns angepasst hast, du Spinner! Fuck you, ashole!«

Nie hatte ich den Wirt so energisch gesehen. Da war nichts mehr von der bayrischen Gelassenheit und seinem rheinischen Frohsinn. Er hatte meinen Nachbarn hinaus gestoßen und die Tür geschlossen. Als er an mir vorbei kam, klopfte er mir auf die Schulter und meinte:

»Ah, du hast dein Pinkus ausgetrunken. Noch ein Pinkus? Ja? Nebenbei, habe ich dir schon mal meinen Gin-Geheimtipp serviert? Vom Schliersee. Nicht nur aus Wacholdern hergestellt, sondern auch aus Kartoffeln destilliert. Eine Geschmacksexplosion für deinen Gaumen, das verspreche ich dir …«

König Kunde

»Könnten Sie bitte Ihre Maske aufsetzen? Der Aufenthalt hier ist ohne Maske nicht erlaubt.«

Er reagierte nicht, sah durch sie hindurch. Mit routinierten Handgriffen überprüfte er das, was er glaubte mit seinen eigenen Händen greifen zu können: die Frische der Brötchen.

»Ihre Maske, bitte.« Sie machte eine entsprechende Geste zu ihrem Gesicht und deutete auf ihre eigene FFP2-Maske.

»Was wollen Sie von mir?«

»Mein Herr, ich muss Sie leider nochmals auffordern, Ihre Maske aufzusetzen.«

»Was soll ich?« Sein Blick war weder fragend noch irritiert, er war herausfordernd.

»Der Aufenthalt hier in der Lounge ist ohne Maske nicht erlaubt.«

»Warum sollte ich eine Maske aufsetzen? Ich wurde in den letzten 48 Stunden negativ getestet. Extra für meinen Flug.«

»Würden Sie jetzt bitte Ihre Maske …«

»Warum sollte ich? Mein Test war negativ. Wo bitte ist denn der Ihrige, um mich zu schützen?«

»Wie bitte?«

»Sie quatschen mich hier von der Seite an, meine Maske aufzusetzen, dabei wissen Sie doch, dass jeder Passagier einen Test vorzuweisen hat, der diesen als negativ ausweist. Ansonsten kommt er doch gar nicht erst in den Sicherheitsbereich. Und ich selbst, ich bin negativ. Also brauche ich auch keine Maske hier!«

Er war lauter geworden, hatte sich provokant einen Meter vor ihr aufgebaut und starrte sie jetzt durchdringend an.

»Die Maske hier in der Lounge ist eine Pflicht!«

»Ach ja? Und Sie müssen sich nicht testen lassen? Und haben dann das Recht, mich so schwach von der Seite anreden zu dürfen?«

»Ich …«

»Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich arbeite hier.«

»Dann sollten vor allem Sie einen Test vorweisen können, um nachzuweisen, dass Sie kein Risiko für uns Passagiere sind! Wir haben schließlich teuer für unsere Tickets und das Zutrittsrecht zur Lounge bezahlt! Da kann man doch auch wenigstens von den Bediensteten verlangen, …«

»Ich diskutiere nicht mit Ihnen. Sie haben Ihre Maske aufzusetzen oder ich muss Sie von hier entfernen lassen.«

»Ach ja? Und wer gibt Ihnen das Recht dazu? Wollen Sie mich etwa als einen dieser dämlichen Querdenker diffamieren? Oder als irgend so ein Leugner? Ich habe einen negativen Test und Sie konnten mir bislang keinen vorweisen, trotz meiner Aufforderung. Ich möchte umgehend Ihren Vorgesetzten sprechen! Sie behandeln mich unverschämt! Typisch Servicewüste Deutschland, mal wieder!«

Die letzten Worte hat er ihr mit lauter, fester Stimme ins Gesicht geworfen, zu ihr drohend vorgebeugt, mit dem erhobenen Zeigefinger fuchtelte er wie mit einem Degen vor ihren Gesicht erregt hin und her.

Eine uniformierte Frau tippte dem Passagier von hinten auf die Schulter: »Kommen Sie doch bitte mal mit. Ich bringe Sie direkt zu der Vorgesetzten unserer Mitarbeiterin. Kommen Sie bitte mit.« Freundlich, aber bestimmt nahm sie ihm beim Arm und schob ihn Richtung Ausgang.

Die Servicemitarbeiterin atmete tief durch, um ihren Ärger herunter zu schlucken. Die uniformierte Frau drehte sich noch kurz zu ihr um und erinnerte sie freundlich: »Und bitte, werfen Sie bitte alle Brötchen weg, die der Mann hier einfach so angefingert hatte. Die können keinem anderen Passagier mehr zugemutet werden.«

Dystopie 2035: Bodenstation an Major Tom, ist dort Leben auf dem Mars?

Im ganzen politischen Lärm landete letzte Woche ein Weltraumschiff. Im handlichen PKW-Format parkte es sich auf dem Mars. Seine blaue  Parkscheibe – von außen unverdeckt einsehbar – war schon vorher korrekt eingestellt worden. Potentielle Knöllchen, verteilt von irgendwelchen schreibwütigen Politeurs und Politessen der marsianen Parkraumbewirtschaftung waren im Raumfahrt-Budget nicht vorgesehen. Der US-Senat wollte sie aus Kostengründen nicht bewilligen. Auch sollte es auf den Namen “Mach mal hinne” getauft werden. Nur erschien der Name sperrig und hörte sich unverblümt fordernd an. Also beschloss man es ganz kurz “Perseverance” zu nennen.

Auf dieser Weise glänzte das weiße High-Tech-Gefährt einsam unter der strahlenden Sonne auf rostbraunem Untergrund. Es stellte seine 4K-HDR-Pixelshift-Selfie-Kamera auf und richtete seine beiden High-End-Puschel-Mikrofone auf die steinerne Öde aus. Indessen taten es dem Gefährt hunderte Selfie-bewegte Pandemie-Besorgte dieser Welt gleiches und bauten sich vor deren mit Schrumpffolien versiegelten Mikrofonen auf, schauten in 4K-HDR-Kameras und wedelten fahrig mit ihren Armen Hubschrauber-gleich, um die Spannweite der Virusbedrohung zu erklären.

Indessen startete das Mars-Gefährt mit seiner Kerntätigkeit: fahrend und munter propellernd mit seiner Drohne seine Umgebung zu erfahren. Und so funkte der Satellit aus seiner Parkbucht seine ersten 360-Grad-Impressionen und Open-Air-Takes zu dem einsamen Menschen an dessen Schaltpult. Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2021. Und jener wollte schon immer in die Unendlichkeit reinhorchen, wollte von der Menschheit unberührte Klänge erlauschen und so den Lebenssinn “42” mit Klängen erfüllen. Er wollte wissen, was denn sonst so das Thema andere Entitäten wäre, womit jene sich denn so beschäftigen, wenn die nicht gerade ihrer Radio-Soap “Corona-Nachrichten der Erde” lauschten.

Übernächtigt hörte jenes Menschlein sich die Tonspur an. Ein Pfeifen und Rauschen erfüllte seine Gehörgänge. Er hörte das Gleiche, wie wenn er einsam und alleine ohne Handynetz mit leeren Tank seines Chevrolet Bel Air Impala von 1958 auf dem Highway 66 bei praller Sonne stehen würde. Leise würde der Wind um seine Ohren wehen und sein Radio würde vergeblich einen Sender suchend undefinierbare Pfeiftöne von sich geben. Seufzend ob seiner Assoziation stellte also jenes Menschlein der Welt auf dem kleinen Drecksball Erde in deren Internet jene marsiane Tonspur zur Verfügung.

Habt ihr diese Tonspur gehört? Dann hört hier rein. Wenn man die sechste bis achte Sekunde und die zehnten bis zwölften Sekunde mit einem Open-Source-Software-Tool verzögert, passend pitched, dann noch mit passend kalibrierten Hochpass- und genau rebubierten Niederpass-Filter invers abspielt, dabei auch noch die höchsten Ultraschall-Höhen raus subtrahiert und den Infraschall-Bass ins Hörbare rein nivelliert, die violinartigen Mitten mittels Doppler-Effekt reduziert, dann hört man es ganz deutlich:

Verpiss dich, ey! Oder es setzt Haue, wa!

Das hatte der linke kleine Fels zum rechten großen Fels gesagt, der kaum verständlich ein “Ich geh ja schon” danach murmelte. Die beiden felsenfesten Gesteine sind auch auf dem ersten hochauflösenden, immersiven 360-Grad-Panarama hinten links (hier) zu erkennen. Und das witzige wird sein: Der rechte Fels wird der Ansage Folge leisten und in den nächsten vierhundert Jahren das Feld räumen.

Und wir werden weiterhin nach intelligentem Leben auf dem Mars suchen. Dumm gelaufen. Es hat halt mal wieder keiner aufgepasst. Genau wie in der Schule, als der Lehrer fragte, wer die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten würde, schauten alle wie beim Vokabel-Lernen ostentativ stumm vor sich hin, den Blick des Lehrers vermeidend. Dabei blieb ungesehen, wie der Lehrer in ein Stulle biss und Marmelade aus der Stulle aus seinem Mundwinkel zu seinem Doppelkinn rann …  .

War’s das?

Nö.

Am 16. März 2020 wurde auf dem Gefährt, dem “Perseverance Mars Rover” als Folge der NASA-Kampagne „Send Your Name to Mars“ eine Plakette mit einem freundlichen Symbol angebracht. Drei fingernagelgroße Siliziumchips, die an der oberen linken Ecke der Plakette eingefügt wurden, tragen die Namen von 10.932.295 Teilnehmern. Diese Namen wurden einzeln mittels Elektronenstrahl auf den Chips eingraviert. Am 31. Juli startete das Gefährt von der Cape Canaveral aus mittels einer Rakete als Transportmittel und landete dieses Jahr auf dem Mars am Tage meines Geburtstags um 21:55 Uhr, zwölfeinhalb Stunden nach meiner registrierten Geburtszeit.

Was daran so beunruhigend ist? Wenn Aliens kommen – und wir wissen ja alle, dass es sie gibt, also jene Aliens, Predatoren, Borgs, Skynets T-1000s, Fraggles, Pow Patrols und Co – dann stellen diese Chips später mal die natürlichsten Todesliste der Welt dar. Und mit diesen werden die Außerirdischen die Erde verwüsten, um jene 11 Millionen Selfie-süchtigen Narzissten zu neutralisieren, zu banalisieren und schließlich zu vaporisieren. Hasta la vista, Baby. Dabei werden sie halt nur die Erde verwüsten und dem Rest wird lediglich ein Heulen und Zähneklappern übrig bleiben …

Dystopie 2035.

Here am I floating round my tin can
Far above the Moon
Planet Earth is blue
And there’s nothing I can do

David Bowie

Perseverance boarding pass

Der tiefe Griff nach den Sternen

In jungen Jahren erhielt ich zum Eintritt in den Kindergarten Geschenke. In dem bunten kleinen Kindertornister waren ein Abakus, ein Welt- und Sternenatlas, ein Buch über die Astronomie und zwei Kurzausführungen des Grundgesetzes. Die Geschenke hatte ich begeistert angenommen und schon war ich in dem Kindergarten als Außenseiter und Streber verschrien, als einer der statt lieber mit flauschigen Hoppelhäschen und holzigen Brumm-brumm-brumm-Mähdreschern spielte, die Kindergärtnerin immer mit Fragen nach Papier und Buntstifte nervte.

Mit Hilfe dieser Bücher und dem Abakus errechnete ich binnen zwei Monaten, dass ich im Sternzeichen Wassermann geboren wurde. Dabei stellte ich auch noch fest, dass ich vom Widder aus gestartet bin und zur Waage unterwegs sein müsste. Der Weg dahin führte über das Schwert des Orion, Kassiopeia, den Reiterlein des Großen Wagens über die leuchtenden Plejaden hin zu dem Kreuz des Südens, um von dort aus die Unsichtbarkeit des Nordsterns zu erforschen.

Nach drei Monaten weiterer Berechnung war mir klar, dass ich Kassiopeia aussparen müsste, wollte ich alle meine Geschenke für den Kindergarteneintritt mitnehmen. Denn die zwei Kurzausführungen des Grundgesetzes wollte ich um keinen Preis zurück lassen und der Treibstoff meiner Rakete hätte für den ursprünglichen Weg nicht ganz ausgereicht. Zu meiner Schande muss ich allerdings gestehen, dass ich in der ersten Berechnung das Kreuz des Südens mit dem Kamener Kreuz verwechselte, weswegen ich zuerst mathematisch mir bewiesen hätte, dass mein Plan irrealistisch gewesen wäre. Aber dank des Weltatlas wurde ich meiner Verwechselung bewusst und konnte meine Rechenarbeiten nach fünf Monaten erfolgreich abschließen. Mir war klar, mein Lebensplan stand und mein Lebensweg sollte mich nach den Sternen greifen lassen. Per aspera ad astra.

Meine Eltern waren nicht sehr begeistert von den Plänen. Sie waren beunruhigt und nach Überweisung einer nicht unerheblichen Menge Geld für verbrauchtes Papier und Buntstifte an den Kindergarten wollten sie mir mein Vorhaben ausreden. Mein Vater wollte mir weismachen, dass Zugschaffner mein Traumberuf wäre. Statt vertikales streben nach Höherem, horizontal bogenförmiges voran schleichen. Meine Mutter fand dagegen den Beruf Feuerwehrmann für mich ideal, weil ich im Garten nach dem Kindergarten doch immer so gerne mit dem Gartenschlauch gespielt hätte. Aber ihr war nicht klar, dass ich lediglich Versuche mit dem Wasserschlauch betrieb, um meine Berechnungen zum Thema Antrieb durch Rückstoß zu verifizieren.

Als meine Eltern merkten, dass ich mich partout nicht von meinem Lebensweg abbringen lassen wollte, beschlossen sie mit mir zum Kölner Dom zu fahren. Ich hielt diese Idee für kindisch, denn ein Gott war in meinen Berechnungen nie ein Parameter gewesen. Ich kam ganz gut ohne ihn aus. Aber aus reiner Gutmütigkeit und mit dem Versprechen, unter dem Kölner Dom an der Imbissbude zwei “Rievkooche” mit viel Appelkompott zu essen, stimmte ich deren Plan zu.

Am Dom angekommen, sollte ich doch zu den Domtürmen hinauf. Mein Vater versuchte es mit dem lächerlichen Vergleich, die Türme seien die Raketen und oben wäre dann meine Atronauten-Kanzel und unter mir Gott, der auf mich aufpassen würde. Ich ließ mich letztendlich darauf ein, um meinen Eltern mal wieder eine Freude zu machen. Da beide aber nicht mit hoch wollten – sie meinten, sie wollten in ihrem Leben eh nie hoch hinaus, weil sie nicht schwindelfrei wären –, sprachen sie eine Gruppe mit derer Klassenlehrerin und Begleitperson an, ob sie nicht mich ebenfalls zusammen mit hoch nehmen würden. Der Mann und die Frau nickten und schon stiegen wir die ersten Stufen der Wendeltreppe hoch.

In meinen Berechnungen gab es keine Wendeltreppe aus Stein, sondern lediglich einen Aufzug aus Stahl. Und gequatscht wurde während des Aufstiegs gemäß meinen Berechnungen auch nicht, denn das hätte den Energieverbrauch nach oben getrieben und die Mission zum Kreuz des Südens gefährdet. So legte ich denn den Weg schweigend zurück und versuchte beharrlich zu ignorieren, wie ich jede Stufe mitzählte. Als jene energieraubende Wendeltreppe zu Ende war, erreichten ich eine offene Plattform, in dessen Mitte mich eine nach allen Seiten offene Stahltreppe erwartete. Angesichts jenes nur mit viel Kraft- und Energieaufwand zu bewältigenden Konstrukts war mir sofort klar, dass dieses Land einmal unter einer Energiekrise leiden würde und dem Wärmetod vorherbestimmt sein würde. Mit der Energiekrise sollte ich Recht behalten, als Ende November 1973 an vier Sonntagen ich mit meinen Eltern über leere Autobahnen spazierte. Mit dem Wärmetod ist es bei solch einer Entropieerzeugung auch nicht mehr weit hin, wenn bereits heute ach so aufgeklärte Menschen die Begriffe “Hitze” und “Dürre” im Gleichklang benutzen.

Nun ja, so stand ich also auf der Plattform und bestieg die Stahltreppe. Nach dem ersten Treppenabschnitt kam eine kleine Zwischenstahlplattform, nach dem zweiten ebenfalls und der dritte Abschnitt … sah für mich von unten nicht geheuer aus. Mein Blick nach unten verriet mir, welche Fallhöhe ich bereits gewonnen hatte. Der Mut sank und der Schwindel stieg. Der Lehrerin der Gruppe bemerkte es und stellte sich hinter mir, umarmte mich innig und versprach mich aufzufangen, sollte ich fallen. Mit Müh und Not bewältigte ich den Rest und kam letztendlich mit Schweiß auf der Stirn oben an. Vertigo.

Die Lehrerin nahm mit ihrer linken Hand tröstend meine rechte, drehte sie mit der Handfläche zu sich, während ihre rechte aufmunternd von meinem Schultern zu meinen Hüften samtig weich langsam runterstrich. Sie schaute konzentriert in meine Handfläche und bemerkte, dass dort eine Linie existieren würde, welche nur Wassermänner mit Aszendenten im Widder haben würden. Solche Männer seien willensstark, nie von ihrem Ziel abzubringen, Alphamänner sozusagen und daher sehr attraktiv für alle Mädchen und Frauen dieser Welt. Sie stockte kurz und mit gurrend freudiger Stimme erklärte sie mir, ich müsse vom Deszendenten auch noch Waage sein und diese Art Männer wären der absolute Hammer. Dabei drückte sie ihre Rechte in meinem Schritt, so dass sich bei mir das Blut staute und ich deswegen rot anlief.

“Komm, Karin,” hörte ich die vorwurfsvolle Stimme des männlichen Begleiters, ”du kannst doch nicht immer nur ans Vögeln denken!” Sprach es und zog sie von mir weg. Und so ließen sie mich alleine unbeaufsichtigt zurück, während weitere ankommende Turmbesteiger mich mit teils neugierigem, teils widerlich tadelndem Blick anstarrten.

Letztendlich stieg ich den Turm alleine wieder herunter und erreichte die sichere Erde, den festen Boden der Domplatte unter den Füßen. Meine Eltern waren außer sich vor Wut und Sorge. Hatten sie doch die Lehrerin und den Begleiter mit deren Schulgruppe auf der Domplatte ausgemacht und von mir war weit und breit keine Spur. Als ich dann so vor ihnen stand, mit feuchter Hose, leichtem Grinsen und befriedigt entspanntem Gesicht, hörte ich von denen nur im Befehlston ein “Komm her” und wurde dann von beschämten, peinlich berührten Gesichtern in Empfang genommen. Sie nahmen mich eng zwischen sich und gaben mir eine Einkaufstasche, mit der ich mich vorne bedeckt halten sollte. “Nächste mal sagste vorher Bescheid, wenn du musst! Klar?”

Seit jenem Tag wollte ich nie wieder Astronaut werden. Ich verbrannte meine umfangreichen Berechnungen heimlich in einem dunklen Wald – sie brannten ununterbrochen ungelogen zwei Stunden lichterloh –  und schwor dem vertikalen Astronautenleben ab. Mein Ziel war von nun ab völlig klar: ich wollte in die Schule. Unbedngt. Denn vielleicht hatte es dort auch solche Frauen wie damals oben auf dem Kölner Dom. Mehr als im Weltraum.

Nun, ihr möget euch sicherlich fragen, weshalb ich unbedingt die beiden Kurzausgaben des Grundgesetzes mit auf meiner galaktischen Sternenreise nehmen wollte?

Also, zu Tisch saß ich immer recht breitarmig und nahm mehr Raum ein, als mir zugestanden wurde, so beklagten sich darüber permanent meine Mutter, meine Tante und als auch meine Oma. Mit dem Grundgesetz unter den Armen durchs Leben gehend, so lernte ich, an reich gedeckten Tischen des Leben anderen Menschen deren Platz nicht streitig zu machen. Insbesondere, wenn Frauen sich ebenfalls am Tisch befanden. Heute brauche ich das Grundgesetz dazu allerdings nicht mehr. Auch nicht in der Kurzausgabe.

Wenn der Löw die Meinung des Volkes repräsentiert

Ich grinse. Ich grinse altersdebil. Muss so sein. Ich bin nun mal alt. Zu alt. Ü50. Gnadenlos alt. Arbeitstechnisch den Abstellgleisen zugedacht.

Als ich 20 war, habe ich übelst über die 50-jährigen gelästert. Ahl Männer, aalglatt. Vielleicht war es damals ein Bonus gegenüber den Jüngeren, den U20, um zu zeigen, dass man mit Ü20 besser wäre.

Und heute? Das gleiche. Immer. Insbesondere, wenn man m eigenen Leben bewusst zwölf Weltmeisterschaften der Fußballabtreter miterlebt hat. Damit meine ich mich selber und zwar nur mich immer vor mir der Fernseher (analog bis digital).

Jogi Löw. Der erfolgreiche Weltmeistertrainer. Damals vor vier Jahren im Maracana. Jenem Stadion, Tempel des Fußballs, Gotteshaus des Fußballs. Dort, wo bereits Tina Turner ihren legendäre Rock’n-Roll-Gottesdienst als hingebungsvolle Hymne an die Rock-Musik abhielt. Damals in jenem vergangenen 20. Jahrhundert. Sex, Drugs and Rock’n Roll. Bis es im 21. Jahrhundert wiederentdeckt wurde: als Wein, Weib und Gesang. In der weichgespülten Version, reinkarniert mittels Helene Fischer. Und dann vor vier Jahren die WM in Brasilien: das Hochamt der ehrfürchtigen Fußball-Jünger, atemlos, durch die Nacht begleitet vom Dickicht der TV-Verträge verschiedener Fernsehstationen. Weiterlesen

Der Tag, als Käpt’n Iglo starb …

Die Gegend hat sich geändert. Früher gab es hier mehr Animierlokale. Für mich war das gut. Je mehr Animierschuppen es gab, um so mehr Auswahl an Arbeitsplätze hatte ich. Wenn der eine mir blöd kam, ging ich zum nächsten. Und wenn der Besitzer komplett durchdrehte, dann zum Nachbarn. Als Stripper hatte ich meine Auswahl. Ja, Fremdenverkehrsführer der Nacht war ich. Vermittler einer Illusion. Fremdenverkehrsführer der Nacht sein, war wie ein Naturzuhälter. Wir Kreaturen der Nacht geben den Suchenden eine Natur, was sie meinen zu suchen. In der Dunkelheit der Anonymität wird jeder Suchende zum Findenden, weil schlecht zu sehen ist, dass jenes, was gefunden wird, auch das ist, was zuvor gesucht wurde.

Und wir sind gut im Finden helfen. Sei es diejenigen, die sich gerne ihr Näschen ziehen wollen, ob Harzer, Angestellter oder Topmanager. Sie sind alle gleich. Ja, und zu diesen dreien gehören auch die Frauen. Frauen sind zwar nicht so gerne gesehen bei meinen Kolleginnen. Denn sie wollen eingeladen werden und da stoßen gleiche Interessen wie gleichpolige Magnetseiten aufeinander. Dreht sich dann die eine Seite, dann knallen sie heftig aufeinander. Frauen waren eher an einem Lap-Dance von mir interessiert. Sie wollten sehen, ob ich mehr als ihr Freund oder Mann hatte. Wenn sie ungeduldig wurden, dann konnten sie schon mal extra zulangen. Hatte ich dann extra abgerechnet. Männer waren auch meine Klientel. Die meisten wollten wissen, ob sie auch eine Bi-Seite haben, die wenigsten wollten den Schwanzvergleich. Verbal oder physisch war er seltener gefragt. Allerdings je nach Alkoholisierungsgrad.

Die rote Plüschsofa-Herrlichkeit war meine Welt. Rote Plüschsofas, die Luftlandeplätze der Vögel der Nacht, weil Plüsch eine heimelige Sicherheit suggeriert. Aber jeder Landeplatz ist auch gleichzeitig ein Startplatz. Bestellt von einem Landschaftspfleger, der uns die Lizenzen zum Aufenthalt dort gab. Irgend so ein Bauer, der damit hoffte, die dickste Kartoffel in der Kulturlandschaft der Landschaftspfleger zu finden. Wir, das waren diejenigen, die das Abheben der Kulturlandschaftbesichtigenden verhindern sollten. Wir, das waren die Vögel, die uns in jene Turbinen dieser unsteten Menschen und permanent Abhebenden schmissen. Mit Leib und Seele. Ein einträgliches Geschäft, wenn man auch mit der Seele dabei war. Wir hinderten sie am Abheben und kassierten sie ab, für das Reparieren inklusive Startplatzgebühren. Sex ist ein schöner konservativer Motor. Ich bin konservativ. Ich will, dass es so bleibt, wie es ist, dass die Unsteten der Nacht bleiben und mir ihre Aufmerksamkeit geben. Gut, dafür ziehe ich mich aus. Aber ich weiß, dass die Besuchenden eines Striplokals weniger Aufmerksamkeit den Stripper als der Stripperin geben. Ein blanker Busen zählt mehr als meine blanke Brust. Ihre Hüften mehr als mein Six-Pack. Und ihr Stangentanz mehr als meiner. Sie verdienen in den Hinterzimmern mit dem Lap-Dance oder dem, was einige an Extras anbieten.

Natürlich bot keiner meiner Kolleginnen irgendwelche Extras an. Prostitution ist verboten. Sowieso. Weißte Bescheid. Aber da, wo der Vorhang fällt, da ist im Dunkeln gut munkeln. Am besten konnten die Katholiken munkeln. Immer nur Halleluja war auf der Dauer auch nicht das, was sie antörnte. Stripp-Shows, das war für jene die gelungene Abwechslung zur jungfräulichen Marienverehrung. Da waren die Protestanten schon schwieriger. Die leben ja ohne striktes hierarchisches Religionssystem, da waren die schon staatlich orientierter. Staatstreuer. Sie wollten den Lap nur, wenn er gesetzestreu war. Wenn ich mich an christliche Prinzipien orientieren würde. Auf Verdacht hatte ich auf solche Fragen gesagt, dass sie wohl nicht katholisch wären, worauf dann oft „protestantisch“ die entrüstete Reaktionsantwort war. Logisch. Der Protestantismus der Preußen hatte ja erst Hitler den Weg nach Berlin geebnet. Tja, besser ein Hund an der imaginären Leine als ein Stall ohne Schweine.

Irgendwann ging das Geschäft immer schlechter. Alle wurden emanzipierter, aufgeklärter, hedonistischer und vor allem gerechter. Ein Lokal nach dem anderen schloss. Und Stripper waren immer weniger gern gesehen. Man wolle keine Konflikte durch homophobe Menschen und damit die Lizenzen der Stadtverwaltung riskieren. Inzwischen sehe ich in den ehemaligen Stripperlokalen meistens nur noch Wettbüros. Unkompliziert reich-werden ist der neue Sex der 10er Jahre. Dafür legen weiter viele den Inhalt ihrer Geldbörsen auf den Tresen und hoffen mit mehr von dort aus zu starten, als sie vorher gelandet waren.

Mein letzter Auftritt als Stripper war ein Private-Lap bei einer Frau im Hinterzimmer. Sie war weder weder eine der Vernachlässigten noch einer der Prüden. Sie stand als Frau ihren Mann, während wir zwischen den verschiedenen Drinks über Sex-Vorlieben schwadronierten. Wir versoffen ihren Portemonnaie-Inhalt und dann spendierte ich meine Tagesgage, bis der Besitzer uns rauswarf und mir Ladenlokalverbot erteilte. Im Lichte der aufgehenden Sonne beschloss ich, nie mehr zu strippen und mein Geld so zu verdienen, wie sie es tat. Mit einem regulären Beruf in einer Bank. Ich hatte vormals ebenfalls eine Ausbildung in einer Bank erfolgreich abgeschlossen, aber ich erhielt keinen Job. Es war das Jahr der Bankenkrise 2008, das Jahr der Ratte. Die Frau wollte mir helfen, aber sie hatte Mann und Kinder zu Hause zu ernähren. Somit wurde nichts draus. Ich hatte zwar ihre Telefonnummer, aber wir telefonierten nur einmal. Sie konnte mir auch nicht helfen. Im Jahr der Ratten.

Ich landete schließlich in der „ARGE“, dem heutigen „Jobcenter“, jobbte mal hier, mal da, mal dort, aber nie kam ich wirklich aus dem Aufstocker-Verhältnis raus. Wer will schon einen männlichen Ex-Stripper in einer Bank, wo eventuell alte Bekannte von mir am Schalter auftauchen könnten.

Es war im Dezember 2011, ich sollte mal wieder vorsprechen, weil mein persönlicher ARGE-Berater mit mir mal wieder meine Zukunftsaussichten auf dem Arbeitsmarkt durchsprechen wollte. Zwei Tage vor Heiligabend hatte er den Termin gesetzt. Dachte ich. Auf Weihnachtsgeschenke hoffte ich nicht, aber ich träumte schon mal von einem Festtag, denn ich war der festen Überzeugung, dass er was haben würde. Als ich in sein Büro reinkam, blickte er mich erst überrascht und danach leicht säuerlich an. Ich wäre ein Tag zu spät dran. Es wäre der 21te vereinbart gewesen. Er verwies darauf, dass er angehalten sei, mich jetzt mit Sanktionen zu belegen. Während ich mich leicht geschockt von der „Frohen Botschaft“ auf den unbequemen Holzstuhl niederlies, holte er meine Akte aus einem Schrank hervor und bemerkte dabei, er hätte einen Job für mich in einer Bank gehabt. Das wäre meine Chance gewesen, aber ich hätte sie versemmelt. Nach kurzem Zögern schaute er in einem Stapel nach und holte ein Blatt hervor, studierte es, schaute mich an und grummelte etwas von letzter Chance. Und dann eröffnete er mir, dass eine Werbegesellschaft für eine Kampagne einen männlichen Typen suche. Es wäre meine letzte Chance, ich solle mich bewerben oder er würde mich sanktionieren. Er drückte mir das Blatt in die Hand und ließ es mich quittieren.

Ich verließ die ARGE und trat auf die Straße hinaus. Draußen fiel mein Blick auf eine weggeworfene Zeitung. Der Wind schlug eine Seite auf und ich las, dass der werbe-bekannte Schauspieler Gerd Deutschmann gestorben war. Am 21. Dezember 2011. Aus einem Dachfenster ertönte „The year of the cat“ von Al Stewart. Ich blickte hoch. Die aus dem Fenster strömende Hitze ließ die Luft flirren und das kupferfarbene Dach im Hintergrund kochend erscheinen. Vor dem Fenster auf einem Absatz für Blumen saß ein Mann und aß in luftiger Höhe eine Pizza. Roof cat. Im Jahr der Katze.

Ach ja. Es gibt kein Jahr der Katze. Die Katze kam damals einen Tag zu spät zu jenem Fest, bei dem Buddha jedem Gast ein Jahr schenkte. Die Katze ging leer aus, weil eine Maus sie belogen hatte. Es gibt lediglich das Jahr des Hasens. Und ich war der Igel. Der Job war schon vergeben. Aber dafür gab man mir einen Job für die Straßenwerbung. Am nächsten Tag vor einem Supermarkt durfte ich mit Ringel-T-Shirt und Kapitänsmütze gebackene Fischstäbchen verteilen. An jenem Morgen geschnitzt wie aus einem Humphrey-Bogart-Film war seltsamerweise mein erster Kunde mein persönlicher ARGE-Berater. Als er mich an jenem späten Vormittag erkannte, ging er schnellen Schrittes vorüber und er erinnerte mich dabei eher an Peter Lorre, der etwas auszuhecken schien, als wie einen normalen ARGE-Mitarbeiter. Er schien mir seltsam berührt, dabei kannte ich ihn doch nicht von den Striplokal her.

Später verloren wir kein Wort darüber. Er schob mir nur eine Stellenbeschreibung der Bank of Wales rüber. Es begann das Jahr des Drachens …

Kneipengespräch: Krieger, denk mal …

C360_2013-12-12-17-12-54-529_DxO_thumb.jpg Die ganze Zeit saß er schweigsam neben mir und nur hin und wieder entfuhr ihm ein leichter Seufzer. Ansonsten sagte er nichts. Sein Business-Anzug war von edlem Stoffe. Dessen mattes Dunkelgrau strahlte eine Ruhe und Überlegenheit aus, die allerdings kaum zu den Gesten seines Trägers passten. Immer wieder hob er seine Kölsch-Stange auf Mund-Höhe, setzte sie aber unentschlossen ab, spielte darauf mit seinen Fingern an dem Sockel des Glases und trommelten dort einen unhörbaren Rhythmus drauf. Das machte er drei oder viermal, bis es mich störte und ich mich ihm zuwandte.

„Sie müssen das Kölsch schon trinken. Lediglich es in Gedanken zu tun, hilft nichts, denn dann wird’s schal. Prost.“

Ich hielt ihm mein Kölsch zum Anstoßen hin. Aber er sah mich nur an. Wenn Augen der Spiegel zur Seele sind, dann sah ich tief in einem leeren Abgrund. Mit seiner linken ruckelte er kurz seine fliederfarbenen Krawatte in Position, strich vorsichtig über sein weißes Hemd und ergriff sein Kölsch.

„Wissen Sie, da sagen Sie etwas bedeutendes.“

„Prost?“

„Nein, Gedanken.“

„Sie machen sich Gedanken? Ich mach mir lieber einen schönen Abend.“

„Sie denken nicht, okay, sie geben mir aber zu denken. Wissen Sie, was Nekrophilie ist?“

„Ich denke Gedanken, also bin ich. Und Menschen mit nekrophiler Veranlagung fühlen sich von toten Gegenständen angezogen, weil sie Angst vor dem Lebendigen haben.“

„Richtig, mein Bester“, er hob sein Glas und stieß mit mir an, „auf deutsch, solchen Menschen ist ein Blechschaden an der eigenen Karre mehr Aufregung wert als die weltweit an Hunger sterbenden Kinder. Das Blech ist heilig. Und ein Galgen ist solchen Menschen beachtenswerter als jener Mensch, der drunter steht.“

Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas und versuchte abzuwiegeln, um das Gespräch in seichtere Gewässer zu führen: „Sind wir nicht alle ein klein bisschen nekrophil?“

„Für jene ist das größte Aphrodisiakum all jenes, was den Geruch von Tod an sich hat: Uniformen, Raketen, Drohnen. Nicht, weil dies lediglich Totes sind, sondern weil sie den Geschmack des Todes bringen. Und der Tod ist das größte Aphrodisiakum der Menschen.“

„Ich habe aufgehört mir Gedanken darüber zu machen, denn es führt in die Gedankenlosigkeit. Können wir das Thema wechseln?“

„Wissen Sie, Gedanken sind so eine Sache. Wer macht sich denn eigentlich Gedanken. Nur wir Menschen. Evolutionstechnisch hat es uns an die Spitze der Nahrungskette dieser Welt gebracht, aber auch Mord und Totschlag haben sie erschaffen.“

„Und die Religionen. Unterschätze nie die Macht dummer Leute, die einer Meinung sind. Tucholsky.“

Er schien, über meine Bemerkung hinweggehört zu haben, und schaute grübelnd auf sein Glas: „Vielleicht ist die Fähigkeit, Gedanken zu entwickeln und zu haben, einfach nur eine eigentümlich Fehlentwicklung der Natur. Spätestens bei der Frage, wer hat das System erschaffen. Selbst auf eine stundenlange Antwort kann locker die postwendende Frage ‚Und wer oder was war der Schöpfer davon?‘ retourniert werden und zeigt, dass dieses sinnlose Spiel unendlich getrieben werden kann, um Menschen in die Anzweiflung dem Sinn ihrer Existenz zu treiben.“

„Der Gedanke als Virus? Ein Gedanke ist wie ein Virus, resistent, hochansteckend und die kleinste Saat eines Gedanken kann wachsen. Er kann Dich aufbauen oder zerstören. Aus dem Film Inception.“

Dummköpfe zu ertragen, ist sicherlich der Gipfel der Toleranz. Voltaire.“

Jedes Monster hat als Mensch begonnen. Ablee.“

Viele Menschen würden eher sterben als denken. Russel.“

Wir schwiegen. Uns fielen keine Zitate mehr zum Auftrumpfen ein.

Er trommelte wieder auf den Sockel seines Glases und schaute mich an: „Wissen Sie, als der Computer DeepBlue 1996 im Schach den Schachweltmeister Garri Kasparov besiegte, waren wir erstaunt. Aber Schach erschien uns berechenbar, weil endlich. Im Februar 2010 schlug der IBM-Computer Watson im Jeopardy die damaligen Rekordhalter dieses Spiel, Jennings und Rutter, sehr deutlich. Die künstliche Intelligenz Watson verstand bereits menschliche Wortspiele und auch Hintersinne. Inzwischen erschuf Watson auch noch einen Film-Trailer, der letztes Jahr ins Kino kam. Die von der Firma Google geschaffene künstliche Intelligenz AlphaGo hat das äußerst komplexe Brettspiel GO durch einfaches Zuschauen erlernt. Vor einem Monat, am 3. März, hat AlphaGo dann den südkoreanischen Go-Weltmeister Lee Sedol mit 5:0 deklassiert. Computer und deren Software lernt das Denken und wir stehen dabei und wundern uns.“

„Na gut, durch künstliche Intelligenz wäre es keinem Piloten mehr möglich eine Passagiermaschine in einen Berg zu steuern oder mit zu knappen Treibstoffvorrat ein weit entferntes Ziel anfliegen. Eine KI würde dem Piloten die Gewalt entziehen und die Maschine darüber hinweg fliegen oder den nächsten Landeplatz ansteuern. All die Kinder aus Haltern und auch die brasilianische Fußballmannschaft würde dann noch leben.“

„Nur was machen wir, wenn die KI das Lebenswichtigste erkennt, was unser Leben steuert? Zum Beispiel in einem Tesla-Fahrzeug“

„Wenn in nicht ferner Zukunft erneut ein Tesla-Fahrzeug bei hohem Tempo einen kreuzenden LKW in seiner Fahrbahn entdeckt, dann wird der analysieren, ob er eher rechts in die Gruppe der Rentner oder links in die Kindergruppe am Straßenrand steuert oder ob der Fahrer doch noch sterben muss, weil alle anderen wertvoller sind. Er wird analysieren, was das geringere Übel sein könnte.“

„Falsch. Er wird reagieren wie wir Menschen. Er wird das Prinzip des Überlebens um jeden Preis wählen. Kein Mensch wird sich überlegen, wer wo am Straßenrand steht, sondern nur, wie er am besten der lebensgefährlichen Situation entkommt. Der Tesla wird sich dieses vom Menschen abschauen und berechnen, mit welcher Kollision er den geringsten Schaden an sich erzeugt. Er wird erlernt haben, was es heißt zu überleben und dass der Mensch in lebensgefährlichen Situationen drei Grundregeln kennt: fliehen, tot stellen oder kämpfen. Der Mensch wird für den Tesla dann zweitrangig.“

„Wir sollten dagegen kämpfen.“

„Ah ja. Krieger, denk mal.“

„Denken. Ich denke, also werde ich sein,“ sinnierte ich vor mich hin.

Wie kann es sein, dass ich, der ich bin, bevor ich wurde, nicht war, und dass einmal ich, der ich bin, nicht mehr ‚Der-ich-bin‘ sein werde? Vom Engel Damiel aus Der Himmel über Berlin.“

Aber du bist ja nicht da. Ich bin da. Es wäre schön, wenn du da wärst … du könntest mit mir reden. Peter Falk“, seufzte ich meine Erwiderung und schaute beim Aufblicken den Wirt an. In dessen Augen erkannte ich den mir altbekannten Vorwurf der letzten Zeit. Ich blockierte ihm wohl seinen Feierabend.

„Na? Wieder wach? In letzter Zeit säufst du mir zu viel. Ist zwar gutes Geschäft für mich, aber du ruinierst dich noch. Denk mal drüber nach. Ich mach jetzt zu. Feierabend. Du darfst zahlen und gehen. Compañeiro.“

Ich stand auf, legte ihm ein paar Scheinchen auf den Tresen und wankte auf die mir ausweichende Tür zu …