Wenn der Löw die Meinung des Volkes repräsentiert

Ich grinse. Ich grinse altersdebil. Muss so sein. Ich bin nun mal alt. Zu alt. Ü50. Gnadenlos alt. Arbeitstechnisch den Abstellgleisen zugedacht.

Als ich 20 war, habe ich übelst über die 50-jährigen gelästert. Ahl Männer, aalglatt. Vielleicht war es damals ein Bonus gegenüber den Jüngeren, den U20, um zu zeigen, dass man mit Ü20 besser wäre.

Und heute? Das gleiche. Immer. Insbesondere, wenn man m eigenen Leben bewusst zwölf Weltmeisterschaften der Fußballabtreter miterlebt hat. Damit meine ich mich selber und zwar nur mich immer vor mir der Fernseher (analog bis digital).

Jogi Löw. Der erfolgreiche Weltmeistertrainer. Damals vor vier Jahren im Maracana. Jenem Stadion, Tempel des Fußballs, Gotteshaus des Fußballs. Dort, wo bereits Tina Turner ihren legendäre Rock’n-Roll-Gottesdienst als hingebungsvolle Hymne an die Rock-Musik abhielt. Damals in jenem vergangenen 20. Jahrhundert. Sex, Drugs and Rock’n Roll. Bis es im 21. Jahrhundert wiederentdeckt wurde: als Wein, Weib und Gesang. In der weichgespülten Version, reinkarniert mittels Helene Fischer. Und dann vor vier Jahren die WM in Brasilien: das Hochamt der ehrfürchtigen Fußball-Jünger, atemlos, durch die Nacht begleitet vom Dickicht der TV-Verträge verschiedener Fernsehstationen.

Und dann taucht  sie auf. Nicht Helene, sondern die simple Frage. Eine Frage für komplizierte Wett-Anbieter-Antworten. Wer wird 2018 Fußball-Weltmeister?

Joachim Löw, der2014er  Weltmeistertrainer, der im 2018er-Spiel gegen Schweden bei der diesjährigen Weltmeisterschaft in Russland wieder eine Nagelprobe seiner Kompetenz abzuliefern hat. In einem Vorrundenspiel. To be or not to be. Die übliche Frage nach der Nagelprobe. Wie viel vom Restbier aus einem bereits hastig geleertem Glas passt noch auf den Daumennagel. Falls dieses Restbier, schal und abgestanden, nicht darauf Platz findet, weil es zu viel ist, dann ist das Urteil brutal eindeutig: Tschüssikovski. Hasta la vista. Bis in viereinhalb Jahren zur nächsten WM.

Jogi Löw.

Löw.

Der Beruf.

Laut Wikipedia: “Als Löw wurde im Mittelalter der erste Gehilfe des Henkers bezeichnet, der meist auch nach dessen Ableben oder Absetzung den dadurch freigewordenen Posten übernahm. Die gesellschaftliche Stellung war der des Henkers gleich.”

Ich lächle wissend in die Rund meiner Kneipe. Habt ihr es kapiert? Löw? Es kapiert niemand? Nein. Den Witz versteht niemand. Weil Löw als Auszeichnung der „völkischen“ Beobachtung das Prädikat “Bio-Deutscher” erhalten hat. Im Gegensatz zu manch anderen Leistungsträgern der letzten WM, EM und Qualifikation.

Auszeichnung. Lohn. Leistung muss sich wieder lohnen. Wer sich viel leistet, wird belohnt. Leider sind die Plätze der Leistenden rar und begehrt.

Die Stimmung ist locker. Ich versuche einen müden Witz. Er wird abgeblockt.

Danach gehe ich in einem Supermarkt und werfe den Kassenzettel in den Altpaperbehälter hinter den Kassen. Eine Frau macht mich nachdrücklich darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Kassenzettel um eine Kunststofffolie handelt, Ich frage sie nach dem Materialzertifikat, welches allen Zweifels erhaben sein soll. Zu gerne hätte ich dieses Zertifikat von ihr hinten hinein geschoben bekommen. Gerne hätte ich es von ihr mir repräsentiert bekommen. Ihre Antwort an mich war ein einziges vorwurfsvolles Wort: “Google”. Auf meine Reaktion, dass Google kein Zertifikat sei, kam die Antwort, dass ich mich gefälligst zu informieren habe. Ohnmächtig wie ich in der Situation ob dieser Meinungsführerschaft war, schleuderte ihr ein unangemessenes “Ach, leck ich am Arsch” entgegen und ging umweltgewissenlos von dannen.

Ich vergaß Özil und Gündoan. Die sind in unserem Blut-und-Boden-Land Deutschland bereits keine Deutschen mehr. Auch wenn sie gebürtige Deutsche sind. Egal, ob Gelsenkirchener oder Schalker oder Kumpel. Die haben den Abstammungstest nicht bestanden. Meine Mutter war damals besser dran. Sie zeigte mir eine Hausaufgabe aus ihrer Schule. Eine Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte. Die Herkunft ihrer Familie. Als Nachweis des Deutsch-Seins damals einer deutschen Schule vor 78 Jahren.

Was ich sagen will? Der Unterschied? Damals wollte ein demokratisch gewähltes Regime von jedem Individuum die Abstammung wissen. Heute will so etwas nur die individualisierte Bevölkerung via Twitter, Facebook, Instagram und Co, ebenso wie jene AfD und derer unnütze Idioten, die gemäß der offiziellen Aussage der AfD eh keinen Boateng als Nachbarn dulden würden. Weil sie sich ansonsten an Jesse Owens erinnert gefühlt mag und dann deren Lieblingstotschlaggegenargument “Nazikeule” ziehen würden.

Definiert als Regel. Außer freilich dem Definitons-Master-Mind-Hirnwurmvortsatz Söder. Demokratisch gewählter bayerischer Staatskanzleivorsitzender. Beerbt vom Seehofer. Weil jener Söder/Seehofer weiß, wie viel Knete der Boateng der bayerischen Steuerkasse zuführt. Und Geld stinkt nicht. Nur wehe dem Boateng, er würde für im Sendlinger “FC Wacker München e.V.” spielen. Dann wäre er Beta- bis unwertschätzbare Fußballer-Ware. Des Kreuzes nicht würdig, welches der Söder in jedem Bürokratenbüro als demütige Hinnahme dem Rest Deutschlands widerspruchslos angedeihen möchte. Als Widerpart zu den nicht existenten Münchner Moscheen-Türme. Oder wider den preußischen Evangelen von  Berlin bis Aachen-West.

Jene Frau im Dogeriemarkt empfahl mir nachdrücklich Google, erklärte mir aber nicht, welche Hyperlink ich bei einem Google-Abfrage-Ergebnis anzuklicken habe. Hätte sie mir die Internetadresse selbst buchstabierend genannt, ich wäre nicht fähig gewesen. Aber sie war ebenso nicht fähig, mir nachhaltig nachzuweisen, dass ihre Aussage korrekt war. Sie behauptet es und setzte mich ins Unrecht. Ich spürte die vorwurfsvollen Blicke der anderen anwesenden Kunden extrem und ein Kontrollblick bestätigte mir, dass mein Eindruck keine Fiktion war.

Mir entrann meines Mundes ein  despektierlich beleidigendes “Ach, leck mich doch am Arsch” und im gleichen Augenblick prasselte die Meinungsvielfalt der Menschen auf mich ein, die mich im puren Unrecht und des puren Verbalvandalismus in der Öffentlichkeit stigmatisierten.

Ob ich im Recht war? Sicherlich nicht. Mir gebührte eine standesrechtliche Verurteilung vor dem Populargericht der egozentrischen Empathen und Rechthabern. Ich weiß das, weil ich dort ebenfalls als Gesinnungsschöffe mit einseitiger Meinung mein tägliches Meinungsbrot ordentlich verdient hatte. Und vor diesem meinen Schöffengericht sah ich die Frau, deren Sematikrechte verletzt wurden.

Ich ging nach Hause und fühlte mich einerseits im Unrecht, aber andererseits war ich stolz, endlich mal hieb- und stichfest einem der Arschlöcher begegnet zu sein, welche jeder in seinem Leben hassen tut. Vor dem Standesgericht meiner einer selbst gestand ich mein Ungebaren und wurde mit 2:0 Stimmen der Verurteilung zu Gewissenbissen bar jeder Bewährung verurteilt.

Und die mahnende Stimme, jenes innere Gewissen, eben welches mit erhobenen mahnenden Zeigefinger, sprach zu mir:

“Der Löw hät anders entschieden.”

Und ich schlug beim Suchen nach dem Materialzertifikat des Kassenzettels bei Wikipedia nach und war danach so etwas von ruhig …

 

7 Gedanken zu „Wenn der Löw die Meinung des Volkes repräsentiert

  1. Intersssant, was du über die Bedeutung von Löw herausgefunden hast. Ich hätte eher auf einen Ortsnamen getippt. Wenn so ein Löw die Meinung des Volkes repräsentiert, dann zähle ich mich nicht zum Volk. Das finde ich übergriffig, genau wie letztens, als vom „Mittelfuß der Nation“ die Rede war. Volk, Nation sind sowieso bedenkliche Abstrakta, die das Denken mancher Leute vergiftet.

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    • Also, da tut es mir leid. Wenn man an der ganzen negativen Kritik in Sachen „Nationalmannschaft“, dazu insbesondere die massige Meinungsäußerungen zu einzelnen Mitspielern verfolgt und dann so die Gipfel der Meinungen a la Basler, Matthäus und den Applaus dazu liest, dann sollte man schon eine Erkenntnis haben.
      Insbesondere seit gestern 21:50 Uhr aktuell nach dem Freistoß – verursacht durch den schwedischen Mitspielers Jimmy Durmaz – und die dazu ablaufenden Meinungsäußerungen zu dem schwedischen Spieler mit türkischen Wurzeln Jimmy Durmaz ist dem ganzen ein weiterer Aspekt hinzugefügt worden.

      Wer in all diesen Diskussionen kein Muster erkennt, der darf mich ruhig „übergriffig“ bezeichnen. Über Volk, Nation und andere Abstrakta wird schon lange nicht mehr gestritten, sondern diese Begriffe sind für viele schon lange Grundannahmen für deren logik-verqueren Meinungsäußerungen. Ich nehme niemanden das Recht seine Meinung äußern zu wollen, aber gerade die Diskussion um „Die Mannschaft“ hat etwas heraus kristallisiert: nicht das spielerische Niveau der Mannschaft und deren Vertreter auf dem Platz ist das Problem, nein, es glauben viele sich-berufen-Fühlende, dass es Einzelspieler sind, welche die Schuld für das Niveau haben und entsprechend dem „Schuld und Sühne“-Denken gebüßt werden sollen.

      In dem Zusammenhang spielen sich jene als Richter auf und würden gerne „0-Toleranz-Exekutive“ sein. Ironisch ist, dass gerade das Wort „Löw“ momentan diese Doppelbedeutung auf die Spitze getrieben bekommt. Wenn man weiß, was „Löw“ auch noch bedeutet. Und auf dieses Wortspiel habe ich meinen Artikel aufgesetzt.

      Sollte ich damit übergriffig geworden sein, dann bin ich es gerne und reihe mich damit in die Gruppe ein, denen diese pan-europäische Hetze gegen Doppelstaatsbügerschaften und Staatshinzugehörigkeitsprivilegien dermaßen auf den Sack geht, dass sie nicht schweigen. Und wenn dann die Enkelin von einem, der im Deutschen Reich der letzte Reichsminister der Finanzen war, in gleiches traditionelle Horn stößt, um Angst, Beunruhigung und Ressentiments mittels falsche Behauptungen anzustacheln, dann bin ich sehr gerne einer der „Übergriffigen“ in der Runde der kleinen Minderheit, die „übergriffig“ bezeichnet werden. Bevor nachher für „Übergriffigkeiten“ gesetzlich solche Menschen dann aufs Maul bekommt. Und zwar die Maulkörbe, die man den Kampfhunden – weil Hunde der beste Freund der Menschen sind – abgenommen hat.

      Aber vielleicht beruhigt sich die Diskussion nach der morgigen Wahlentscheidung in der Türkei wieder. Dann wird es wohl wieder okay sein, Waffenverkäufe, Rüstungslogistik und Flüchtlingsbarrieren mit der Türkei vor Kameras zu vereinbaren. So soll es sein.

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      • Na, dich hatte ich doch nicht gemeint, sondern die Medien, die jeden vereinnahmen, auch jene, die sich nur marginal für Fußball interessieren. „Mittelfuß der Nation“, da wird einer zum Volkskörper, und das ist schon immer eine problemastische Denkweise gewesen.

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        • Ja, das ist eine problematische Denkweise und sie wird weiterhin gefüttert. Sowohl nach den Wahlen in der Türkei und das Wahlverhalten der Wähler in Deutschland. Als auch beim gestrigen Ausscheiden aus der WM. Besonders gestern wurde als Ursache nicht das schlechte Spielverhalten gesehen, sondern vielmehr die Ursache auf das SIngen der Nationalhymne und auf weitere wenige mit nicht opportunen Verhalten personifiziert (obwohl keiner jener die Vorlage zum 0:1 gab, noch den Ball beim Gegner verlor, der darauf einnetzte). Ich hatte gehofft, dass es sich nach den Wahlen in der Türkei legen würde, aber das Gegenteil ist der Fall. Minderheiten-Bashing ist en vogue.

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  2. Ich bin überhaupt nicht sportlich und für Fußball habe ich nicht viel übrig. Nur eines:
    Ich bewundere diese jungen Menschen, die körperlich soviel leisten und es schaffen beinahe eine ganze Welt vor den Fernseher oder ins Stadion zu locken. Jaaa das bewundere ich!

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