Wer nicht hören will, wühlt in fremden Haufen

Ein Gedanke entwickelte sich mir beim Lesen von Jules von der Ley (Trithemius) Blog-Feuilleton-Artikel „Wie alles angefangen hat – ein Ohrenzeugenbericht“: eine Person spricht, die nächste spricht lauter, um dessen Stimme über die der ersten Person zu lagern, was eine dritte Person als Anlass nimmt, seine Stimme über die der zweiten zu legen, während die vierte Person in Folge die dritte übertönt, was die erste Person zu Anlass nimmt, die vierte zu übertönen.

Das Ganze müsste logischerweise in einer brutal akustischen Rückkopplung enden. Klappt aber nicht. Die Biologie hat dem Menschen ungerechterweise stimmliche Grenzen gesetzt. Ist nicht fair, ist aber so. Weswegen diese Grenzen sich auch letztendlich auf Konzerten mit „Brüll-Techno“ im Stile von H. P. Baxxter („How Much Is the Fish?„, „Hyper Hyper„, etc. von Scooter) manifestiert hatten.

Es mag viele Leser geben, die dabei gähnen werden, und müde abwinkend erklären, dass der „Brüll-Techno“ von den teilnehmenden Bands des Wacken Open Airs (seit 1990) stimmlich abgekupfert wurde.

Nur Jules analysierte hierbei profunder, erheblich grundlegender: Diskotheken, Waken Open Air und Brülltechno lassen sich eindeutig auf eine Gruppe von vier Personen zurückführen, die in ihre eigene Stimme verliebt sind und jenes in einem Café ausleben. Somit wären also alle nachfolgenden, rebellenhaften Veranstaltungen entmystifiziert und auf jenen simplen Kaffeeklatsch unserer Mütter und Bierstammtische unserer Väter rückgeführt. Eine ganze Generation von Schrei-Rebellen entmystifiziert. Schön ist das nicht, nicht wahr. Wie soll denn dann rationale Pubertät funktionieren, wenn die Jugend das Gleiche unter gleichen Vorzeichen in stimmlicher Verausgabung mit Hoffnung auf Differenzierung so etwas durchführt? Pubertät ist, wenn Eltern Probleme mit ihren eigens Erzogenen haben. Alles andere wird sowieso eh als Jugendkriminalität klassifiziert. Weiterlesen

Interaktive Fortsetzung eines Traums

Was bisher geschah:

das Geschehen extern aus dem „Teestübchen Trithemius“ der Geschichte „Plötzlich, plötzlich – über die Illusion der Gegenwart

Die eigene Fortsetzung:

„[…] “Dabei ist Gegenwart immer nur plötzlich und dauert nicht länger als die Aussprache von plötzlich. Sobald uns nämlich was bewusst wird, ist es auch schon Vergangenheit.”“

Jules bewegte sich interessiert leicht nach vorne, als wollte er etwas sagen. Oder auch nur, um auf ein erneutes Quietschen von Jeremias Coster mit dessem Bürostuhl zu reagieren. Ich ging an Jeremias vorbei und stellte eine entkorkte Rotweinflasche auf den Schreibtisch.

„Es gibt keine Zeit“, warf ich lapidar ein, während ich hinter meinem Rücken drei Bordeaux-Kelche aus edelstem Glas hervorzauberte. „Zeit ist eine Illusion. Eine Erfindung der Menschen, um das Geschehen um ihn herum einzuordnen. Um damit zu handeln und zu wuchern.“ Ich stellte die Gläser in einem perfekten Dreiecksverhältnis ab. „Manche haben Zeit, andere nicht. Manche vergeuden sie, manche ersparen sie sich. Wieder andere erschlagen oder verbrennen sie. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nur Hilfskonstrukte. Wir sind die Mähdrescher auf einem eigenen, stetig nachwachsenden Getreidefeld.“ Weiterlesen

Doodeln auf Tapeten

„Wer hat die Tapete beschmiert? Ich will das wissen! Sofort!“

Ihr „Sofort“ hallte in meinen Ohren. Es war scharf, fordernd, unerbittlich. Sie stand vor meinem Bruder mir gegenüber leicht vornüber gebeugt. Ihr Zeigefinger stocherte an uns vorbei und zeigte auf die Wand mit der Tapete, eine Tapete mit gelben Ornamenten, die dem Flur eine heimelige Wärme gab. An der Wand hing fest in die Wand gedübelt das Telefonbänkchen. Auf diesem stand das Telefon. Der klassische „Tischfernsprecher W48“ der Nachkriegszeit: Telefongerät mit der abstehenden Telefongabel, darauf der Telefonhörer, und frontal dem Betrachter zugewendet die Wählscheibe. Dazwischen schlängelten sich die schwarzen, mit textilfaserummantelten Telefonkabel. Damals verfügten die Kabel zur Telefondose noch nicht über den kleinen schlanken „TAE F-Stecker“, sondern das ganze wurde über einen altertümlichen massiven Walzenstecker (Bezeichnung „ADoS ZB 27“) in die Wand mit dem Telefonnetz der Welt verbunden.

„Ich will wissen, wer von euch die Tapete beschmiert hat!“

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Kneipengespräch: Furchtloses Gespräch mit Bekannten

Tresen 0

Ich schaute auf meine Kaffeetasse und folgte den leicht flüchtigen, dunstigen Kaffeeschwaden.

»Du schreibst nicht präzis genug.«

Ich zuckte zusammmen. Kannte ich die Stimme?

»Du verstehst?«

Ich schaute auf und blickte zu meiner Linken. Da saß er neben mir. Nein, nicht mein üblicher Kneipenkollege. Nein, da saß er. Er höchst selbst. Der Filialleiter vom Teppichhaus Trithemius. Und der schaute mich tadelnd an.

»Hast du verstanden?«
»Wie? Ich schreib zu viel?«
»Du schreibst nicht präzis genug. Du kommst immer von Hölzcken auf Stöckscken.«
»Häh?«
»Du schreibst nicht präzis genug.«

Verwirrt schaute ich auf meine Kaffeetasse. Und zu ihm rüber. Er drehte sein Kölsch-Glas in seinen Fingern und schaute mich durchdringend an.

»Herr Careca, ehrlich gesprochen, da hat Trithemius einfach nur recht. Nicht wahr, Trithemius?«
»Werte Frau Teppichhausfilialleiterin, ich würde nicht zu widersprechen wagen.«

Verwirrt schaute ich erneut.
Ja, da waren beide, unverkennbar, zweifelsfrei eindeutig:
Er, zu meiner Linken: Trithemius.
Sie, zu meiner Rechten: Frau Nettesheim.
TrithemiusWo war mein üblicher oberflächlicher Kneipenplausch? Mein 08-15-Zeitvertreib, mit dem ich immer locker über Gott und die Welt geplauscht hatte. Wer hatte Trithemius und Frau Nettesheim gesteckt, wo die mich aufspüren könnten?
Trithemius lehnte sich entspannt nach vorne und sinnierte mir in meine Kaffeetasse hinein:
»Man möchte glatt sagen: „Zurück in die Welt und schreibe mit einfachen Worten auf, was du siehst!“ Zurück zur Einfachheit, Herr Careca.«
Frau Nettesheim versetzte noch etwas pragmatisches hinzu:
»Und bitte nicht so ein langweiliges Tagebuch wie woanders.«
Süffisant, sarkosant butterte Trithemius noch einen drauf:
„Mach mir nicht den Wolf Schneider, Careca.“

Meine Verwirrtheit stieg.
Schnuppernd versuchte ich meinen Kaffee zu analysieren.
Farbe normal. Fettaugengehalt normal. Geruch normal. Wachmacher-Faktor normal.
Alles normal. Selbst der übliche Kaffeesatz zum Lesen war am Boden auf dem Bodenblümchenmuster vorhanden.

Ich blickte zu meiner Linken. Trithemius holte sich seinen Beutel »Van Nelle« heraus. Intensiver Tabakgeruch stieg in meiner Nase, vermischt mit dem Duft meines Kaffees. Frau Nettesheim holte einen Puderquast mit einem Handspiegel aus ihrer Handtasche und korrigierte tupfend ihr Makeup. Etwas Puderstaub verirrte sich in mein rechtes Nasenloch. Ich musste niesen.
Fasziniert schaute ich dabei auf Trithemius Finger, wie diese aus einem Blatt weißem Papier und dem braunem Krümeln aus dem »Van Nelle«-Beutel eine perfekten Glimmstengel drehte.

Derweil erklärte er mir:
»Herr Careca, auch für Sie gilt, in den Randzonen des Netzwerkes wird die wechselseitige Kommunikation zum Geschwafel. Und Sie schwafeln gerne in den Randzonen des Netzwerkes. Denn unbekannt ist alles voreinander. Hintergründe des Verfassens sind unbekannt. Es wird das beurteilt, was in jenem momentanen Augenblick gesehen wird, ohne sich Zeit zu nehmen, in der Vergangenheit des Blogs zu stöbern. Zu viele andere gehören da ja noch zum Netzwerk und die wollen auch noch angesprochen werden. Das ist gar nicht anders zu schaffen, weil der Aufwand über ein vertretbares Maß hinausginge. Große Netzwerke können nur jene unterhalten, die sich kaum für ihre Leser interessieren. Schreibt einer zu viel Sperrholz zu seinem Inhalt hinzu, schwafelt solch einer dann nur.«
Und Frau Nettesheim ergänzte:
» Die Konsequenz ist wohl, sich vernünftigerweise zu begrenzen. Nur«,
und damit wandte sie sich direkt zu Trithemius,
»das Netzwerk wird bald von selbst schrumpfen, Trithemius. Niemand muss dafür etwas tun. Selbst Herr Careca nicht.«

Verwirrtheit umgab weiterhin meine Gedanken. War da was im Kaffee? Schlechte Ernte 2011? Hat eventuell Kinderarbeit die rote Kaffeebohnenernte vor dem Rösten für uns hier verdorben? War der schwarze Tschibo-Mann gestorben und hat die Röstung rassistisch verröstet?

Tabakstaub stieg diesmal in mein linkes Nasenloch. Erneut nieste ich heftig.

»Aber ich habe erst letzten zwei weitere in meinem blog.de-Freundeskreis begrüßen können«, versuchte ich nach dem Nieser schniefend zaghaft einen Einwand meinen beiden Gesprächspartnern gegenüber.

Aber Trithemius ignorierte diesen und antwortete Frau Nettesheim direkt:
»Bitte erinnern Sie mich daran, dass ich auf Ihr Zeugnis schreibe: „Im Kollegenkreis galt sie als tolerante Mitarbeiterin.“ «
Frau Nettesheim Antwort war lediglich ein indigniertes:
»Unverschämter Patron!«

Es erinnerte mich an etwas. Nur an was? An ein Gespräch zwischen den beiden?
Weiter verwirrt schaute ich von Trithemius zu Frau Nettesheim und von Frau Nettesheim zu Trithemius und von Trithemius zu Frau Nettesheim und umgekehrt.

Und bei meiner Schau von links nach rechts und von rechts nach links und umgekehrt blieb mein Blick auf die goldene Mitte, dem Wirt, hängen. Wie ein Engel erschien er mir, als er mit einem Teller »Halber Hahn« mit »Mettbröttchen« und einer Stange Kölsch auf mich zukam.

»Na? Wieder zu viel am Grübeln?«
»Ich?«
»Ja du, du Grübeljannes. Ich habe dein Blog gelesen.«
»Und?«
»Du schreibst nicht präzis genug. Du kommst immer von Hölzcken auf Stöckscken. «
»Häh?«
»Du schreibst nicht präzis genug.«
»Aber niemand hat meine extensive Schreibe bislang in meinem Blog negativ kommentiert.«
»Du schreibst nicht präzis genug.«
»Aber wenn niemand kommentiert.«
»Du schreibst nicht präzis genug.«

Meine Zähne bohrten sich in das Käseröggelchen und das Kölsch ging sogleich als Verflüssiger den Weg des halven Hahns. Das Mettbrötchen und ihre lasziv drauf sich kringelnde Zwiebelringe riefen mir zudem verlockend ihr »Beiss mich« zu.
Sexy.

Vorsichtig schaute ich von links nach rechts.
Kein Trithemius.
Keine Frau Nettesheim mehr.
Niemand da mehr an meiner Seite.
Uff.
Nur ne Fata Morgana.
Meine Zähne zerteilten erbarmungslos die säuberlich auf dem gepfefferten Mett drapierten Zwiebelringe.
Vorsichtig schaute ich mich nochmals um. Niemand da, der mich kritisieren könnte.
Beruhigt holte ich die vier Schreibblockseiten mit meinen nächsten Blogbeitrag zum Korrigieren aus der Jackentasche raus.

Der springende Gedanke: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich gelassen?

Inspiriert durch „Der liebe Gott ist an allem schuld“ von Trithemius und den FOCUS-Online-Artikel „Samuel Koch sucht eine Studenten-Bude…“ (15.1.2012), auf den sich Trithemius bezog:

»Na endlich. Ich bin jetzt schon mehrfach bei Ihnen vorstellig geworden. Es wird jetzt wohl Zeit, dass ich mal dran bin.«

Der alte Mann mit dem weißen Bart und dem weißen Gewand schaute von seinem dicken Buch auf. Er tunkte seine Feder in ein kunstvoll verziertes Tintenfass und schaute sich leicht brummend den jungen Mann an, blickte in sein Buch und machte mit schwungvoller Handbewegung eine Notiz auf der aufgeschlagenen Buchseite.

»Name?«

»Koch. Samuel Koch.«

»In welcher Angelegenheit möchten Sie vorsprechen?«

»Vorsprechen? Bin ich hier nicht richtig bei Ihnen?«

»Welche Angelegenheit?«

»Unfall. Sind Sie nicht Gott?«

»Nein, ich bin nur sein Sekretär. Der zu seiner rechten.«

»Zu seiner rechten?«

»Ja, das ist die arbeitsreichste Seite. Alle kommen immer wieder von rechts. Irgendwer muss wohl mal gesagt haben, dass die rechte Seite Gottes die bessere Seite sein soll.«

»Stimmt das etwa nicht? Hat das nicht Jesus gesagt?«

»Stimmt. Genau. Der war’s. Der wollte doch nur seine Seite entlasten, damit er nicht soviel Arbeit hat. Welcher Zufall bringt Sie her, Herr Koch?«

»Zufall? Ich glaube nicht, dass es Zufälle gibt. Aber ich bin da noch im Gespräch mit Gott, weil ich glaube, dass das eigentlich ein Missverständnis war.«

»Was für ein Missverständnis?«, fragte der Sekretär mit gleichmütiger, müder Stimme.

»Ich bin mit eisernen Stelzen über Autos gesprungen, in der Fernseh-Sendung ‚Wetten, dass…‘.«

»Der Samuel!«

Eine vergnügte Frau in einem blütenweißem Gewand und Butterblümchen in der Hand kam heran geschwebt. Ihr jugendliches Gesicht strahlte in einer goldenen Weichheit, eben wie zu jenen Stunden eines junge Morgens, welche von Fotografen auch immer gerne als »Goldene Stunden« beschrieben werden.

»Der Samuel! Wie geht es Dir?«

»Wir kennen uns?« Samuel schaute ein wenig verwirrt.

»Na klar kennen wir uns. Du hast doch immer zu mir gebetet.«

»Ich? Zu Dir?«

»Erkennst du mich nicht? Ich bin Gott.«

Die Frau schwebte fröhlich an dem verdutzten Samuel vorbei auf ihren brummigen Sekretär zu.

»Petrus, den nehmen wir nicht auf. Das war mein Fehler. Eigentlich sollte er tot sein, als er mit seinen Stelzen an dem Auto hängen blieb. Ein Missverständnis von mir. Dieser hübsche Junge und der Gottschalk mit seinen gelösten Haaren! Einfach bezaubernd! Ich war abgelenkt. Nobody is perfect. Dein Glück, Samuel. Aber, Samuel, du machst das schon. Nur nicht aufgeben.«

Sagte es, klopfte Samuel aufmunternd auf dessen Schultern, nahm sich ein wenig Manna vom Tisch ihres Sekretärs, knabberte vergnügt dran und schwebte weiter.

Der Sekretär schaute ihr schulterzuckend nach, blickte dann den Samuel wieder an:

»Gut, das war dein Gespräch mit Gott. Du kannst wieder zurück, Musik, Theater und Medien studieren. Ohne Stelzen zum Springen. Hier ist noch ein Gutschein für ein dpa-Interview. Alles Gute. Samuel, du machst das schon.«

Er überreichte dem Samuel ein Papier, schaute rechts an Samuel vorbei und rief:

»Der nächste, bitte.«

Samuel wachte auf. Ein Nickerchen. Während des Gottesdienstes. Neben ihm hockte der dpa-Journalist mit seinem Notizblock und flüsterte:

»Nur noch eine kleine Frage: Können Sie noch was dazu sagen, wie Sie das bislang alles überstanden haben?«

 

Gedankensuche im Tunnel

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12, Teil 13, Teil 14, Teil 15, Teil 16, Teil 17, Teil 18, Teil 19, Teil 20, Teil 21

***

»Ein Gedanke ist wie ein Virus, resistent, hochansteckend und die kleinste Saat eines Gedankens kann wachsen. Er kann dich aufbauen und zerstören.«
Cobb aus dem Film »Inception«

Die Kopfschmerzen machten sich wieder stärker bemerkbar. Eigentlich dachte ich, dass ich sie überwunden hätte. Uneigentlich aber wurde mir jetzt wieder klar, dass die Kopfschmerzen mir nur eine Atempause gegönnt hatten. Ich stellte das Handy aus, denn ich musste mich setzen. Auf dem Absatz am Gleisbett hockte ich mich hin. Mir war schwindelig geworden. Eine leichte Übelkeit umgab mich. Auf der Party musste ich wohl zu viel getrunken haben.

Alkohol. Der Körper verzeiht nie.

Ich stützte meine Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und versuchte gleichmäßig tief durchzuatmen. Es war die vergebliche Hoffnung, frische Luft in meine Lunge zu pumpen, um die Kopfschmerzen zu verdrängen und einen klaren Gedanken zu fassen.

Nie wieder Alkohol.

Wie oft hatte ich diesen Satz schon gedacht, wenn der Abend zuvor seine Krallen mir noch am nächsten Morgen präsentierte. Ein wenig sehnte ich mich nach den früheren Jahren. Da öffnete ich am nächsten Morgen nur die Fenster und der morgendliche Wind hatte meinen Kater weg geblasen. Danach war ich meistzeit wieder fit wie ein Turnschuh.
Aber heute? Da hilft ein geöffnetes Fenster nicht mehr. Der Körper verzeiht nicht mehr. Kopfschmerztabletten in der Schublade gehörten zu meiner The-Day-After-Behandlung und mindestens ein Liter Wasser.
Aber hier? Die Luft war leicht modrig, abgestanden, wie schon mal geatmet. Und Wasser sah ich weit und breit nirgends.
Wie paralysiert saß ich im Dunkeln und wartete darauf, dass mein Körper aufhören würde, gegen die Alkoholausschweifungen des Vorabends zu rebellieren. Was hatte ich nur getrunken? Bier. Okay. Mehrere Biere. Und, richtig, zwei, drei Gläser Prosecco und dann … es war Ouzo im Spiel. Vor meinen geistigen Augen sah ich mir Ouzo in große Schnapsgläser einschenken und trinken. Ich hatte es mal wieder übertrieben.
Mir wurde erneut übel. Mir schien, als ob der Magen dem inneren Augenkino zugesehen haben müsste, er rebellierte beim Gedanken an den Ouzo. Mit tiefen Atemzügen versuchte ich meinen Magen zu stabilisieren. Es gelang, nur die Kopfschmerzen klopften wie wild . Als ob jedes Schnapsglas Ouzo mir nochmals von innen gegen die Schläfen hämmern würde.

So hockte ich im Dunkeln und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Bruchstücke vom Abend kamen mir in Erinnerung zurück. Mir fiel ein Gesicht ein, ein Mann, seine eckige, schwarzumrandete Brille, Schlips und Kragen. Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen. Grübelnd überlegte ich, aber dessen Name konnte ich mir nicht in meine Gedanken zurück rufen.
Deshalb nenne ich ihn hier Robert.
Also Robert erzählte eine Geschichte. Eine Geschichte über Gedanken.

Robert berichtete, er hätte einen Professor kennengelernt, der hätte Gehirnforschung betrieben. Jener Professor wollte der Natur der Gedanken auf die Spur kommen. Nach dessen Meinung wären Gedanken nichts außer neurologische Produkte von Synapsen. Ein Elektronengewitter in verschiedenen Gehirnbereichen, so erklärte es der Professor. Um diesen Synapsengewittern auf die Spur zu kommen, hätte jener eine Anlage aufgebaut, welche Hirnströme überwachen konnte.

Eigentlich wäre das nichts bedeutsames, so meinte Robert. Und die Erkenntnis, dass Gedanken als elektronenartige Gewitter messbar und darstellbar seinen, wäre ja auch nichts neues. Die Schwierigkeit wäre es nur immer gewesen, den berühmt berüchtigten »Versuchsleitereffekt« bei den Untersuchungen auszumerzen. Dieser Effekt zeige sich dabei, dass jede Messung das zu messende Objekt beeinflussen würde.
In den Naturwissenschaften sei dieser Effekt immer wieder ein Problem. Denn eine Messung sagt immer nur etwas über ein Maß aus der Vergangenheit aus, aber nie über ein Maß der Gegenwart. Werner Heisenberg hatte dieses zum ersten Mal ausgiebig in der Quantenphysik formuliert. Als »Heisenbergsche Unschärferelation« fand jenes seinen Weg in die Lehrbücher.
Klar, in grobstofflicher Umgebung lässt sich eine Messung auch nach der Messung verifizieren, wenn denn die Umgebungsbedingungen gleich blieben. Allerdings komme es immer drauf an, welches Messmittel verwendet würde. Unterschiedliche Messmittel können schon unterschiedliche Ergebnisse bringen. Robert führte als Erklärung die Fertigungstechnik in der Automobilindustrie an. Dort würde bereits der Tausendstel eines Millimeters eine große Rolle spielen. Komme beispielsweise ein Teil aus einem kalten Lager, dann könnte das gemessene Maß Forderungen an dessen Maßhaltigkeit erfüllen. Jedoch, wenn das Teil zu lange in einer Hand gehalten würde, könne es bereits maßlich ein fehlerhaftes Teil werden, welches zu groß, zu lang, zu dick sei. Um diesen Effekt auszuschließen, gibt es feste Richtlinien zu Messungen, unter welchen Bedingungen gemessen werden müsse.

Robert erzählte weiter, dass jener Professor der Meinung gewesen wäre, dass er nur die Natur der Gedanken und deren Gedankenströme im Hirn an sich selber untersuchen könne. Dokumentiert hätte er alles über einen privaten Videoblog. Der Professor ersann Vorrichtungen und Apparaturen, welche eine hohe Messgenauigkeit und Reproduzierbarkeit der Messungen garantierten. Nicht der Professor befestigte Sensoren an seinen Kopf sondern ein programmierte Maschine. Hierzu hatte er seinen Kopf immer wieder über eine Laseranlage exakt bis auf jedes Grübchen vermessen lassen und in sein privates Computernetzwerk eingespeist. Mit der Zeit hatte der Professor seinen Kopf nicht nur äußerlich genau vermessen, sondern durch seine Apparatur und Sensoren hatte er ebenfalls das Innere seines Kopfes in den Computer 1:1 eingespeist gehabt. Der Professor hatte es in mehrjähriger Arbeit geschafft gehabt, auch das komplizierte Nervengeflecht des Hirns sehr genau darin als 3D-Modell abzubilden. Und dann begann er, sich zu konzentrieren, in welchen Gehirnwindungen und Synapsenbereichen bei welchen Worten elektronische Regungen zu messen waren. Schon bald hatte er die Synapsen lokalisiert, die für das Wort »ich« zuständig waren. Es war zwar kein eindeutiger Bereich, aber er konnte sehr gut zwischen »ich« und »du« unterscheiden.

Und so erforschte der Professor sein Gehirn. Mit der Zeit konnte er seine Gedanken fließen sehen, wenn er einfache Sätze dachte. Dann sah er, wie sich verschiedene Synapsenbereiche regten, Ströme flossen und sich vereinigten, sich wieder trennten, in bestimmte Hirnbereiche des vorderen Hirns strömten, sich wieder vereinigten und dann langsam verebten. Robert meinte, dass der Professor es letztendlich so weit brachte, dass er den Satz »ich denke, also bin ich« genau in seiner Entstehung und seiner Verarbeitung am Bildschirm verfolgen konnte.

Irgendwann wäre der Professor dann übergegangen, sich Gedanken darüber zu machen, wie er Gedanken mittels elektronisch induzierten Reizungen verschiedener Synapsenbereiche erzeugen könne. Das ganze war recht kompliziert und seine Zweitwohnung auf dem Lande war eher ein Gewirr von Kabeln und Apparaturen und Sensoren und anderen geheimnisvollen Gerätschaften. Robert sprach dabei davon, dass der Professor einige Apparaturen sich illegal auf dem russischen Schwarzmarkt beschafft hätte. Nach dem Zusammenbruch der UDSSR hatte er sich dort immer wieder Dinge und medizintechnisches Gerät besorgt und nach Deutschand geschmuggelt. Apparaturen und Werkzeuge, die in Deutschland nicht ohne Lizenz erhältlich gewesen wären.

Das ganze Vorhaben war freilich nicht ungefährlich. Ein Gehirn vorsätzlich elektrisch zu manipulieren, barg eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Aber eigentlich war es genau der Punkt, den der Professor plante zu erreichen. Insbesondere deswegen hatte er alle Untersuchungen nur an seinem Gehirn durchführen wollen, um nicht andere zu gefährden. Der Professor riskierte ohne Zweifel, sein Gehirn zu schädigen und damit auch gleich den Schlusspunkt seiner Untersuchungen zu setzen. Das Risiko nahm er jedoch wohl voll in Kauf.

Der Professor hatte alles durch gerechnet und startete die ersten Testserien. Der Erfolg dieser Versuche war verblüffend. Per Programmierung seiner Apparaturen steuerte er den Synapsenbereich des »ich«-Zentrums an, induzierte einen winzigen, einen fast schon homöopathischen elektrischen Reiz an den Synapsen: der Professor dachte »ich«.

Andere Menschen wären angesichts des Ergebnisses zu dem Zeitpunkt in einem Rausch verfallen. Aber nicht der Professor. Er analysierte die Aufzeichnungen bei dem Versuch, modifizierte das Programm in mühsamer Programmierarbeit und startete alles nochmals neu, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war und definitiv jeglichen Versuchsleitereffekt ausschließen konnte.

Drei oder vier Jahre dauerte es, so erklärte Robert, bis der Professor den Satz »ich denke, also bin ich« in seinem Gehirn induzieren konnte. Das hieß, der Professor regte Synapsen in seinem Hirn an und er dachte das, was er vorher seiner riesigen Apparatur auftrug, ihm als Gedanken zu geben.

Dem Professor war sehr wohl bewusst, was er mit seinen Forschungsergebnissen am Horizont aufzeigte. Ein dunkler Schatten von Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«. Denn es schien möglich, ein Gehirn von außen zu veranlassen, innere Gedanken zu reproduzieren, die der Denkende als seine eigenen erachtete.
Eine Einschränkung war dem Professor jedoch bewusst: keines der gemachten Versuchsergebnisse wäre direkt von Gehirn zu Gehirn übertragbar. Jedes Gehirn stellte ein Individuum dar und funktioniere immer ein wenig anders. Je nach Entwicklung des jeweiligen Gehirns würden andere Synapsenbereiche zu reizen sein, um ähnliche Ergebnisse zu reproduzieren. Zumindest hatte der Professor aber für sich nachgewiesen, dass Gehirne prinzipiell von außen steuerbar wären. So wie manch ein Mensch einem Wellensittich das Sprechen beibringe, so lernte der Professor bei sich selber, Gedanken zu induzieren, Gedanken zu erzeugen und diese zu denken. Und gerade hierin sah er dabei das große Manko: Wellensittiche plappern nur nach, was denen vorgesprochen wird. Und sein Gehirn dachte nur die kurzen Gedanken, die sich der Professor zuvor ausgedacht hatte. Der Professor spielte mit seinem Gehirn, wie ein ein Mann sein Klavier nutzte: er drückte Tasten, die mit einem Ton verbunden waren. Und der Ton erklang.

Allerdings – so erklärte Robert – gab es einen Unterschied zwischen dem Klavierspieler am Flügel und dem Professor am Gehirn: Der Professor musste zuvor viele Fehlversuche hin nehmen, viele negative Ereignisergebnisse erzeugen, bevor er ein positives Resultat erhielt. Der Professor reduzierte mit der Zeit die Fehlversuche und erhöhte mit der Zeit die Erfolgsquote. Er lernte aus seinen negativen Ergebnissen.
Um sich selber den Satz »ich denke, also bin ich« denken zu lassen, benötigte er anfangs über 50 Versuche. Später waren es maximal ein Dutzend. Fehlversuche brachten entweder unvollständige Sätze oder manchmal ganz andere Sätze. Das tat jedoch dem Forschergeist des Professors keinen Abbruch, sich Gedanken über seine Gedanken zu machen.

Robert lachte dabei an jener Stelle seiner Geschichte unvermittelt laut auf:
»Versteht ihr, der Professor erzeugte eine Situation, in der sich ein eigener Gedanke sich Gedanken über sich diesen statt findenen Prozess des Gedanken-Machens Gedanken macht. Das hat doch etwas von der Geschichte des Kretaners, der behauptete, alle Kretaner seien Lügner, nicht wahr.«

Als Robert merkte, dass niemand diesen Vergleich auf Anhieb verstand, fuhr er mit seiner Geschichte fort.
Der Professor war also an einem Punkt angekommen, an dem er ein wirklich schwer kontrollierbares Experiment durchführen wollte: Er wollte sein Gehirn eine von außen elektrisch induzierte Frage stellen und dann die Antwort verfolgen. Bislang hatte der Professor immer die Gedanken vorgedacht, die sein Gehirn denken sollte. Er hatte nur die lineare Funktionsweise seines Hirns überprüft gehabt. Also die rein statische Funktionalität. Aber jeder weiß – so merkte Robert an –, dass Gedankenvorgänge dynamisch seinen. Gedanken bestehen mehr als aus nur aus gerade entstehenden Gedanken.
»Der Kopf ist rund, damit er seine Richtung wechseln könne«, heißt es im Volksmund. Und diese Dynamik wollte der Professor nachvollziehen. In Gedanken geht sowohl in der Vergangenheit Gelerntes völlig spontan und unkontrolliert ein. Der Professor bezeichnete es als die nächste Stufe seiner Nachforschungen. Dass er fähig werden würde, diese Dynamik von außen ebenfalls entsprechend zu induzieren, damit rechnete er nicht. Aber er erhoffte sich doch die ein oder andere Regelmäßigkeit zu finden. Sollte er wider erwarten es aber schaffen, diese Dynamik systematisch zu erfassen, so könnte es möglich sein, Lernprogramme von außen in das Hirn einzuspeisen und mit den Gedanken dynamisch zu verankern. Es hätte dann etwas von dem MATRIX-Film gehabt, in welchem die Frau Trinity schnell mal erlernt, wie ein Hubschrauber geflogen oder ein Motorrad gefahren wird.

Meine Erinnerung legte eine Pause ein. Mein Kopf schmerzte zu sehr ob dieser Erinnerung an den Abend zuvor. Roberts Geschichte erschien unglaublich, aber mit einem Bier in den Händen hatte sich dort alles leichter verstehen lassen. Auch wenn es unglaubwürdig erklang. Alkohol ermöglicht es.
Und so hörte eine Gruppe von vier Leuten dem Robert zu, den niemand von uns kannte oder zuvor gesehen hatte. Seine Geschichte war für uns wie eine intellektuell philosophische Partyunterhaltung.

Robert fuhr fort, uns zu beschreiben, wie der Professor sich auf seinen Tag X vorbereitete. Der Professor hatte versucht, alle Eventualitäten und Notsituationen abzudecken. Dem Ausgang des nächsten Schrittes seiner Gedankenforschung sollte das Risiko genommen werden. Einerseits war er zuversichtlich, dass ihm von seiner Apparaten-Landschaft keine Gefahr drohte. Er kannte sie bis ins Detail und vertraute ihr. Aber, was er befürchtete, war, dass er einen neuronalen Spannungsüberschlag in seinem Hirn erzeugen könnte, wenn er die von außen induzierten Dynamik der Eigendynamik seiner Gedanken aussetzen würde. Und an diesem Punkt war er sich nicht sicher, was das Resultats eines überhöhten neuronalen Gewitters in seinem Hirn mit den Synapsen anstellen könne. Er hatte das Risiko mehrfach abgeschätzt und kam auf ein kleines Restrisiko, welches er aber nicht qualitativ erfassen konnte.

Und eines Abends war es dann so weit, erklärte uns Robert. Der Professor schloss sich in seiner Wohnung ein, richtete alles her und ließ das Experiment starten. Der Apparatur hatte er 500 Fragen vorprogrammiert und sie sollte völlig zufällig eine dieser Fragen aussuchen, ihm ins Gehirn induzieren und dann die Reaktionen und die Antwort der Gedanken registrieren. Hauptsächlich handelte es sich um einfache Fragen. Zum Beispiel wie solche aus dem kleinen Ein-mal-eins. Und um dem Gehirn nicht nur einfach Wissensabfragen zu stellen, wurde jeder Frage eine persönliche Anrede hinzugefügt. Entsprechend lautete eine Frage nicht einfach »Wie viel ist zwei plus drei?« sondern vielmehr »Weißt du, Gehirn, wie viel denn zwei plus drei ist?«
Von dieser personalisieren Frage erhoffte er sich ein Ansprechen verschiedener Bereiche seines Hirns und entsprechende Aufschlüsse über den dynamischen Prozess der Beantwortung.

Robert erzählte, dass der Professor das Experiment startete. Er beschränkte sich für das Experiment auf eine einzige Frage, die die Apparatur zufällig auswählen sollte und sein Hirn induzieren sollte. Das Experiment startete mit der recht einfachen Frage:

»Hallo, Gehirn, wo bin ich?«

Nach den Aufzeichnungen des Professors verstrich eine Zeit von vielleicht fünf Sekunden, ohne dass die Apparatur eine Reaktion des Gehirn des Professors feststellen konnte. Erst leicht, dann aber immer heftiger strömte es von seiner Stirn über der Nasenwurzel ausgehend in verschiedene Gehirnbereiche. Die Sensoren zeichneten ein neuronales Gewitter im Hirn des Professors auf. Und erst dann, darauf erst baute sich aus den Signalen auf dem Monitor zur Darstellung der Gedanken ein Satz auf. Er formte sich vor den Augen des Professors. Ein einfacher Satz mit einer simplen Gewalt, die den Professor später an sein Gehirn und dessen Gedanken verzweifeln ließ. Ein Satz, der den Professor später seine gesamte Versuchseinrichtung zerstören lies. Ein Satz, der wohl auch an dem Suizid des Professors am darauf folgenden Tag entscheidend mitgewirkt haben musste. Polizisten lasen den Satz bei der Auswertung der Videokameraaufzeichnung, welche die sich in dem Raum abspielende Raserei des Professors dokumentierte.
Ein einfacher Satz mit großer Sprengkraft, der auch oft bei Eheleuten vor deren Scheidung fällt:

»Du verstehst mich nicht mehr.«

Eingepfercht zwischen Chomsky, PentAgrion, Metterling, Coster und dem eigenen Sprachvermögen

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12, Teil 13, Teil 14, Teil 15, Teil 16, Teil 17, Teil 18, Teil 19, Teil 20

***

»Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen.« Aristoteles

Meine Bemühungen, mich durch die Papiere des PentAgrion zu arbeiten, waren enorm. Die eigenwillige Groß- und Kleinschreibung, die verwendeten Worte, das verwirrte mich schon erheblich.Zaun Hatte der Autor der Papiere keine normale Schreibmaschine, als er die Papiere niedertippte? Der Buschstabe »ß« oder Umlaute oder Kommasetzung waren dem Autor entweder unbekannt oder die Schreibmaschine klemmte bei diesen Buchstaben, als er den Text tippte. Es blieb mir nichts anderes üblich, als mir mehrfach einzelne Sätze laut vorzulesen, um das Beziehungsgeflecht der Worte auf der Spur zu kommen. Manches Mal kamen mir schon erhebliche Zweifel, ob ich wirklich ein Manuskript von PentAgrion vor mir haben könnte.

Im Grunde las ich es wie ein Pawlowscher Hund: Das Manuskript vor mir wollte ich nur lesen, weil ich glaubte zu wissen, dass dort für mich etwas großartig geheimnisvolles auf mich wartete. So wie man von Büchern mit dem Untertitel »Biographie« bei dem Leser automatisch erlesbare Lebensweisheiten vermutet, so vermutete ich wohl in den Papieren das Ei des Kolumbus zu finden. So wie das Klingeln den Speichelfluss bei dem Pawloschen Hund bewirkte, weil der mit dem Klingeln Essen verband, so glaubte ich, das große unbekannte Geheimnis unserer Zeit vor mir zu halten. Mittels den klassischen Theorien des »Behaviorismus« könnte dieses Verhalten wohl eingeordnet werden. Umso größer war denn meine Verwirrung, weil ich nichts von dem wiederfinden konnte, was ich bereits im Vorfeld dieser Papiere erfahren hatte.

Wer war der Autor dieses Traktaks? Hätte es nicht PentAgrion sein müssen? Ich fand keinen Hinweis drauf. Weder auf PentAgrion als Autor noch im Inhalt auf den selbigen. Erhofft hatte ich mir auch, eventuell mehr über Stijn Van de Voorde, jenem Radiomoderator des flämischen Senders »studio brussel«, zu erfahren. Aber noch nicht mal auf diesen Radiomoderator fand ich Hinweise.

Einen dunklen Zusammenhang zwischen dem flämischen Radiomoderator und den Papieren des PentAgrion erkannte ich nur in einem Punkt, dass Schreibmaschinen in Belgien wohl keine deutsche Sonderbuchstaben besitzen. Ohne Zweifel hatte ich vor mir eine Materialsammlung, die es in sich hatte. Eine Sammlung, die durchdrungen werden wollte, die aber ihr Geheimnis nicht einfach für umme rausgeben wollte. Mir fiel dabei Avram Noam Chomsky ein, der Antipode des »Behaviorismus« (manche nennen ihn auch den Totengräber eben dieser selben). Avram Noam Chomsky ging davon aus, dass alle Menschen mit der Fähigkeit zum Spracherwerb geboren werden, weshalb Kinder das größte Potential haben, um Sprachen zu erlernen. Dafür bedarf es allerdings eine bei der Geburt vorhandenen Konstitution, einen Spracheninstinkt. Auf dieser Annahme hin hat er auch versucht, die Sprache nicht aus einer Zusammensetzung von Worten zu sehen, sondern aus als ein einheitliches Gesamtes mit gemeinschaftlichen Strukturen zu betrachten. Diese Art, eine Art Reverse Engineering mit der Sprache zu betreiben, musste auch PenAgrion bereits aufgefallen sein, so wie ich es bereits bei meiner Suche nach dessen Papieren erfahren hatte.

Und ebenso versuchte ich nun an dem Text heranzugehen, der vor mir lag. Notfalls laut lesend. Mehrfach. Aufsplitternd. Zerlegend. Erneut zusammensetzend. Eine andere Chance sah ich für mich nicht. Oder wie sollte ich Sätze verstehen wie die folgenden:

Definition von Wirklichkeit in aktueller Besetzung ist Wechselwirkung des aktuellem Potentials der Denkbarkeit von Tatsaechlichem mit Tatsachen die in der Zeit entstehen aus aktuellem Potential Annaeherungsmoeglichkeit von Tatsaechlichem der Wuenschbarkeit fuer Tatsaechliches.

oder

Totalitaerespirale bezieht sich darauf dass in der Zeit identisch ist abnehmende Denkbarkeit von Tatsaechlichem der Minderung des Beeinflussungspotentials von Tatsaechlichem. Phaenomen das Begriff Totaliaerespirale bezeichnet ist, dass Verschlechterung der Verhaeltnisse in der Zeit implizit ist im Zusammenfallen von Zunahme aktueller Nachvollziehbarkeit gesetzter Wuenschenswertheit der Denkbarkeit der Verhaeltnisse und aktueller Abnahme der Denkbarkeit der Verhaeltnisse.

Der Kopf rauchte mir. Hatte ich etwas übersehen? Was sollte mir der Text sagen? Sollte er mir überhaupt was sagen? Mir fiel eine Geschichte von Woody Allen ein, über »Die Metterling-Listen«. Das Leben von Metterling wurde anhand von seiner Wäscheliste rekonstruiert. Metterlings Lebensabschnitte wurden mit sechs seiner Wäschelisten rekonstruiert. 25 Taschentücher auf einer seiner Wäscheliste ließen sich problemlos dem Zeitraum zuordnen, als Metterling bei Sigmund Freud auf dem roten Sofa lag und sich seiner Beziehung zu seinem Vater Gedanken machte.

Zusammenhänge, die offensichtlich sind, können wie abstrakte Gebilde in den Gedanken hängen und sich zu unwirrschen Gebilden formen. Dabei ist das Offensichtliche manchmal doch so nah. Vielleicht las nicht richtig und interpretierte alles nur falsch: Vielleicht sollte ich alles so annehmen wie es in den Papieren geschrieben stand:

Annahme von Objektivität ist in jedem Verhaltensmoment neu zu motivieren.

Ich gestehe, ich habe nach diesem Satz die Papiere so genommen, wie sie waren, und sie diagonal durch den Raum in die entfernteste Ecke gepfeffert. Spontan. Verärgert. Sauer.

Wie konnte jemand nur so etwas schreiben, der sich über unsere menschlichen Versuche der multilingualen Kommunikation Gedanken gemacht haben soll? Der – wie ich einmal von einem Freund erfuhr – spöttisch über die ungelenken Versuche der Menschen philosophiert haben sollte, mit Hilfssprachen wie Volapük, Esperanto, dessen Weiterentwicklung Ido und dergleichen Universalsprachen internationale Kommunikation zu ermöglichen. Solchen Weltsprachen schwingt immer die Drohung mit, dass kulturelle Unterschiedliche dabei unterm Tisch fallen und verschwinden. Diese kulturelle Gleichmacherei über eine Hochsprache zeigt sich wie beim Kölsch in Köln oder beim Bayrisch in Bayern, wo sich immer mehr das Hochdeutsch durchsetzt. Nein, es ist nun nicht so, dass niemand mehr diese Dialekte haben will. Vielmehr sehnen sich viele danach, an diese besondere sprachliche Charakteristik. Sie versuchen den Dialekt zu imitieren, scheitern aber.

Kabarettisten, die einen Dialekt, eine sprachliche Eigenart beherrschen, steigen mit dieser Ausdrucksweise in der Gunst der Zuschauer. Diese Eigenart ermöglicht immer den inneren Überdruck einer beschriebenen Situation wegzulachen. Das Lachen als ein biologisches Überdruckventil ausgelöst durch eine von der Hochsprache abweichende Eigenart. Kurz nach der Wiedervereinigung war die Anwendung der sprachlichen Masche deutlich zu beobachten. Wollte ein Filmemacher Humor in seinen Filmen ausdrücken, dass ließ er jemanden auftreten, der sagte nur zwei belanglose Sätze in sächsisch und schon lagen alle Wessis vor Lachen am Boden.
Der Effekt hat sich allerdings abgenutzt. Unsere Wahrnehmungsstrukturen haben sich dahin gehend geändert, dass inzwischen Legasthenie-artiger Humor sich durchgesetzt hat, der assoziativ bei Hartz-4-Empfängern angesiedelt ist, und schon mit einer Stadionfüllung das Guiness Buch der Rekorde füllte.

Der eigentliche echte Politik-Kabarettist erfreut sich üblen Anfeindungen der Presse. Die hält solchen Kabarett-Humor nicht humorvoll sei. Mit dem seltsamen Verweis auf Werner Finck wird die polit-kabarettistische Kritik an bestehenden Verhältnissen inzwischen als ungehörig abqualifiziert und in die Meckerbubenecke verschoben. Zwischen Cindy von Marzahn und Dieter Nuhr bewegt sich eine neue journalistisch hofierte humoristische Welle. Ein Priol, Schramm, Pisper oder Schmickler sind nicht mehr die Gefeierten sondern das Ziel abwertender Kritik geworden. Überbringer schlechter Botschaften waren schon immer in der Bedrohung dafür zumindest übelst geschlagen zu werden. Wie Werner Finck.

Dem Flug des gehefteten Papierstapels zu verfolgen, wie jede einzelne Seite plötzlich mit seinen Eselsecken in der Luft ruderte und den Flug zu verlängern schien, das Geräusch wie von einem aufgescheuchten Taubenclan und dann das hell-dumpfe Aufklatschen an der Wand, das ratschende Geräusch des Runterfallens, der Aufprall … dann die Stille. Ein kleiner Zettel hatte sich aus dem Verbund gelöst und flatterte als Nachzügler ohne Eile dem Boden entgegen.
Stille.

Nein, auf besonderem Papier waren die mutmaßlichen Papiere des PentAgrions nicht getippt gewesen. Und der Flug der Papiere haben mir auch keine neue Offenbarung gegeben. Ich hockte in meinem Schreibtischsessel und schaute auf das Papiergewusel in der Ecke. Die Papiere bewegten sich nicht mehr. So konnten sie aber nicht liegen bleiben. Seufzend stand ich auf, ging in die Ecke und hob den Papierstapel auf, ordnete ihn, stellte fest, dass die Papiere des PentAgrions sogar eingeschränkt flugtauglich sind und schlug willkürlich eine Seite auf:

Die Artikulierungsfaehiger sind, fuer die Potential von Wirklichkeit groesser ist, leben emotional davon darum zu wissen und damit rechnen zu koennen, wie weniger artikulationsfaehige sich an der Begrenztheit ihrer Wirklichkeit stossen: Schmerzen des sichstossens sind Negativ der Lebensform von Artikulationsfaehigerem. (…) Im Ausmass in dem Artikuationsfaehigkeit nicht gegeben ist, kann eigenes Leiden nicht mit Etikett versehen werden. Im Leiden ohne Etikett vergroessert sich psychischer Raum ins Unendliche und nimmt den der Summe von Abscheidung von Sichentfernen an, das ist von Wirklichkeit. Ausbeutung besteht darin negative Emotionen zu provozieren, Psyche davon zu naehren: sich die Wirklichkeit eigener Existenz bestaetigen zu lassen.

Schön.
Fast ganz verstanden.
Toll.
Aber immer wieder diese Sätze ohne Punkt, Komma, Groß- und Kleinschreibung.
Nervend.

Mein Blick fiel auf den kleinen Zettel am Boden. Ich hob ihn auf.
»Jeremias Coster, Professor für Pataphysik an der Technischen Hochschule Aachen« stand drauf zu lesen. Von Jeremias Coster hatte ich bereits im Internet gelesen. War es nicht im Zusammenhang mit Stijn Van de Voorde? Ich versuchte mir den Zusammenhang ins Gedächtnis zu rufen. Aber meine Gedanken kamen nur bis zu jenem Gebilde, was sich mir wie ein schwarzes Loch vorkam.
Schwarz?
Schwarz.
Da war doch was.
Das schwarze Internet?

Nochmals schaute ich auf den Zettel. Unter dem Namen war die Adresse zu lesen und beinahe unleserlich eine Telefonnummer: 0241… . Ja, es war eine Aachener Telefonnummer. Ich ergriff den Telefonhörer und wählte die Nummer. Die Leitung blieb stumm. Ein erneuter Versuch. Der gleiche Effekt. Unwillig tippte ich auf dem Ziffernblock und plötzlich erhielt ich ein Rufzeichen. Ich unterbrach den Anruf und schaute genauer auf den Zettel. Mir waren die letzten beiden Ziffern nicht aufgefallen. Allerdings waren sie auch unleserlich. Mir wurde klar, dass diese beiden Ziffern mir die Leitung zu Jeremias Coster herstellen würden.

Im Internet schaute ich auf den Seiten der RWTH Aachen nach. Aber ich fand dort kein Jeremias Coster an einem pataphysischen Institut der RWTH Aachen, geschweige denn fand ich überhaupt ein pataphysisches Institut. Ich tippte »Jeremias Coster« und das Wort »PentAgrion« in den Eingabebereich der Suchmaschine ein, drückte die ENTER-Taste und erstarrte: Die erste Seite war voll von Ergebnissen mit beiden Begriffen! Was war das? Das schwarze Internet?
In meinen Hirnwindungen kam eine Erinnerung zurück. Die Erinnerung zu den Anfängen meines PentAgrion-Fiebers und die Suche nach den Papieren.

Ich schaute nochmals auf den Zettel und drehte ihn um. PlanEine Skizze, ein Plan. Ein Lageplan mit einer markierten Stelle. Eine Bahnstrecke. Ich drehte den Zettel erneut um und hielt ihn unter meiner Schreibtischlampe. Aber ich konnte die letzten beiden Zahlen der Telefonnummer nicht entziffern. Absolut unleserlich. Gefrustet knüllte ich den Zettel zusammen, steckte ihn in meine Hosentasche und ergriff wieder die Papiere. Erneut wollte ich den Kampf mit der seltsamen Sprache des Dokuments aufnehmen. Durchatmend schlug ich eine Seite auf und fing einfach an zu lesen:

Zweijährige Arbeit am Konzept waere nicht anzufangen und zu Ende zu bringen gewesen, wenn nicht einige Leute ausserhalb ihres Weges gegangen waeren. Diesen Leuten wird hier dank ausgesprochen. Ansatz waere nicht zu entwickeln gewesen ohne die Arbeit von Karl Schneider der bis zu seinem Tode 1980 an Gruppentheorie gearbeitet hat.

Karl Schneider.
Später verbrachte ich Tage in Hochschulbibliotheken, aber einen Karl Schneider – gestorben im Jahr 1980 – in Zusammenhang mit Gruppentheorien fand ich nicht. Im Internet? Ebenfalls nichts. Karl Schneider. Ein Allerweltsname. Eine Spur, von der ich dachte, sie wäre heiß, diese Spur war kalt.

Da lag es also vor mir, das lang gesuchte Dokument. Aber es sprach nicht zu mir. Papier ist geduldig, sagt man. Aber ich bin nicht aus Papier. Frust scheint wohl ein steter Begleiter bei der Suche nach dem Geheimnis von PentAgrion zu sein.

Fortsetzung Teil 22

Zweigleisig

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12, Teil 13, Teil 14, Teil 15, Teil 16, Teil 17, Teil 18, Teil 19

***

„Wenn jemand sucht, dann geschieht es leicht, dass sein Auge
nur noch das Ding sieht, das er sucht, dass er nichts zu finden,
nichts in sich einzulassen vermag,
weil er nur an das Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat,
weil er vom Ziel besessen ist.
Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben.“
(Hermann Hesse, Siddhartha)

Ich erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Die Bettdecke lastete feucht auf meinem Körper. Ein eigenwilliger Traum, das war es, an was ich mich erinnerte. Wie ein Echo aus der Dunkelheit des Schlafes. Ein Alp war er, der mir vorspiegelte, ich hätte in einem Schacht gelegen. Einem Bahnhofsschacht. Einen Schacht von nur einem halben Meter Breite. Und Erinnerungen an einen Fahrradunfall echoten in meinen Erinnerungen vom Traum, einen Unfall, den ich als Kind einmal hatte.

Eine wohlige feuchte Wärme umgab mich. Ich wollte mich in diese hinein strecken, mich in ihr aufgehen lassen, mir einen guten Start in den Tag bereiten. Meine Augenlider waren schlafverklebt und weigerten meinen Gedanken Folge zu leisten. Mein Wille war aber stärker. Lediglich, als ich die Augen öffnete, sah ich nichts. Dunkelheit bohrte sich in meine Netzhaut.
Langsam registrierte ich, dass ich gar nicht in meinem Bett lag. Und das Weiche war auch keine Bettdecke. Ich spürte, dass ich auf hartem Untergrund lag und offenbar in meiner Kleidung geschlafen hatte. Meine Bettdecke war lediglich meine Jacke.
Wie der Geist der Erkenntnis sein Licht in meine Dunkelheit raus sandte, da riss der stechende Schmerz in meinem Kopf mich komplett aus dem halbwachem Zustand. Die wattige Müdigkeit war wie weggeblasen, der stechende Kopfschmerz erfüllte mich komplett, die Erinnerung an meinem Zustand war zurück gekehrt: Ich befand mich noch immer in dem Schacht in der Dunkelheit fest.
Allein, warum dachte ich dauernd nur »Bahnhofsschacht«?

Mein Versuch meine Hände zu bewegen, schlug fehl. Beide lagen eingeklemmt von meinem Oberschenkel auf dem Boden. Es musste Beton sein. Ich bewegte meine Schultern und spürte, dass auch diese eingeklemmt waren. Zwischen zwei Betonwänden, wie ich vermutete. Meine ganzer Körper schien zwischen den Betonwänden eingeklemmt zu sein. Es waren keine senkrechten Wände, es waren schräg abfallende Wände, was mir das Gefühl gab in einer Art »Schraubzwinge« zu stecken. Ich hob meinen Po an, um Platz für meine Hände und Unterarme zu gewinnen. Mein Kopf drückte dabei auf den Betonboden und die Kopfschmerzen nahmen mir fast die Luft. Aber ich schaffte es, meine Arme so in Position zu bringen, dass ich meinen Körper hoch hebeln konnte. Vorsichtig richtete ich mich auf. Je höher ich kam, desto breiter wurde der Schacht. Irgendwann hörten die Wände auf, ich vermutet, dass sie an der oberen Stelle einen halben Meter voneinander entfernt waren. Meine Füße hatten wenig Platz zum Stehen, trotzdem bekam ich einen einigermaßen stabilen Stand. Halb aufgerichtet suchte ich links und rechts neben mir Halt, griff aber ins Leere. Einen Moment überlegte ich. »Mein Handy«, war mein erster Gedanke. Es hatte ein helles Display. Ich könnte es als Taschenlampe verwenden. Von diesem Gedanken ermutigt richtete ich mich komplett auf. Noch während des Aufrichtens spürte ich, wie mein Kopf gegen etwas metallenes stieß. Zu spät. Zu ungestüm hatte ich mich aufgerichtet. Mein Kopf rächte sich, die Schmerzen im Kopf wurden durch Schmerzen auf dem Kopf ergänzt. Gegen irgendetwas metallenes war ich gestoßen. Jetzt quietschte es und schien zu schwingen. Meine Hände ertasteten eine Nennröhrenhalterung.

In meinen Jackentaschen suchte ich mein Hände. Meine Vorliebe sind Jacken mit vielen Taschen. Was der Frau ihre Handtasche ist, das ist mir eine Jacke mit vielen Taschen. Das hat den Vorteil, dass ich alle wichtigen Dinge in der Jacke transportieren kann und keine extra Herrenhandtasche benötige. Es hat allerdings den Nachteil, dass einerseits die Jacke an entscheidenden Stellen recht bald ausgebeult ist, aber zu anderem auch, dass ich manchmal bestimmte Dinge nicht wiederfinde.
So wie jetzt. Geldbörse, Kinokarten, Notizzettel, Kugelschreiber, Bleistift, Schlüsselanhänger, Cent-Münzen, lose Papiertaschentücher, all das fand ich sofort und ohne langes Suchen. Nur mein Handy wollte einfach nicht von mir entdeckt werden. Hatte ich es verloren? Nochmals tastete ich alle Jackentaschen ab. Nichts? Wirklich nichts? Ich hielt inne und überlegte. Wann hatte ich es zuletzt verwendet? Und wo? Vergeblich suchte ich Antworten zu diesen Fragen, ratlos steckte ich eine Hand in meine vordere Hosentasche und stieß auf was hartes. Da war es. Erleichtert zog ich es hervor. Es war ausgeschaltet. Ich drückte länger auf den Einschaltknopf und mit einem Summen schaltete es sich ein. Gebannt blickte ich aufs Display. Es leuchtete auf, blendete mich, meine Augen musste ich zusammen kneifen.
Mein Handy suchte unterdessen Netzanschluss, suchte Verbindung zum Server. Nichts. Kein Netz. Ich hatte kein Netz. Ein Hauch von Ärger wollte Konkurrenz zu meinen Kopfschmerzen bilden.
Darauf ließ ich mich nicht ein. Ich wollte wissen, wo ich war, und hielt mein Handy wie eine Laterne hoch. Das Display beleuchtete fahl die Umgebung. Mit Verblüffung stellte ich fest, dass ich mich in einem Tunnel befand. Es musste ein Eisenbahntunnel sein. Etwas über zwei Meter war der Tunnel breit. Ich selber stand in einer U-förmigen, halben Meter tiefen Rinne, die sich vor mir im Dunkeln verlor. Rechts und links von mir befand sich eine Trasse, auf der jeweils Gleise lagen. Rostig waren die Gleise, also war schon länger kein Zug mehr auf den beiden Gleisen gefahren. Es waren keine gewöhnlichen Gleise. Die Spurbreite schätzte ich mit knapp einem halben Meter ab. An der Decke über den Trassen zwischen Spinnweben erblickte ich eine Installation, welche mich an Stromleitungen erinnerte. Die Trasse selber hatte eine lichte Höhe von knapp über einem Meter über den Gleisen.

Offensichtlich war ich in einem Bahntunnel. Aber das war kein gewöhnlicher Bahntunnel. Für einen normalen Zug war der Tunnel zu klein. Irgendetwas sagte mir, dass ich nicht durch Zufall hier wäre, und dass ich den Tunnel gesucht hätte. Die Kopfschmerzen ließen mir aber für Erinnerungsarbeit nicht viel Gelegenheit.

Ich schaute auf das Display. Kein Netz. Inzwischen wunderte mich das nicht mehr. Allein die Frage drängte sich mir in den Vordergrund, wo ich denn wäre. Sicher. In München. Aber in einem Tunnel? Vielleicht in einem Geheimtunnel? Aus der Zeit der Naziregierung? Oder …

Einer Intuition folgend suchte ich auf meinem Handy das Dateiverzeichnis meiner Speicherkarte. Ich öffnete den Ordner mit den Fotos und blätterte uninspiriert durch die Fotos. Dort fand ich Fotos von einer Party. Während in mir irgend eine Ahnung hoch stieg, wo ich den Abend zuvor war, stieß ich beim Durchblättern auf einen Plan:
Lageplan von 1927
»Juli 1927«. Ein alter Lageplan. »Elektrische Bahnen«. »Früheres Verkehrsministerium« las ich. Aber auch »Haupt-Bahnhof« und »Arnulf-Straße«. Dick im Plan eingezeichnet war eine doppelte Linie, welche an »Station I.« über »Zentrales Briefpostamt« zur »Station II.« führte.
Ohne Zweifel.
Der Plan zeigte eine Bahnlinie in der Stadt München.
1927. Aber es war keine normale Bahnlinie. Sie lag am Hauptbahnhof, an dem Bahnhofsflügel, der auch heute den Namen »Starnberger Bahnhof« trägt.

Meine Kopfschmerzen hatte ich fast vergessen. Gedankenverloren starrte ich auf das Foto von jenem Lageplan. Es war zwischen all den Party-Fotos, die ich mit meiner Handykamera geschossen hatte. Ich blätterte durch die Fotos. Die Gesichter der Menschen auf den Fotos sagten mir nichts. Auf zwei der Fotos war auch ich abgebildet. Einmal mit einem Glas Absynth – allein die gedankliche Formulierung des Wortes trieb mir direkt den Geschmack wieder auf die Zunge – zusammen mit einer mir unbekannten Frau und einmal mit einem Rotweinglas über geheftetes Papier. Ich vergrößerte das Foto, konnte aber nicht erkennen, um was es sich dabei handeln mochte. Ich kramte in meinen Erinnerungen, aber da war nichts. Filmriss. Ja, ich hatte wohl einen Filmriss. Keine Erinnerung mehr. Die Fotos interessierten mich immer weniger, ich scrollte schnell durch und fast hätte ich das letzte Foto übersehen.
Fast.
Die abgebildete Person erinnerte mich an etwas. Es war ein Mann im mittleren Alter. Er machte mit der rechten Hand das Victory-Zeichen und hielt ein getipptes Manuskript im Schnellhefter in mein Handykamera. Fast routinemäßig vergrößerte ich das Bild und stockte. Das Manuskript konnte ich nicht lesen. Nur der Aufbau der Seite erinnerte mich an ein Manuskript, welches bei mir zu Hause herum lag. Die erste Seite von meinem Manuskript war ebenfalls getippt und mit handschriftlichen Bemerkungen ergänzt. So wie auf dem Foto. Da war ich mir sicher. Auf dem Foto war zusätzlich noch unter den handschriftlichen Anmerkungen jener Lageplan von 1927 geklebt, welchen ich wohl zuvor abfotografiert haben musste.
Ich wählte die maximale Vergrößerung des Fotos. Sie erbrachte die maximale Verpixelung. Augenfeindlich. Unansehbar.
Aber trotzdem. Ein Wort der Randbemerkungen sprang mir ins Auge. Mit krakeliger Handschrift war das Wort zwischen Lageplan und Getipptem vermerkt.
Andere würden sicherlich das Wort als anderes gelesen haben. Lediglich für mich war es klar. Es war mir zu bekannt. Es konnte nur ein Wort sein. Das Wort auf dem Foto, es war unzweideutig und eindeutig.
Nur ein Wort:

PentAgrion!

Fortsetzung Teil 21