Münchner Geschichten (Teil 2): Über Sonden auf Wanderschaft und andere ausgesetzte Dinge

In der FAZ las ich letztens einen Artikel über die Unwahrscheinlichkeit, dass die von Menschenhand gebauten Erkundungsmaschinen Voyager 1 und Voyager 2 sich selbst dann noch fortbewegen werden, wenn deren Verursacher, die Menschheit also, aufgehört haben sollte zu existieren.


Voyager 1
und Voyager 2 wurden vor 40 Jahren ins All geschossen, um zu schauen, was sonst noch so im All kreucht und fleucht, was nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Und so wird in knapp 296.000 Jahren Voyager 2 am Stern Sirius vorbei fliegen. Die Distanz zwischen Voyager 2 und Sirius wird in eine sein, für welche das Licht 4,3 Jahre benötigt, um eben diese Strecke zurückzulegen. Zum Vergleich: die Erde ist nur acht Lichtminuten von der Sonne entfernt. Die Distanz zwischen Sirius und Voyager 2 wird im Vergleich dazu über 280.000 mal so groß sein. Aber erst in 300.000 Jahren. Allerdings ist Voyager 2 dann ein stromloser Metallklumpen.

Es erinnert mich an ein Cartoon der 90er Jahre: ein Mann steht mit einer Kamera in der Hand und erklärt, er habe weltexklusiv Fotos vom Weltuntergang gemacht. Allerdings wüsste er nicht, wo er den Film entwickeln lassen könne. Heute hätte er das Problem nicht. Allerdings säße er mit seinem Smartphone sich bitter an einer Ecke, weil er seine Weltuntergang-Selfies weder auf Facebook noch auf Instagram posten könne, weil deren Server down wären.

Ähnlich wird die Situation sein, wenn Voyager 2 den Sirius passiert. Und niemand wird es erfahren. In 300.000 Jahren

Nicht nur Voyager 2, sondern auch Voyager 1 werden bald für die Menschheit völlig nutzlos und dann für andere unentdeckbar durch die unendlichen Weiten cruisen. Das wird wohl ab 2030 der Fall sein, wenn die nukleare Stromversorgung der Sonden aufgebraucht sein wird.

An Board beider Sonden befinden sich Erinnerungen und Artefakte an eine Menschheit, verewigt u.a.a. in einer goldenen Medienplatte mit Musik von Chuck Berry und Louis Armstrong. „Johnny B. Goode“ mit „Melancholy Blues“ zum Roll over verschiedener Beethoven-Stücke. Vereint in der Unendlichkeit. Keine Sorge. Eine Abspielvorrichtung wurde dazu gelegt. Sollte die Plattenindustrie zuvor Pleite gegangen sein oder sollten die Aliens über keinen gültigen Amazon-Account verfügen, genau hierzu hatten sich gestern einige Menschen Gedanken über das Morgen gemacht, ohne unser Heute gekannt zu haben.

Den Einflussbereich unseres Sonnensystems hat Voyager 1 vor fünf Jahren verlassen. Voyager 2 dagegen befindet sich noch im äußeren Bereich. Wer von den Aliens mag, darf die Sonden mitnehmen und aufmachen. Nur, die Wahrscheinlichkeit, dass diese Sonden gefunden werden, ist genauso gering wie eine Kollision einer der beiden Sonden mit einem kosmischen Gesteinsbrocken oder gar einem Schwarzen Loch. Also höchst unwahrscheinlich, um einmal genau zu sein. Um noch genauer zu sein, von einer Kastanie im Biergarten am Kopf über seinem Bier beim Lesen der FAZ getroffen zu werden, das ist wahrscheinlich wahrscheinlicher.

Allerdings, bei dem momentanen Wetter ist es eh nichts mit der Biergarten-Gemütlichkeit. Der Sommer hat sich längst verabschiedet und ist mit dem Schwalben gen Süden am Fliegen. Und mancher Mensch entledigt sich ebenfalls seinen Sommer-Erinnerungen

Ein beliebter After-Sommer-Sport von Anwohnern ist es jetzt, Sachen einfach auszusetzen. Es geht hierbei nicht um das Aussetzen des Dackels oder der Oma angebunden an einer Leitplanke auf einer einsamen Autobahnraststätten-Ausfahrt, sondern um Dinge aus dem Besitztum des Eigentümers. Verständlich. Denn im heimischen Müllbeutel passt der Krempel nicht und beim Müll-runter-Tragen droht immer die Tüte zu reißen. Also bleibt als einziger Ausweg, das Aussetzen am Gehwegrand. Damit das Ganze nicht so nach illegalen Sperrmüll ausschaut, wird noch ein Zettel dran geklebt: „Zu verschenken“ und schon fühlt sich der Eigentümer der Verantwortlichkeit des regelkonformen Entsorgens entbunden. Ist ja verschenkt. Empfänger unbekannt. Einstweilen.

Die NASA macht das ja mit ihren Sonden im Kosmos, dem Weltall, auch so, nicht wahr. Warum sollte es dann Klein-Schmitz in seinem Mikrokosmos nicht auch so handhaben.

IMG_20170907_085218KopieSo findet sich schon mal ein Grill oder sommerlich bunte Fenstermalfarben am Gehwegrand. Oder ein alter Radiorecorder, ein Röhrenfernseher, Geschirr mit hässlichem Zwiebelmuster oder Biergläser. Neulich traf ich auf dieser Weise ein Bierglas mit einem Motiv der Olympischen Sommerspiele 1972 in München. Unter dem Logo der damaligen Olympischen Spiele war ein stilisiert dargestellter Gewichtheber. Das Glas habe ich nicht mitgenommen. Staubfänger besitze ich reichlich. Und in den Biergarten kann ich es nicht verwenden. Es ist weder en vogue, noch erlaubt.

Jedoch, würde die Mitnahme eigener Biergefäße in einen Biergarten aus unerfindlichen Gründen morgen erlaubt werden, wäre das Mitbringen eines eigenen Bierglases eine echte Bedrohung für das bayrischen Gleichgewicht aus Wirt, Bier und Gast. Dieses gottgegebene Biotop würde massivst aus den Fugen geraten mit üblen Folgen für den Häretiker. Der Wirt würde das Glas nicht ausspülen, sondern das Bier in das ungewaschene Glas füllen, das Bier würde deswegen nicht schäumen, die Bayern unter den Gästen im Biergarten würden das sofort bemerken, in schallendem Gelächter ausbrechen und die Kastanienbäume unter deren Gelächter erzittern. Aus den Bäumen würde es Kastanien regnen.

Da ich inzwischen das fatale Beziehungsdreieck Bier-Kastanie-Notaufnahme (siehe auch Teil 1) kenne, aber dann wahrscheinlich trotzdem das Ganze zuvor mit einer fehlerhafterer Wahrscheinlichkeit bewertet hätte, würde ich als Glasmitbringer dann gerade unter jenem Kastanienbaum sitzen, aus denen die Kastanienfrüchte herunter fallen würden. Es wäre eine fatale Fehleinschätzung dieses Beziehungsdreiecks. So eine Blutvergiftung durch eine Verletzung aufgrund einer nicht hygienisch einwandfreien Kastanie, auf den Kopf niederdonnernd, aus einem Kastanienbaum, das ist kein Spaß und bedrohlicher als jede Zombie-Apokalypse.

Als Biergarten-Häretiker würde ich in bitterster Konsequenz zu einem Biergartenwiedergänger mutieren. Als gewesener Biergartenbesucher und gewordener Biergartenwiedergänger wäre das recht übel für mich. Denn für tägliche Biergartenwiedergängerei hätte ich nicht genügend Kontodeckung im Himmel, weil ich zu oft betrunken in Biergärten herum saß, statt mein himmlisches Konto mit guten Taten zu aufzufüllen.

Darum habe ich das Glas dort stehen lassen.

Das ist die wirkliche, einzige Wahrheit.

Fromm und gottesfürchtig.

So einfach ist das.

Doodeln auf Tapeten

„Wer hat die Tapete beschmiert? Ich will das wissen! Sofort!“

Ihr „Sofort“ hallte in meinen Ohren. Es war scharf, fordernd, unerbittlich. Sie stand vor meinem Bruder mir gegenüber leicht vornüber gebeugt. Ihr Zeigefinger stocherte an uns vorbei und zeigte auf die Wand mit der Tapete, eine Tapete mit gelben Ornamenten, die dem Flur eine heimelige Wärme gab. An der Wand hing fest in die Wand gedübelt das Telefonbänkchen. Auf diesem stand das Telefon. Der klassische „Tischfernsprecher W48“ der Nachkriegszeit: Telefongerät mit der abstehenden Telefongabel, darauf der Telefonhörer, und frontal dem Betrachter zugewendet die Wählscheibe. Dazwischen schlängelten sich die schwarzen, mit textilfaserummantelten Telefonkabel. Damals verfügten die Kabel zur Telefondose noch nicht über den kleinen schlanken „TAE F-Stecker“, sondern das ganze wurde über einen altertümlichen massiven Walzenstecker (Bezeichnung „ADoS ZB 27“) in die Wand mit dem Telefonnetz der Welt verbunden.

„Ich will wissen, wer von euch die Tapete beschmiert hat!“

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Nie met Aljebra

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Schneebedeckt die grüne Flur,
Als ein Auto blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

Ein Wort aus einem anderen Blogkommentar holt in mir Erinnerungen zurück:
Pleonasmus
Ein Wort wie ein Geheimnis.
Es beeindruckt in jedem Gespräch und garantiert ehrfürchtige Blicke.
„Der Mann hat studiert“, „Der Mann ist Gelehrter“ sagen die devoten Blicke aus.
Oder aber auch:
„Fängt der Angeber schon wieder an?!“ „Der nervt!“
Oder aber es mündet in einer spitzfindigen wie ein Degen geführte Gegenfrage.
„Was ist ein ‚Pleonasmus‘?“
„Na ja, ein ‚Pleonasmus‘ ist eine ‚Tautologie‘.“
„Wie bitte?“
„Ein weißer Schimmel, eben. Eine tote Leiche, feuchtes Wasser .“
Spätestens dann kommt der Einwurf …
„Bei mir im Kühlschrank ist der Schimmel grün, die Zombies hängen am Glockenseil und wenn du hier mit deiner Bildung rumstrunzen willst, …“

„Rumstrunzen“.

Das hat nichts mit dem ehemaligen Fußballspieler Thomas Strunz oder der allbekannten berühmt-berüchtigten Rede vom „Musse-rühren“-Fußballtrainer Trapattoni („Was erlaube Struuunz?!“) zu tun.

Das Wort „strunzen“ findet sich noch nicht mal bei Wikipedia oder gar bei Wiktionary. Dabei gibt es davon reichliche Wortableitungen von „strunzen“: „Graf Strunz“, „Strunzbüggel“, „strunzdämlich“, „strunzdumm“.
Das Wort hat wohl rheinischen Ursprung und steht für „angeben, sich groß tun“. Es ist aber auch im Ruhrgebiet und darüber hinaus (z.B. Berlin) zu Hause. Interessanterweise in all den Gebieten, die unter Napoleon französisch besetzt waren.

Natürlich gibt es auch in Bundestaate „Frei statt Bayern“ ein ähnliches Wort. Die haben wohl das Wort in ihre Sprache reinkopiert und das „st“ durch den Buchstaben „b“ ersetzt: „brunzen“. Weltbekannt ist zum Beispiel in München zur Zeit eines jeden Oktoberfestes die „Brunzwiesn“. Damit ist der grüne Wall hinter den Bierzelten gemeint, da wo Zeltbesucher hinpinkeln, sich übergeben oder ihren Rausch ausschlafen, weil der Boden noch so schön warm und weich ist …
Und in München spielte dann auch der oben erwähnte Fußballtreter Thomas Strunz. Der Thomas Strunz kommt übrigens gebürtig aus Duisburg
Womit die Spur eindeutigerweise wieder raus aus Bayern gleich in den Norden führt …
„Rumstrunzen“ – ein Wort so schön wie „Verkasematuckeln“ (… offenbar auch französischen Ursprungs …) …

Ich bin abgeschwofen.
Wo war ich?
Ach ja.

„… und wenn du hier mit deiner Bildung rumstrunzen willst, …“

Der „Pleonasmus“ oder die „Tautologie“ oder das „Doppel-Gemoppel“.
Schön, dass es für diese Begrifflichkeit Worte durch alle grammatikalischen Geschlechter gibt.
Gleichberechtigung par excellence.
Jeder Gleichstellungsbeautragte wurde vor Wonne und Freude in Tränen zerfließen.
Wobei mir das Wort „Doppel-Gemoppel“ eindeutig am besten gefällt, auch wenn es mein Lehrer damals in der Schule mit einem ironischen Rüffel in meine Richtung geantwortet hatte. Es war der Deutschunterricht und auf dem Lehrplan standen rhetorische Stilmittel. „Pleonasmus“ und „Tautologie“ gehörten dazu. Wir analysierten Reden von Hitler, Göbbels und anderen Politikern, die man tunlichst mit den beiden erstgenannten nicht in einem Atemzug nennen sollte. Und irgendwann hingen mir dann die Politiker mit ihren Reden ziemlich zu den Ohren raus. Denn was anfangs wie fein durchdacht erschien, zerplatzte wie eine Sprachenwämmserei erster Güte.

Klar, geholfen hat es nicht, wenn ich bei einer Rede von Helmut, dem Ersten, und Helmut, dem Zweiten, und anderen Waldheinis und Pissbudenluis sofort „Tautologie“ oder „Akkumulation“ oder „Inversion“ oder „Anakoluth“ oder „Polyptopton“ – oder wie sie alle heißen – denken musste.
Oder sei es, dass ich bei der Kirmes beim Wort „Autoselbstfahrer“ ins Schleudern geriet oder schon beim Wort „Düsenjet“ anfing besserwisserisch zu grinsen.

Und doch.

Da gibt es ein rhetorisches Mittel, das trägt den geheimnisvollen Namen „Oxymoron“. Mit diesem Wortungetüm verbinde ich eine Hassliebe.
Eben das, was das Wort beschreibt. Die Verbindung zweier vermeintlicher Gegensätze. Wie bei einer Hassliebe halt. Oder wie bei „Eile mit Weile“.

Oder wie in dem oben bereits zitierten Versen aus einem bekannten Spottgedicht. Das interessante an diesem Gedicht finde ich, dass es nicht möglich ist, eine Quelle dafür anzugeben.
Wikisource zuckt beim Nachforschen hilflos mit den Schultern:

Dieses Gedicht gibt es in vielen Varianten und es wird spekuliert, ob Goethe, Lewis Carroll oder Christian Morgenstern der Urheber ist, dies aber ohne jede Belege. Wahrscheinlich stammt es aus dem sächsischen Volksmund aus der Zeit um 1850. Dieses Spottgedicht ist ein exzellentes Sprachspiel das von seinen Oxymora und Paradoxien lebt.

Schön, da freu ich mich, dass ich dann hier fleißig und ausführlich zitieren darf, ohne dass ich in eine Abmahnwelle (s.a. Plumpaquatsch ) gerate und spontanes Surfen lernen muss.

Nun sei’s drum. Hier das Gedicht …

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Schneebedeckt die grüne Flur,
Als ein Auto blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschossner Hase
Auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Und der Wagen fuhr im Trabe
Rückwärts einen Berg hinauf.
Droben zog ein alter Rabe
Grade eine Turmuhr auf.

Ringsumher herrscht tiefes Schweigen
Und mit fürchterlichem Krach
Spielen in des Grases Zweigen
Zwei Kamele lautlos Schach.

Und auf einer roten Bank,
Die blau angestrichen war
Saß ein blondgelockter Jüngling
Mit kohlrabenschwarzem Haar.

Neben ihm ’ne alte Schachtel,
Zählte kaum erst sechzehn Jahr,
Und sie aß ein Butterbrot,
Das mit Schmalz bestrichen war.

Oben auf dem Apfelbaume,
Der sehr süße Birnen trug,
Hing des Frühlings letzte Pflaume
Und an Nüssen noch genug.

Von der regennassen Straße
Wirbelte der Staub empor.
Und ein Junge bei der Hitze
Mächtig an den Ohren fror.

Beide Hände in den Taschen
Hielt er sich die Augen zu.
Denn er konnte nicht ertragen,
Wie nach Veilchen roch die Kuh.

Und zwei Fische liefen munter
Durch das blaue Kornfeld hin.
Endlich ging die Sonne unter
Und der graue Tag erschien.

Dies Gedicht schrieb Wolfgang Goethe
Abends in der Morgenröte,
Als er auf dem Nachttopf saß
Und seine Morgenzeitung las.

Schönen Tag noch. :)

P.S.:
Ich schrieb von Trapattoni.
Trapattoni?
Okay, ein kleiner Exkurs (Ausflug) in geschichtliche Erinnerungen vom 10. März 1998. Man sollte den Herrn Trapattoni nicht so schnell vergessen. Auch wenn er inzwischen mit irgend so einem Lodda Maddeus in Salzburg den dortigen Verein trainiert.
Deswegen hier mein Tribut an dem, der es verdient (den Trapattoni, nicht den Lodda):
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Malageña salerosa

Eine Musik hat mich am Wochenende verfolgt. Sie kommt im Film „Kill Bill Vol.2“ vor:

„Malageña salerosa“ von Chingnon

Die Musik weckt Erinnerungen an vergangene Zeiten in mir.
Vor meinen Augen tauchen die beiden ehemaligen chilenischen Kneipenbesitzer Don Miguel und Don Gustavo auf.
Beide waren damals die Besitzer einer Traditionskneipe mit Namen „Lennet Kann“. Sie machten aus einer ehemaligen Printenkneipe eine Art europäisch-lateinamerikanischen Treffpunkt.

Don Miguel selber war klein und untersetzt und erinnerte ein wenig an „kleines dickes Müller“ oder an Ailton. Sein Lachen beherrschte er vollkommen. Lachte er, war es wie eine la Ola. Es pflanzte sich fort. War er mies gelaunt, dann herrschte selten gute Stimmung im „Lennet Kann“.

Sein Bruder Don Gustavo war das Gegenteil von ihm. Hager, mit scharfen, markanten Gesichtszügen und spärlich im Lachen. Ein wenig unterkühlt wirkend. Harte Schale, weicher Kern.

Beide wirkten wie Patt und Pattachon.
Wie Sonne und Mond.
Wenn beide in einer Linie mit ihrer Stimmung lagen, dann herrschte gnadenlose Flut. Die Stimmung schwappte wie eine Springflut durch die Kneipe. PISCO (chilenischer Traubenschnaps) machte die Runde und es herrschte Ausgelassenheit.

Und auf den Höhepunkt dieser Stimmung kam es dann immer zur Explosion, wenn Don Miguel zu seiner Single griff. Seine Lieblingssingle auf den Plattenteller legte und deren Kratzen durch die Lautsprecher tönte. Dann griffen Don Miguel und Don Gustavo gemeinsam zum Mikro.

„Malageña salerosa“

Es war die Erfindung von Karaoke, bevor es in jener Stadt jemand wusste, was überhaupt Karaoke war. Und wenn beide hinterm Tresen sangen, dann erstarb jedes Gespräch und die Aufmerksamkeit galt voll den beiden Brüdern. Selbst das Licht in der Kneipe schien geheimnisvoller. Ein Gänseschauerfeeling griff Raum in der Kneipe, wenn die beiden die hohen Töne des Liedes lange anhielten und vergessen machten, dass beide Raucher waren.
Die Kneipe gehörte ihnen und wurde zu ihrer exklusiven Bühne, wenn das südamerikanische Liebeslied an jene unbekannte schöne Frau erklang, an jener „Malageña salerosa“

Welch schöne Augen Du hast (Qué bonitos ojos tienes)
Unter diesen beiden Augenbrauen (Debajo de esas dos cejas,)
Unter diesen beiden Augenbrauen (Debajo de esas dos cejas,)
Welch schönen Augen Du hast (Qué bonitos ojos tienes)
Sie möchten mich ansehen (Ellos me quieren mirar)
Aber Du läßt sie nicht (Pero si tú no los dejas,)
Aber Du läßt sie nicht (Pero si tú no los dejas,)
Nicht einmal blinzeln (Ni siquiera parpadear.)

Anmutige Malageña (Malageña salerosa,)
Ich wünschte, Deine Lippen zu küssen (Besar tus labios quisiera,)
Deine Lippen wünschte ich mir (A tus labios quisiera)
Anmutige Malageña (Malageña salerosa,)

Und Dir zu sagen, mein hübsches Kind (Y decirte, nina hermosa)
Dass Du schön und bezaubernd bist (Eres linda y hechicera)
Dass Du schön und bezaubernd bist (Eres linda y hechicera)
Wie die Unschuld einer Rose. (Como el candor de una rosa.)

Wenn Du mich wegen meiner Armut geringschätzt (Si por pobre me desprecias)
Kann ich das verstehen (Yo te concedo razón)
Kann ich das verstehen (Yo te concedo razón)
Wenn Du mich wegen meiner Armut geringschätzt (Si por pobre me desprecias)

Ich kann Dir keinen Reichtum darbieten (Yo no te ofrezco riqueza)
Ich schenke Dir mein Herz (Te ofrezco mi corazón)
Mein Herz schenke ich Dir (Te ofrezco mi corazón)
Zum Tausch gegen meine Armut (A cambio de mi pobreza)

Anmutige Malageña (Malageña salerosa,)
Ich wünschte, Deine Lippen zu küssen (Besar tus labios quisiera,)
Deine Lippen wünschte ich mir (A tus labios quisiera)
Anmutige Malageña (Malageña salerosa,)
Und Dir zu sagen, mein hübsches Kind (Y decirte niña hermosa)
Und Dir zu sagen, mein hübsches Kind (Y decirte niña hermosa)
Dass Du schön und bezaubernd bist (Eres linda y hechicera)
Wie die Unschuld einer Rose (Como el candor de una rosa)
Wie die Unschuld einer Rose (Como el candor de una rosa)

Applaus tobte durch die Kneipe und PISCO war beiden gewiß.

Aber die Geschäfte liefen immer schlechter. Die Lateinamerikaner blieben aus und Don Gustavo ging seinen eigenen Weg.
Irgendwann hatte dann Don Miguel das „Lennet Kann“ weiterverkauft und wollte nach Chile zurückkehren.
Die Kneipe verlor ihren Glanz. Der neue Besitzer versuchte alles, den Geist des „Lennet Kann“ zu halten. Aber er war mit Don Miguel gegangen.

Drei Jahre später kehrte ich in jener Stadt zurück. Das „Lennet Kann“ existierte noch immer und auch der neue Besitzer war noch drin. Aber seine Augen verrieten, dass die Geschäfte noch schlechter liefen.
Ich fragte nach Don Miguel. Er sagte mir, dass Don Miguel wieder in der Stadt sei. Aber er kellnere nun. Er hätte auf dem Stadtberg gekellnert. Aber dort sei er gegangen. Man sagte, er sei in der neuen Kneipe am Bushof bei dem Museum.

Ich verliess die Kneipe und ging zu der Kneipe zwischen Bushof und Kaufhaus. Dort stand Don Miguel in seiner üblichen Pose: breit lächelnd hinter dem Tresen.
Ein riesiges „Hallo“.
Und ich fragte ihn nach seiner Schallplatte. Er lächelte traurig und sagte er hätte sie beim Umzug verloren gehabt. Aber das sei nicht schlimm, denn jeder hätte ihm damals bestätigt, dass er nicht gut singen konnte.

Er holte einen Zeitungsausschnitt aus seiner Tasche hervor. Ein Zeitungsausschnitt der BILD-Zeitung aus alten Tagen, zu der Zeit als er noch Besitzer vom „Lennet“ war:
Don Miguel am Brunnen unter Kaiser Karl, dem Erbsenkopf seinen Brunnen, vor dem Rathaus. Don Miguel mit Gitarre in der Hand.
Don Miguel lachte sein breites Lachen:
„Die Doofen schreiben, ich sei ein Stadt-Original geworden und spiele und singe dauernd am Karlsbrunnen. Ich kann überhaupt keine Gitarre spielen.“

Zurück in der Gegenwart klingt das Lied durchs Radio und der Moderator verweist zuvor noch auf Tarantinos Musikgeschmack und den Film „Kill Bill“.

In Gedanken fliege ich zurück.
Eine Zeitreise über die Musik.
Das Lied an die anmutige Rose Malageña bringt mich zurück in meine Vergangenheit …