Nichts zu verbergen …

“… übermorgen ist der Elfte im Elften. Karnevalsbeginn.”

“Tag der Singles.”

“Was?”

“Übermorgen ist Tag der Singles. Der elfte Elfte ist Tag der Singles.”

“Quatsch! Der ist Karnevalsbeginn.”

Bernd zückte sein Smartphone, wischte ein paar Mal und hielt Karl darauf das Display unter der Nase.

“Da! Da steht’s. Kar-ne-vals-be-ginn! Dann beginnt der Karneval auch in München.”

“Haha. München und Karneval. Das ist wie, wenn ein Blinder über Farben redet. ‘Fasching’ nennt ihr euren Mist und vom Elften im Elften habt ihr zehnmal keine Ahnung, ihr Bazis”, blaffte Karl zurück, zog sein Smartphone hervor, wischte ebenfalls und hielt Bernd sein Smartphone hin, “Tag der Singles! Da. Lies. Singles’ Day. Wikipedia.”

“Oh! Du hast das neuste Flagschiff-Smartphone der Koreaner?” Gudrun hatte sich hinter Karl angenähert und ergriff Bernd seine Hand mit dem Smartphone und schaute sich das Smartphone an. “Schick. Und bist du zufrieden?”

Karl drehte sein Smartphone zu Gudrun. “Meines ist das Flagschiff der Chinesen.”

“Und ich habe das neuste Flagschiff aus Cupertino.” Janette war zu der kleinen Gruppe hinzugestoßen und hielt triumphierend ihr Smartphone in die Gruppe.

“Angeberin!” stöhnte Bernd übertrieben und verdrehte demonstrativ seine Augen.

“Nur weil es an deinem männlichen Selbstverständnis kratzt, dass eine Frau besser aufgestellt ist als du? Haste wohl nicht erwartet, nicht?”

“Na, seid ihr wieder beim sublimierten Schwanzvergleich? Wer das bessere Handy hat? Oder ist das nur wieder das Vorgeplänkel für dämliche chauvinistische Fußballplaudereien über Bayern Dümmlich gegen Borussia Dämlich?” Ursula hatte sich zu der Gruppe gestellt und schaute amüsiert in die Runde der Smartphone-Parade in den Händen der Gruppe.

“Janette ist mal wieder am rumstrunzen wegen ihres Obstknochens, dass sie letzten Monat gekauft hat”, grummelte Bernd genervt.

“Ach, Bernd, nur weil du dir kein Handy wie meines leisten kannst und nur so ein kleines Koreaner-Dingens hast, biste jetzt knurrig. Kauf dir doch nen Porsche auf Leasing, dann haste wenigsten passendes für deine Potenz.”

“Du denkst immer nur an Sex, oder? Janette, es kommt nicht auf die Größe an, sondern auf die Technik. Und in deinem steckt viel von meinem …”

“… und beide wurden in den Werken von meinen China-Handy zusammengebastelt!”, warf Karl triumphierend ein.

“China-Schrott”, antworteten Janette und Bernd gleichzeitig im Chor.

“Ihr mit euren Sexthemen. Was anderes: geht ihr am Elften im Elften auch zum Sankt-Martin-Umzug?” Ingrid hatte zuvor unbeachtet den Raum betreten und nutzte die Gelegenheit, das Gespräch in ruhigere Gewässer überzuleiten.

“Wo ist dein Klaus-Dieter?” schaute sie Ursula fragend an, Ingrids Frage ignorierend.

“Hier bei der Arbeit! Mein Drink ist schön, könnt ihr es sehn? Rabimmel, rabammel, rabumm.” Klaus-Dieter hatte den Raum durch die zweite Tür betreten und hielt einen Martini-Cocktail in seiner Linken. “Aha, die Technikerfraktion und die Frage, wer hat welches Smartphone wo schon mal gezeigt, woll? Gleich diskutiert ihr, wer zum Sankt-Martin-Umzug die bessere Laternen-App hat.”

Ingrid schaute entrüstet und indigniert gleichzeitig. “Klaus-Dieter, musst du jetzt schon mit dem Martini-Gesaufe anfangen? Kannst du damit nicht warten, bis wir’s schöner haben?” Bei ihr schien jetzt die Entrüstung zu gewinnen, ihr Gesicht signalisierte Ärger und ihr Kopf lief rot an.

Klaus-Dieter überhörte ihren Einwurf. “Leute, wenn ihr mit den Smartphonen so wedelt, ich hätte da mal nen Vorschlag. Wir machen jetzt das, was die bereits im Film gemacht haben.”

“Film? Welchen Film?” Janette schaute Klaus-Dieter fragend an.

“Er meint den Film ‘Das perfekte Geheimnis’ mit Elyas M’Barek, Wotan Wilke Möhring und so weiter. Der läuft gerade richtig erfolgreich im Kino”, erklärte Ursula.

“Ach den.” Karl schien sich zu erinnern.

Klaus-Dieter setzte ungerührt fort: “Jeder legt sein Smartphone entsperrt auf den Tisch und dann warten wir ab, was dann kommt. Alles ist offen. Und keine Geheimnisse.”

Schweigen.

“Was ist? Keine Lust?”

Karl schaute Gudrun an, Gudrun Bernd, Bernd Janette, Janette Ursula, Ursula wiederum Klaus-Dieter. Ingrid stand mit hochrotem Kopf daneben.

“Also, was ist?”

“Sag mal, hast du sie nicht mehr alle? Es geht niemanden etwas an, was auf meinem Handy reinkommt!” Ursula klang stark angefressen.

“Hast du ne Affäre?” fragte Gudrun lauernd zurück.

„Affäre? Was soll das? Ich habe ne Privatsphäre und die schütze ich. Das darf ich doch als mein Grundrecht ansehen, oder etwa nicht?”

“Sie hat ne Affäre. Wer isses denn? Der junge knackige Apfelhändler aus der Innenstadt?”

“Du hast was?” Klaus-Dieter schaute Ursula über sein Martini-Glas hinweg prüfend an.

“Ja, hab ich!”, gab Ursula patzig zurück. “Und? Interessiert das wen?”

“Der Apfelhändler aus der Innenstadt? Das ist aber MEINER!” brauste Janette unbeherrscht auf.

“Bernd, bist nicht du jener Apfelhändler aus der Innenstadt? Sagtest du nicht mal was von zwei heißen Schnittchen oder so?”, warf Gudrun unschuldig ein.

Es kam, wie es bereits im Film kam. Wortwechsel. Beleidigungen unter der Gürtellinie. Hass, Wut, Tränen. Janette und Karl kamen als Paar und verließen fluchtartig als frisch getrenntes Paar die Wohnung. Ursula rang erst um Fassung und rannte dann erbost schreiend hinter Janette her, um sich mit ihr irgendwie auf Frauenart zu duellieren. Bernd warf Ingrid verschwörerische Blicke zu, rief darauf Gudrun und Klaus-Dieter zu, Bernd und Ingrid würden versuchen, das Schlimmste bei den dreien zu verhindern. Aber das könnte dauern, sie sollten sich keine Sorgen machen. Bernd half Ingrid in ihren Mantel und beide rannten mutmaßlich den Streitenden als Streitschlichter hinterher. Hand in Hand, sich anlächelnd.

Klaus-Dieter schaute Gudrun an, prostete ihr zu und nippte an seinem Cocktail.

“Das klappte ja wie geschmiert. Gudrun, du bist die Beste. Ehrlich.”

Gudrun lächelte verlegen und näherte sich Klaus-Dieter. “Gut, dass deine Frau auch gegangen ist. Deine Idee war aber auch nicht von schlechten Eltern. Das Smartphone-Spiel aus dem Film. Super Idee.”

“Tja, es geht halt nichts über den monatlichen Gang ins Kino, Gudrun. Ich wusste nicht, dass dein Mann ebenso ein Streitschlichter-Gen wie meine Ingrid hat.”

Gudrun stand jetzt direkt vor Klaus-Dieter, Aug in Aug. Zärtlich streichelte sie ihm über die Backe. “Tja, da haben die beiden wohl etwas gemeinsam. Aber jetzt haben wir endlich unsere Ruhe. Und niemand wird uns stören. Wie spät ist es?”

“18 Uhr 25.”

“Oh, Mann, schnell, lass uns beeilen.” Sie ergriff seine Hand, eilte zielstrebig mit ihm in den Nachbarraum und zog ihn aufs Sofa. Er ließ es mit sich geschehen und schaffte es seinen Martini-Cocktail dabei so auszubalancieren, ohne etwas von seinem Cocktail zu verschütten. Er nahm noch schnell einen Schluck. Gudrun drehte sich zu ihm hin, lächelte und meinte hauchend, aber gleichzeitig drängelnd: “Du sitzt drauf!”

Klaus-Dieter griff zwischen seine Beine unter sich, zog die Fernbedienung hervor und zielte damit auf den Fernseher, drückte einen Knopf und das Standby-Licht des Fernseher wechselte von gelb auf grün.

“Klaus-Dieter, wenn ich daran denke, wir wären die nicht los geworden …”

“Grudrun, laß uns nicht über diese Fußball-Ignoranten weiter nachdenken. Die hätten uns die Live-Übertragung wohl hunderprozentig vermasselt. Das sind alle Fußball-Party-Crusher!”

“Still jetzt. Bayern gegen Dortmund. Ich tippe auf 3:1 für Bayern.”

“Sssht! Es beginnt. Dortmund gewinnt 1:2!”

“Guten Nabend meine Damen und Herren zur Übertragung des Samstagabend-Spiel live aus der Münchner Allianz-Arena. Zum echten Männerfußball der Fußball-Bundesliga Bayern gegen Dortmund  … .”

Wer nicht hören will, wühlt in fremden Haufen

Ein Gedanke entwickelte sich mir beim Lesen von Jules von der Ley (Trithemius) Blog-Feuilleton-Artikel „Wie alles angefangen hat – ein Ohrenzeugenbericht“: eine Person spricht, die nächste spricht lauter, um dessen Stimme über die der ersten Person zu lagern, was eine dritte Person als Anlass nimmt, seine Stimme über die der zweiten zu legen, während die vierte Person in Folge die dritte übertönt, was die erste Person zu Anlass nimmt, die vierte zu übertönen.

Das Ganze müsste logischerweise in einer brutal akustischen Rückkopplung enden. Klappt aber nicht. Die Biologie hat dem Menschen ungerechterweise stimmliche Grenzen gesetzt. Ist nicht fair, ist aber so. Weswegen diese Grenzen sich auch letztendlich auf Konzerten mit „Brüll-Techno“ im Stile von H. P. Baxxter („How Much Is the Fish?„, „Hyper Hyper„, etc. von Scooter) manifestiert hatten.

Es mag viele Leser geben, die dabei gähnen werden, und müde abwinkend erklären, dass der „Brüll-Techno“ von den teilnehmenden Bands des Wacken Open Airs (seit 1990) stimmlich abgekupfert wurde.

Nur Jules analysierte hierbei profunder, erheblich grundlegender: Diskotheken, Waken Open Air und Brülltechno lassen sich eindeutig auf eine Gruppe von vier Personen zurückführen, die in ihre eigene Stimme verliebt sind und jenes in einem Café ausleben. Somit wären also alle nachfolgenden, rebellenhaften Veranstaltungen entmystifiziert und auf jenen simplen Kaffeeklatsch unserer Mütter und Bierstammtische unserer Väter rückgeführt. Eine ganze Generation von Schrei-Rebellen entmystifiziert. Schön ist das nicht, nicht wahr. Wie soll denn dann rationale Pubertät funktionieren, wenn die Jugend das Gleiche unter gleichen Vorzeichen in stimmlicher Verausgabung mit Hoffnung auf Differenzierung so etwas durchführt? Pubertät ist, wenn Eltern Probleme mit ihren eigens Erzogenen haben. Alles andere wird sowieso eh als Jugendkriminalität klassifiziert. Weiterlesen

Der Fehlanruf

»Mein Smartphone hat verrückt gespielt.«
So ganz wohl war mir nicht, als ich den Text in das Feld für SMS-Nachrichten eintippte.

Bluetooth ist eine wunderbare Sache. Im Mietfahrzeug ersparte es mir ein Kabel und darüber hinaus auch das regionale Musikprogramm der bayrischen Sender. Ich hatte das Fahrzeug mit meinem Smartphone gekoppelt gehabt und als ich das Mietfahrzeug ausgeschaltet und abgeschlossen hatte, war ich der Meinung, dass die Verbindung zwischen meinem Smartphone und der Fahrzeugelektronik ebenfalls gekappt worden wäre. Von irgendwoher vernahm ich das Rufzeichen eines Anrufs. Belustigt schaute ich zurück, um festzustellen, wer denn da mit seiner Fahrzeugfreisprecheinrichtung so laut telefonieren würde. Es kam aus meinem Mietfahrzeug. Neugierig schaute ich nochmals ins Fahrzeug und mein Blick fiel aufs Display. Dort war ein Name angezeigt, den ich kannte. Mir wurde umgehend klar, was das nur bedeuten konnte. Mein Griff zum Smartphone in meiner Jackentasche und die darauf folgenden Wischbewegungen erfolgten in aufgeregter Hektik. Letztendlich konnte ich den Anruf erfolgreich beenden. Dafür rief der Angerufene mich dann zurück. Nur, beantworten konnte ich den Anruf nicht, denn mein Smartphone spielte nicht mit und legte einen Neustart hin. Der klassischer Softwareabsturz.

»Mein Smartphone hat verrückt gespielt.« Mein Satz – dem Angerufenen per SMS zugeschickt – erschien mir eigentümlich schizophren. Weder kann mein Smartphone »spielen« noch hat es ein Bewusstsein, welches als »verrückt« bezeichnet werden kann. Dass nebenbei auch noch die Software des Mietfahrzeugs dem elektronischen Ausschalter nicht Folge leistete, … »Folge leisten«. Wieder so ein Ausdruck, der der seelenlosen Technik Leben einhaucht.
»Mein Smartphone macht auch, was es will«, erhielt ich als Replik auf meine verschickte SMS.

In frühen Jahren hatte ich einen Schachcomputer. Auf Stufe 1 hatte ich regelmäßig gegen das elektronische Schachhirn gewonnen: Schachmatt in fünf Zügen. Wiederholbar. Immer wieder. Er lernte nichts dazu. Nur ab Stufe 5 zickte der Schachcomputer herum und lies mich jedes Mal verlieren. Wiederholt. Immer wieder. Da konnte ich machen, was ich wollte. Geschimpft hatte ich. Gezetert, wenn er mich bis zum letzten Zug ausgerechnet hatte. Fluchend drückte ich auf seine schmale Tastatur wütend herum, wenn er mir meine Beschränktheit aufzeigte. Auf all meine Bitten, all mein Flehen und all mein Verfluchen reagiert er mit berechnender Kühle, die im eindeutigen Widerspruch zur Wärmeleistung im Bereich seiner Stromversorgung stand. Viel hatte ich mit ihm geredet, aber genutzt hatte es überhaupt nicht.

Oder mein Kassettenrekorder. Ich hatte der Radiosendung – einer Live-Übertragung – entgegen gefiebert. Die Sendung begann und ich startete die Aufnahme. Als etwas später nach dem Drücken der Aufnahme-Taste eben diese mit einem trockenen Knacken aus der Verrastung heraus sprang, fand meine intensive Zwiesprache mit dem Gerät statt. Ich öffnete das Kassettenfach und sah von der Kassette das braune Band in das Laufwerk hinein- und herausragen. Ein paar überhastete Handgriffe von mir später – begleitet von diversen Flüchen und Fragen an meinen Kassettenrekorder – hielt ich zwei zerknitterte schmale Bandenden in der Hand und ich fragte den Kassettenrekorder entrüstet, warum er gerade dann das macht, was ich nicht wollte, wenn ich es überhaupt nicht gebrauchen konnte. Der Rekorder reagierte auf meine Anwürfe nicht, obwohl ich der unbeugsamen Meinung war, er müsste mir Rede und Antwort stehen.

»Mein Smartphone macht auch, was es will.« Ich schaute auf das meine und fragte mich, warum ich nicht einfach anriefe. Nur, über was reden? Über ungehorsame Smartphone? So von Smartphone-Besitzer zu Smartphone-Besitzer? Dass Technik einfach nicht gehorchen will? Seinen eigenen Willen dessen Besitzer aufzwingt?
Das Display schaltete sich ab, wurde schwarz. Im Glas des Display erblickte ich ein Gesicht, ein ziemlich ratloses Gesicht umgeben von der Schwärze des reflektierenden Glases. Wenn schwarz die Abwesenheit von Licht ist, so fragte ich mich, wie konnte dann das Glas Schwärze reflektieren. Ein ziemlich abstruser Gedanke. Ich drehte das Display nach unten, das Gesicht verschwand und ich verstaute mein Smartphone wieder in meine Jackentasche.
Später, vor dem Schlafengehen kontrollierte ich, ob es nicht wieder eigenwillig Telefonverbindungen aufgebaut hatte. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ich kontrollierte und entdeckte nichts außergewöhnliches. Ein weiterer abgehender Anruf von mir war nicht im Telefonprotokoll registriert.

Mein Smartphone läuft auf Android-Basis. Es ist nur ein technisches Gerät. Technische Geräte spielen nicht. Sie haben kein verrücktes Bewußt-Sein. »Mein Smartphone hat verrückt gespielt«, war eine opportune Ausrede über diesen unerwarteten Zufall.
In der folgenden Nacht hatte ich das Smartphone abgeschaltet. Rein zur eigenen Sicherheit. Solch ein Zufall sollte sich nicht wiederholen und dabei eventuell mein Schnarchen in die ganze Welt raus telefonieren.
Abgeschaltet. Das Android-Betriebssystem meines Smartphones im Energie-Sparmodus. Sozusagen der Schlafmodus.
Oder doch nicht? Die Akkuanzeige am Morgen danach war erheblich geringer als am Abend zuvor, nachdem ich das Smartphone aufgeweckt hatte. Zufallsanrufe waren nicht verzeichnet. Als das Display nach meiner Überprüfung wieder schwarz wurde, sah mich erneut das Gesicht vom Vortag fragend an. Ich wusste, um welche Frage es sich handelte. Es war der Titel einer Kurzgeschichte, jene von Philip K. Dick: »Do Androids Dream of Electric Sheep?«

Der Zufall hat kein Gedächtnis. Und Smartphones träumen nicht.
Alles andere ist Ausrede.