»Hömma, was trinkst du denn da? Kein Kölsch?«
»Amarone.«
»Was soll das sein? Ama-was? Das ist doch ein Rotwein, das riecht doch ein Blinder mit Krückstock!«
»Das ist einer aus Italien.«
»Also doch so ne Art Chianti für Arme. Und kein Kölsch? Biste krank, oder wat?«
»Cheffe meinte, für dreifuffzich das Glas passt der ganz gut. Er will ihn loswerden.«
»Dreifuffzich das Glas? Hat der Grippe? Herr Oberspielleiter, haste Grippe?«
»Nee, der hat keine Grippe. Die Flasche ist von seiner Schwiegermutter, aber seit vorgestern hat er sich von seiner Frau getrennt und will nichts mehr, was an sie erinnert.«
Der Wirt brachte zwei Stangen Kölsch herbei, stellte sie ab und schaute fragend: »Willst auch’n Glas Amarone? Ist das letzte. Ging von nem Gast unangetastet zurück. Passte ihm nicht zu den Riewekooche.«
»Riewekooche und Rotwein? Das geht auch wirklich nicht. Zu Riewekooche nur en Kölsch. Danke ich bleib beim Kölsch.«
Der Neuankömmling schaute mich fragend an: »Und wie isset?«
»Joot isset.«
»Dann isset joot. Freut mich.«
Er nahm einen langen, tiefen Schluck aus seinem Kölsch, musterte den runter rinnenden Restschaum in seiner leeren Kölsch Stange, stellte sie beiseite, ergriff sich das Kölsch vor mir, murmelte: »Tschuldige, aber auf einem Bein kann man nicht stehen«, bäuerte unterdrückt und musterte mich erneut:
»Und haste das Endspiel gesehen?«
»Von der ersten bis zur letzten Minute. Und du?«
»Ich nicht. Mein Chefredakteur hatte mich verdonnert, jemanden zu imitieren, der die Fußball-WM aus moralischen Gründen boykottiert. Ich sollte darüber schreiben, wie das so ist, wenn man ein Endspiel verpasst.«
»Und?«
»Normal. Keine Autotorsos, keine Menschen, welche irgendwelche Hauptstraßen blockieren und Menschen ans Weiterkommen hindern, keine randalierenden Fans, einfach nichts.«
»Und was haste statt dessen dir angeschaut?«
»‘Der Nussknacker und die vier Reiche’, ‘Ich heirate einen Prinzen’ und ‘Jauch gegen 2022‘.«
»Bildungsfernsehen, ich verstehe.«
»Absolut. Wusstest du, dass Günther Jauch damals, also noch bevor er, du weißt schon, also als er …«
»Nein, wusste ich nicht.«
»Siehste! Die Privaten kommen dem Bildungsauftrag nach, die anderen haben nur für teuer Geld Fußball eingekauft!«
»Echt. Wahnsinn. Das wusste ich nicht.«
»Nebenbei habe ich noch getwittert.«
»Was denn so?«
»Paar Boomern den Marsch geblasen und Straßenklebern mit dem Strafgesetzbuch gedroht.«
»Echt? Wie engagiert.«
»Und Elon Musk supportet. Der hat bei Twitter ein bisschen feucht durchgewischt und den linksgrünen faschistischen Mob rausgespült. «
»Feucht durchgewischt? Also Mitarbeiter per E-Mail entlassen. ‘Durchwischen’ hört sich so positiv an.«
»Twitter ist Abschaum. Ein Moloch für Lebensversager.«
»Und daher spielen Sie dort mit?«
»Sie etwa nicht? Oder sind Sie etwa einer derjenigen, die Twitter abschaffen wollen. Das wäre Cancel culture!«
»Cancel culture? Nur weil dann eine Plattform fehlen würde, auf der allerlei Unsinn ablaichbar wäre?«
»Sie gehören wohl auch zu der linksgrünen Siffkultur?«
»Mitnichten.«
»Sondern?«
»Ich bin mehr passiver Twitter-Nutzer, folge einigen Accounts bewusst und versuche mich aus Schlammschlachten und Hetzer-Blasen heraus zu halten. Bei Twitter geht allerdings inzwischen die Deppenquote derjenigen mit ADHS-Symptomen hoch.«
»Deppenquote. Soso. Das ist also ihre Art der Diskussionskultur.«
»Die Vollkaskodesperados sind im Kommen. Twitter verkommt zu einem Lautsprecher, zu einem Hohlkörper, wie ein Eisenfass: es macht besonders viel Krach, wenn man es mit groben Werkzeugen bearbeitet und den Krach dann als verkannte Symphonie deklariert. Unter heftigem Getrommel.«
»Soso.«
»Es gibt einen weisen Satz: Energie folgt der Aufmerksamkeit. Energy flows, where attention goes. Solchen ADHS-Adepten werde ich das nicht geben, wonach sie lechzen: Energie, gesaugt aus einer ihnen gewidmeten Aufmerksamkeit.«
»ADHS-Adepten. Sie sind ja voll gebildet, sie kennen sich wohl voll aus. Abitur im Schnelldurchgang gemacht, he?«
»Bekannt ist, jeder Hahn kräht auf seinen Haufen Mist, den er als Mittelpunkt der Welt erachtet. Und weil es auf seinen Mist gut klappt, will er seinen Mist auch bei anderen aufhäufeln, um dort herum zu krähen. Und seit Wilhelm Busch und seiner Witwe Bolte wissen wir, Hähne legen keine Eier (auweia), machen aber lange Hälse, wenn sie gierig nach Ködern schnappen, geben danach ein feines Mittagessen ab, wenn man sie grillend richtig zubereitet. Twitter verwandelt es sich in einen riesigen Haufen Mist und lockt damit krähendes Federvieh mit Weltenmittelpunktsehnsucht an. Für Twitter bleibt mir nur noch eines zu konstatieren: Twitter ist maximal mittel punkt«
Ich atmete durch und pausierte. Dabei registrierte ich, dass der Neuankömmling nicht mehr neben mir stand. Er hat mich einfach ohne ein Wort sitzen lassen und befand sich nun am anderen Ende der Theke und unterhielt sich mit einem vierschrötigen Kerl.
»Sie reden viel, wenn der Tag lang ist, oder?«
Der Typ auf meiner anderen Seite grinste mich an.
»Vielleicht.«
»Was trinkst Sie denn da? Kein Kölsch?«
»Amarone.«
»Wenn’s schee macht. Prost. Ist Amarone Blubberwasser?«
»Blubber-was? Nicht, dass ich wüsste.«
»Blubberwasser. Wasser mit Blasen. So wie die ganze Social-Media-Sache an sich.«
»Auch eigene leidvolle Erfahrungen gemacht?«
Er grinste leicht, hob sein Kölsch sinnierend vor seine Stirn und fuhr fort:
»Social Media ist die Befriedigung der Suche nach Anerkennung. Das kann auch negative Befriedigung sein. Aber Hauptsache Anerkennung. Es ist eine Blasen-Welt, in der man sich wunderbar verlaufen kann, wenn einem die real existierende äußere Welt nicht das zollt, was man sich eigentlich erhofft, was man erwartet.«
»Zum Beispiel?«
»15-Minuten-Ruhm. Wissen Sie, wenn die äußere real existierende Welt stimmig ist, dann kommt es bei Social-Media-Nutzern zu Erschöpfungssymptomen durchs ewige Kämpfen-Müssen, durch Frustrationen mit einer nachfolgenden „Geht mir am Bobbes vorbei“-Haltung. Was interessiert es schon, wenn sich einzelne Individuen darüber echauffieren, dass sie nirgendwo geliebt werden, so wie sie sich geben. Oder sich genau so aufführen. Solche benehmen sich wie Boxer, die in der sechsten Runde schon schwer angeschlagen sind und dann von Runde sechs bis Runde zwölf torkelnd alles boxen, was sich irgendwie leicht vor deren zugeschwollenem Horizont bewegt. Und das ohne erkennbare Ergebnisse. Außer das sie selber kurz vorm Exitus stehen.«
»Kurz vorm Exitus nennt sich heute Resilienz.«
»Resilienz, ja. Und dafür werden sie wie Helden gefeiert. „Per aspera ad astra“ ist der Leitspruch jener. Durch Ungemach zu den Sternen. Sie meinen, mutmaßlichen Respekt in der Währung »Aufmerksamkeit« einzukassieren, koste, was es wolle. Auch wenn der Preis dazu von ganz anderen gezahlt werden wird. Hauptsache in deren Bilanz taucht dieser Saldo-Punkt nicht als Negativum auf.«
»War das jetzt nicht ne Aussage zum Angriff auf die Ukraine, oder?«
»Vielleicht eher zu den Soldaten darin. Dort werden Helden am laufenden Frontmeter produziert. Und jeder weiß, Soldaten sind Helden, auch wenn deren letzte Minute nur aus irre Schmerzensschreie besteht, weil eine Granate deren Eingeweide frei gelegt hat oder deren Herz offen ausblutet. Oder weil deren Hirn durch ein Loch in die Augen läuft. Oder wenn von der Zivilistin auf der Straße nach dem Raketeneinschlag nur noch die roten Stöckelschuhe mit den Fußstümpfen drin auf der Straße übrig bleiben. Dann sind sie Helden. Für eine Nacht.«
Ich musterte den Kerl. Anfangs war er mit noch sympathisch. Nur nachdem er so bildlich das Sterben im Krieg skizzierte …
»Schau mal. Wenn ein Infantino – man muss ihn nicht mögen, überhaupt nicht -, also wenn ein Infantino sagt, dass die westliche Welt vor Doppelmoral strotzt, und darauf die getroffenen Hunde bellen „Das muss ausgerechnet dieses korrupte Arsch sagen“, dann kann man später beobachten, wie diese Getroffenen ihre Hände in Unschuld waschen, in jener Suppe, die von anderen ausgelöffelt werden muss. Und spätestens dann taucht Tilly auf und flötet: „Nein, das ist keine normale Suppe, das ist Palmolive, das pflegt die Hände schon beim Spülen in Unschuld“.«
Ich versuchte für mich seine Gedanken zu ordnen und dachte laut:
»Und immer wenn jemand seine Hände in Unschuld wäscht, ..«
Er fiel mir ins Wort:
»… dann hält bereits jemand anders eine Packung Toilettenpapier mit der Gravur DANKE zum Abtrocknen bereit.«
Der Wirt brachte mir ein Kölsch und räumte mein leeres Glas Amarone weg. Ich nahm einen Schluck. In dem Moment entdeckte ich das kleine Fläschchen “Kleiner Feigling” vor mir.
Hier endeten meine Erinnerungen. Dafür startete wohl der Filmriss in meinem 4K-Movie mit Dolby-Atmos-Sound. Live sucks.