Das Corona-Tagebuch: Provinznotizen aus Deutschland Süd bei Südost (30): 35 qm Deutschland

31 Einträge bislang. Ein Monat später. Liest das überhaupt noch wer? Außer Rupi?

Was hat diese Blog-Serie aus mir gemacht? Was hat es aus allen gemacht? Wo stehen wir? Wo gehen wir hin? Wie oft muss man sich solche Fragen in Blogs durchlesen?

Basis dieses Blog-Eintrags: Prunotto Bansella. DOCG. 2017. 750 ml. 14,5% Vol.

Die Baustelle baut. Das Wetter wettert. Der Himmel himmelt. Die Krise kriselt. Die Wohnung mit Aussicht sichtet aus. Draußen dunkelt es dunkel.

Die monatlich bereinigten Arbeitslosenstatistiken, wie jeden Monat. Die monatlich unbereinigten CoVid-19-Statistiken wie immer. Trau, schau, wem du Expertenmeinung zugestehst.

Nach der Veröffentlichung der LEOPOLDINA-Papiere herrschte auf Twitter das Meinungschaos. Die Wischi-Waschi-Ansicht als pure Meinungsansicht gelesen in Auszügen. Oder über Drittquellen. Es hatte die Mehrheit der Twitter-Gemeinde blasenübergreifend erreicht. Das steht außer Frage. Aber wirklich sich selber jene Papiere durchzulesen, war wohl zu anstrengend, um sich eine differenzierte Meinung zu bilden. Das korrelierte zu der Forderung, die Jugend nicht in die Schulen zurück zu schicken. Weil man sich deswegen selber anstecken könnte. Und das gehe gar nicht.

Was eher konvenierte: den gemeinen Wald auch noch an den restlichen drei Ecken anzünden, um recht zu behalten, dass der Wald an allen vier Ecken lichterloh brennt. Besser er brennt an allen vier Ecken als nur an einer Seite. Es geht um Meinungsgewichtung.

Darf ich überhaupt Zweifel gegen die medialen Veröffentlichungen anmerken? Oder bin ich damit automatisch terroristischer Gefährder? Bin ich gar fehlgeleiteter Denker? Natürlich bin ich fehlgeleiteter Denker. Weil ich der Verfechter der populären These “Ein Geisterfahrer? Hunderte davon kommen mir entgegen!” bin?  Vox populi? Verschwörungstheoretiker? Dazu wird man schneller als ein Sonnenuntergang, wenn man sich eh nicht zuvor unter anderen Sonnen gebräunt hat.

Was ist Wahrheit? Es war vor ein paar Tagen Karfreitag. Also. Reicht mir meine Schale mit Wasser, um meine Hände in Unschuld zu baden. Um mich selber von meinen vorherigen  Entscheidungen frei zu sprechen. Vergesst aber bitte die Seife nicht. Ohne Seife, keine Virenbekämpfung. Das hatte in der Bibel eben jener dubioser Pontius Pilatus vergessen gehabt.

Ich bin kein Experte. Ich bin nur Expertenmeinungsverwutzer. Ist das okay? Nein? Dafür wurde ich inzwischen privat als “unmündiger”, als “Mainstreamgläubiger” wegklassifiziert.

Ich gnage an dieser abschätzigen Wertschätzung und versuche mich allein mir gegenüber, mich trotzdem zu rechtfertigen. Es klappt nicht. Ich stehe mir mit meinen Argumenten alleine gegenüber. Die daraus folgenden Grundsatzdiskussionen sind heftig. Weil, ich hätte ja wohl zuvor und überhaupt, da gab es Hinweise und andere hätten bereits gesagt und dann sind die aktuell anerkannten Experten und dann noch die nicht zu ignorierenden Schlagzeilen und dann die anderen die sowieso und ich bin ja eh dumm und unwissend und ohne hi und hott und dort gelesen zu haben eh unmündig und dann noch alles ohne Punkt und Koma geschrieben ist so wie eine Sahne-Creme-Torte anzurühren …

Ich schau aus dem Fenster. Es ist dunkel.

Meine Beleuchtungsanlage dimmt das Licht. “35 Quadratmeter Deutschland”. Null Balkon. Null Garten. Null Wohnungsluxus. Aber mit Blick nach draußen, gen Süden in die Sonne, das ist mein Anrecht an Ausgangsbeschränkung und Kurzarbeit. Hätte ich vormals ordentlich und fleißig gearbeitet, hätte ich wohl jetzt keinen Grund eben diesen anzumäkeln. Ich bin wohl faul, weil ich in der Innenstadt Münchens keinen Balkon oder Garten mir leisten konnte … ich hörte heute, wie großzügig Kollegenschweine dieses erklärten. Nur jene Fete der 50 Studenten wurde verurteilt, jene Party, welche die Münchener Polizei am Sonntag aufgelöst hatte. Unverantwortliches Gesocks. Und alle nickten. Eine normative Kraft des Faktischen ist so leicht herzustellen.

Meine Mutter ist 86. Am Telefon meinte sie, dass ihre Lebensqualität durch die Maßnahmen gekappt wurden. Warum würde ihr niemand deren letzten Jahre mit Kontakt zu anderen gönnen? Durch diese Verordnungen wäre sie noch einsamer als zuvor. Damit sie weiterhin in Isolation leben werde, um dann ohne CoVid-19-Einfluss zu sterben? Sie beklagte sich zuvor über wenige Kontakte. Und jetzt klagt sie durch die Social-Distancing-Parole aller anderen Personen (Bruder, dessen Sohn, dessen Frau, die Nachbarn) noch weniger Kontakte zu haben. Ich versuchte ihr zu erklären, wie brutal der Virus in der Lunge wüten würde und welche irreparablen Schäden der Virus anrichten würde, welche Qualen er hervorrufen könne, dass ihre Abgrenzung ihr paar Lebensjahre mehr bringen würden. Sie meinte, dass sie nicht für die Statistik leben würde, sondern für ihr Leben. Für ihre eigene Lebenserfahrung, für ihren Kontakt von ihr mit der Welt, von ihr Leben in dieser Welt.

Geht es nur darum, die statistischen Zahlen niedrig zu halten? Zahlen vor Kontakte? Ich gerate ins Grübeln. Ich hatte fahrlässig gegenüber meiner Mutter zu erwähnen vergessen, dass durch ihre Einstellung als unverständige 86-jährige die Gesundheitskosten unverantwortlich nach oben getrieben würden. Was nützt mir Tinder, wenn ich es im Sinne der Corona-Maßnahmen nur als reinen gedanklichen Austausch nutzen darf? Tinder ist keine Philosophenplattform, in der man alle elf Minuten seine Meinung wechselt, wenn man ein Foto sieht.

Verdammt. Was ist Gesundheit? Kann mir das mal jemand erklären?

Ist Gesundheit lediglich die Abwesenheit von Krankheit? JA! Genau das ist es. Das Ideal ist Gesundheit, ist die Norm. Und alles was krank ist, ist abnorm. Ausmerzenswert. Hallo? Darum schluck ich Sildenafil, Tadalafil, Vardenafil und andere, damit ich dem Idealbild eines gesunden Mannes entspreche. Schon mal wegen den fehlenden Wirkstoffen der Letzt Genannten von der Bettkante geschubst geworden? Nur mein Problem? Okay. Eure Meinung.

Nein? Nicht? Solltet ihr das nicht einordnen können, dann seid ihr empathisch negativ einzuordnen. Denn deswegen abgeurteilt zu werden, scheint nur für empathisch Unbedarfte ein “normal” zu sein. Denn “normal” braucht das nicht. Nicht in dieser Gesellschaft, welche “empathisch” als Kampfbegriff ohne jegliche Differenzierung nutzt. Wahrscheinlich, um direkt danach die Schublade der narzisstischen Dysfunktionalität zu ziehen.

Was ist gesund? Per definitionem ist “gesund” das, was die Wirtschaft am Wachstum nicht hindert. Seid ihr der gleichen Meinung? Oder habt ihr eine andere Version, welche Neoliberalismus nicht beinhaltet?

Ob man als deutscher apostrophierter abendländischer “Christ” sein Leben einem anderen opfern solle? Also, der Toten-Trage anderer zuvor zu kommen? Über Ostern habe ich die normative Kraft der Argumentation erhalten: Ein Verzicht auf das eigene Leben zugunsten eines anderen Menschen wäre Selbstmord und somit unchristlich. Das wurde mir von berufener christlicher Seite erklärt. Da ich ausgetreten bin, darf ich jene christliche Ansicht eh nicht verstehen. Ich versuchte darauf, gleich Oberst Klein anzurufen und ihm im Sinne des abendländischen Christen-Seins zu seiner Attacke in Afghanistan zu beglückwünschen. “Kein Anschluss unter dieser Nummer.” Der BND hat meinen Anruf wohl registriert.

Egal.

Ich gebe es auf. Es ist mir egal. Genauso wie jene die mir permanent erklärt hatten, ich solle heiraten, weil man dann im Angesichts des Todes nicht alleine sterben würde. Mein Vater starb auf einem Schrottplatz. Da hat es ihm nicht geholfen, dass er zuvor die goldene Hochzeit gefeiert hatte. Er starb einsam an einem Schrotthaufen, wo er wohl etwas für ihn wertvolles entdeckt haben mochte. Die Wiederbelebungsmaßnahmen des Rettungsteam des Rettungswagen kamen eine Stunde zu spät. Muss man heiraten, um sterben zu dürfen? Ab wann ist ein Tod menschenwürdig? Ist das abhängig von einem Virus? Ist menschenwürdig nur dann menschenwürdig, wenn die Statistik keinen Ausschlag zeigt? Was sind die krankheitsbereinigten Corona-Statistiken? Die Arbeitslosen-Statistiken werden immer bereinigt. die der Corona-Erkrankten nicht.

Verzweiflung macht sich bei mir breit. Ich will ja nur verstehen, nur verstehen.Bislang habe ich euch immer und überall verstanden. Nur versteht mich wer? 31 Einträge bislang. Ein Monat später. Liest das überhaupt noch wer?

Ich werde wohl diese täglichen Corona-Blog-Einträge reduzieren. Es ist eh kein Tagebuch-Blog. Nichts bedeutsames. Eher unbedeutsames.

Zudem, weil das kollektive Imperativ nur einen Gedankenkorridor (gemeinhin “framing” genannt) offen lässt.

Ich weiß nicht, ob ich CoVid-19 positiv oder negativ bin, aber in mir reift der Gedanke, als potentieller Muttermörder in die Geschichte einzugehen: indem ich meine Mutter umarme und sie dadurch glücklich mache, aber die Gesellen von Spahn bis hin zu Söder sonst unglücklich mache. Ihr Lebensende soll statistisch positiv in de Daten eingehen, so ist das gesellschaftliche Ansinnen.

Glück ist eine Sache, welche eh auf einem anderem Papier geschrieben steht. Statistisch unerfasst und gesellschaftlich meistzeit als “sektiererisch” gebranntmarkt.

Energie folgt der Aufmerksamkeit.

Ausgangsbeschränkung. Auf 35 Quadratmeter Deutschland.

Will wer tauschen?

Rein statistisch gesehen geht es mir gut, ja, sogar irre gesund …

Über Krankheiten zu reden, ist irgendwie krank. Entweder man ist davon betroffen und redet davon, oder man ist nicht betroffen und redet deswegen noch lieber drüber. Der erstere Fall tritt mit zunehmendem Alter als Kommunikationsbasis immer gehäufter auf. Der zweite Fall immer dann, wenn Zeitungen ihre kranken Aufmacher als Eye-Catcher für deren Käufer platzieren.

Von Kindheit auf an hatte ich gelernt, dass Krankheit etwas urchristliches ist. Das Thema an sich gehört ebenso zum christlichen Abendland wie das Amen in der Kirche. Schuld und Sühne werden auch als moralische Instanzen bei der Beurteilung einer Krankheit heran gezogen.

Als Mitte der 80er AIDS zum Thema wurde, gab es im Münchener Postamt gegenüber dem Hauptbahnhof ein BTX-Terminals, über den die Post mittels Datex-J das erste öffentliche Internet aufbaute. Der Terminal war damals praktisch. Wetter, Lottozahlen, Beate Uhse Angebote und vieles andere Querbeet war darüber abzurufen. Allerdings stand dort nur ein Terminal, so dass ich öfters warten musste, bis ich an der Reihe war.

Eines Tages beherrschte der HI-Virus mal wieder die Schlagzeilen des Boulevards. Es wurde von einer bestimmten Zeitung vermutet, dass bereits eine Ansteckungsgefahr gegeben sei, würde ein HIV-infizierter im gechlorten Wasser eines Schwimmbades vor einem Menschen schwimmen. An jenem Tag wollte ich wieder zum BTX-Terminal. Wie üblich war er belegt. Ein Mann bediente ihn. Seine Finger hatte er sorgsam mit Papiertaschentücherstreifen abgedeckt. Und immer wenn ihm ein Streifen beim Tippen auf der Tastatur herunter fiel, riss er von einem Papiertaschentuch einen neuen Streifen ab und umwickelte den blank gewordenen Finger, um beim Tippen fortzufahren. Als er ging, öffnete er die damalige, große Flügeltür der Post, wiederum geschützt durch jeweils ein Papiertaschentuch. Er wirkte auf mich skurril. Für mich war zu jener Zeit HIV genau so irreal wie all die anderen Krankheiten, über die sich immer nur alte Menschen unterhielten.

HIV ist das direkte Beispiel, dass Krankheiten hier viel mit Schuld zu tun haben. Eine Krankheit sollte immer die Kehrseite einer Schuld darstellen. Der ethisch christliche Januskopf: Wer Schuld hatte, sollte gefälligst auch sühnen. Kardinal Meisner redete schon damals von AIDS als Geisel für sexuelles Fehlverhalten. Wobei er mit Fehlverhalten definitiv hierbei nicht die pastorale Pädophilie meinte, sondern Homosexualität oder Promiskuität.

Auch in der elterlichen Pädagogik der Gläubigen, Laizisten und Atheisten von gestern bis heute spielt die Krankheit in der gewollten Symbiosefalle von Schuld und Sühne seine Rolle. Du fühlst dich fiebrig? Bist du etwa gestern barfüßig gelaufen? Kein Wunder. Da bist du ja auch selber Schuld. Kopfschmerzen? Eigene Schuld. Zu viel gesoffen am Vorabend, oder? Oder etwa mal wieder in Zugluft sich aufgehalten? Schnupfen? Kein Wunder, du hast ja auch gestern nicht deine Jacke am frühen Morgen tragen wollen. Und so weiter und so fort.

Schuld und Sühne.
Aber nicht nur das elterliche Haus meiner oder der meiner Freunde haben mir das wie die mittägliche deutsche Kartoffel eingetrichtert. Fernsehen, Radio, Lehrer, Bekannte. Alle führten die Ursache als Abtragen einer Schuld und als verdiente Sühne zurück.

Später, im Job und als Erwachsener hatte sich die Situation ein wenig gewandelt. Schuld und Sühne als naturgegebene Seiten der gleichen Münze reichen nicht mehr aus. Wenn schon Schuld, so der allgemeine Gedanke, dann reichen die Naturgesetze als Sühne nicht. Eine äußere Instanz wurde erforderlich, um das Auftauchen dieser Währungseinheit in andere Sanktionen umzumünzen.
Krankheitsbedingte Kündigungen sind zwar nicht erlaubt, aber dafür interessiert sich mancher Arbeitgeber nicht die Bohne. Krankheit ist der wirtschaftliche Gegner einer auf Produktivität bedachten Wirtschaftsphilosophie. Krankheit, definiert als Antipode eines Wachstumsgedankens ist „persona non grata“. Unerwünscht. Statistisch wird der Krankenstand inzwischen bekanntlich gemessen und damit ein Vergleich zu einem „vorher“ ermittelt. In wirtschaftlich schlechten Zeiten sinkt der statistische Krankenstand, weil Kranke um ihren Arbeitsplatz fürchten. Nur, Kranke sind bekanntlich nicht nur dann krank, wenn sie in Statistiken auftauchen. Das ist aber Arbeitgeberverbänden und Politik wiederum nicht so wichtig. Wichtig ist, was schwarz auf weiß für sie zu lesen ist. Z.D.F. ist das Schlagwort: Zahlen, Daten, Fakten.

Gesundheit wird heutzutage durch die Abwesenheit von Krankheit definiert. Für Krankheit soll der Kranke dann auch selbstverantwortlich zahlen. Schuld und Sühne tauchen immer wieder als treibendes Motiv auf. Eine „Mutter Theresa“-Einstellung wird als komplett kontraproduktiv angesehen, altruistische Tendenzen als weltfremd gebrandmarkt. Für Verneiner des gesellschaftlichen Sozialgedankens wird dann das Konstrukt des „Gutmenschen“ als Keule geschwungen, um Menschen mundtot zu machen. Krankheiten werden als vermeidbar postuliert und das Auftauchen als Verschulden des Individuums gewertet. Und darum ist es auch so einfach über die Krankheiten anderer zu reden.

Und durch diese Schule bin auch ich gelaufen. Also rede ich lieber nicht drüber. Andererseits, wenn mir jemand begegnet und mich mit einem „Wie geht’s“ begrüßt, erwartet mein Gegenüber nicht, dass ich über meine Zipperleins referiere und aus meiner Krankenakte vorlese. Das will niemand hören.
Als Rudi Carell von Metastasen durchsetzt, seinen letzten Auftritt hatte, waren alle erleichtert, dass er nicht über seine Krebskrankheit lamentierte und stattdessen witzelte. Wenn mir Monica Lierhaus Sonntags mit ihren „Platz an der Sonne“-Losnummern über den Bildschirm flimmert, dann betrachte ich meine Fernbedienung immer mit einem „Drück mich“-Gedanken. Dass Gabi Köster einen Schlaganfall hatte, war auch nur in soweit akzeptabel für mich, als dass ich nicht durch Funk, Fernsehen oder Feuilleton davon behelligt wurde.

Mein Alter steigt und mein Körper zeigt immer mehr die üblichen verschleissbedingte Anfälligkeiten für das, was mir den Unterschied zwischen gesund und nicht-gesund immer deutlicher werden lässt. Zwischenzeitlich wird ebenfalls über die Erhöhung des Rentenalters auf 69 Jahre nachgedacht. Dann denke ich auch drüber nach, ob ich es schaffen werde, gesund und ohne größere Handicaps ins Rentenalter zu gelangen. Oder geschweige denn von der Tatsache, dass die männliche statistische Lebenserwartung bei etwas über 70 Jahre liegt. Wenn jemand seinen 80. Geburtstag feiert, dann muss es rein statistisch auch jemanden geben, der stirbt und noch keine 65 Jahre alt wurde und rentenauszahlungsneutral ablebt. Dabei steigt mit zunehmenden Alter natürlicherweise das Risiko zu erkranken.

In jungen Jahren war es mir egal, ob ich gesund oder krank war. Egal was, Hauptsache aktiv, und nicht immobil und bettlägrig. Und jetzt? Es ist nicht mehr so einfach, gesund zu sein. Denn – wie ich schon schrieb – „gesund“ definiert sich als Abwesenheit des Zustandes „krank“. Als Anwesenheit der Verschuldung des Zustandes „krank“. Ein „bisschen krank“ hat die Wertigkeit von ein „bisschen schwanger“: so etwas hat keinen Platz in der „gesunden“ Denke eines Menschens. Deswegen gibt es auch so viele Medikamente, um dieses „ein bisschen krank“ abzustellen. Das Entkommen des Krankseins geht also mit einem Zustand des Medikamenten-Konsumierens Hand in Hand. Das Medikament als proaktives Behandeln von potentiellen Schuldzuständen. Zu Risiken und Nebenwirkungen sollen wir ja eh unseren interaktiven Beichtvater – dem Arzt oder Apotheker – fragen. Wobei eine solche Frage mit direkten Kosten („Sühne“) verbunden ist, welche dann Politiker wieder von einer „Kostenexplosion“ reden lässt. Und bei Zuhörenden ein Schuldgefühl hervor ruft. Statt sich einzugestehen, wir sind alle kleine Sünderlein („… ’s war immer so, ’s war immer so …“), herrscht das Schuldgefühl vor und damit die Suche nach Vermeidung einer Sühne (“ … der Herrgott wird es uns bestimmt verzeih’n, ’s war immer, immer so …“). Also wird die Krankheit verschwiegen, unterdrückt und verdrängt.

Noch fühle ich mich nicht „krank“. Aber auch nicht wirklich so „gesund“ wie damals. Der Zahn der Zeit nagt auch an mir und meinem Körper und meinen Organen. Verdrängung ist auch mein Prinzip. Ich fühle mich ungesund gesund. Oder wie andere vielleicht sagen mögen „krankhaft gesund“ …

Wie lange noch?

EHEC: P.A.N.I.K. (Teil 2)

Irgendwo in Süddeutschland in der berühmt berüchtigten Herr-Gotts-Früh:

0.30:
Stehe mit meinem Kameraden am Tresen. Tanken uns zwei Weißbier. Wir kommen ins Philosophische. Er meint, Bier wird aus Getreide hergestellt, welches mit Gülle gedüngt wurde. Ich widerspreche. Das Bier schmeckt gar nicht nach Gülle. Er gibt mir recht.

0.50:
Kellnerin kassiert uns ab. Will wegen der zwei Schweinsbraten noch den Rohkostsalat berechnen. Wir widersprechen heftigst. Kellnerin ist sauer. Sie meint, trotz EHEC müssten wir auch Rohkostsalate zahlen. Wir erhalten Unterstützung vom Nachbartisch. Die hätten es auch nicht gezahlt. Wirt kommt und beruhigt aufgeladene Stimmung mit sechs Gläsern Grappa und Gurkenhäppchen. Zweimal direkt hintereinander. Zur Beruhigung der Gemüter. Mein Kamerad und ich sind selig.

0.59:
Verlassen die Kneipe. Kellnerin ist sauer, weil sie ihr geforderte Trinkgeld von uns nicht erhielt. Hatten ihr stattdessen einen Gutschein für den eigenen hauseigenen Salat ausstellen wollen. Fand sie gar nicht lustig.

1.08:
Wanken volltrunken über die Straße. Zwei Porsche Panamera konnten uns nur knapp ausweichen. Wir geraten in Sorge, dass vielleicht Porschefahrer nicht wirklich das freie Leben achten, sondern maximal die freie Fahrt. Nehmen noch einen Schluck aus den Weißbiergläsern, die wir mitgenommen hatten. Bezahlt ist schließlich bezahlt.

1.14:
Meinem Kumpel fällt ein roter Wollbeutel am Straßenrand auf. Er dreht in um und es fallen ein Salatkopf, zwei Gurken und diverse Tomaten heraus. Ungekocht. Rohkost. Ich gerate in Panik. 110.

1.19:
Sind umringt von Lalü´, Lala und Blaulicht. Bestaunen die gesamte Flotte der Münchener Polizeifahrzeuge. Hatte mich im Innern gewarnt gehabt, ich solle die Polizei nicht verständigen.

1.31:
Der Häuserblock muss wohl definitiv evakuiert worden sein. Nur mein Kumpel und ich, wir dürfen uns nicht von der Stelle rühren. Schon seit dem Notruf. Krampf in der rechten Wade. Halte aber tapfer still. Befehl ist Befehl.

1.35:
Menschen in weißen Vollkörperkondomen haben mit Pinzetten und Petrischalen an uns herum gefummelt. Ein Reporter liess uns Walkie-Talkies geben. Er will von der Kirche gegenüber mit uns ein Interview führen. Er erwähnte nur kurz, er könne uns an BILD verkaufen.

1.59:
Mein Kumpel und ich sind allein auf weiter Flur. Zu unseren Füßen liegt das Rohgemüse. Unangetastet. Ein Mikrofon an einem gigantischen Galgenausleger wird über uns reingeschwenkt. Man sagt uns, das Interview sei für den ARD-Brennpunkt am nächsten Abend. Zweitverwertungsrechte hätte im übrigen das ZDF. Wir sollten uns also bei den Antworten konzentrieren.

2.55:
Jemand in einem weißen Ganzkörperkondom hat uns ein Fernseher hingestellt. Er meinte, in 5 Minuten seien wir auf Sendung bei RTL2. Eine Sondersendung zu EHEC.

3.25:
Es wird uns langweilig. Interview fand nicht statt. Fernseher ist noch immer ohne Strom.

3.53:
Vor zehn Minuten wurde Anti-Terrorbekämpfungstruppe der GSG-9 per Hubschrauber vor uns abgeseilt. Mit Atemschutzmasken und ABC-Anzügen. Man wolle die Bevölkerung schützen, drohnte es uns aus den Schutzanzügen entgegen. Dabei wedelten sie herrisch mit ihren MP7 herum.

4.07:
Mein Kumpel meint, er müsse kotzen.

4.08:
Erkläre ihm, dass es momentan weder der Ort noch die Zeit sei, sich in solchen niedrigen Gefilden der körperlichen Äußerung zu begeben. Er solle sich gefälligst mannhaft beherrschen.

4.10:
Er hat es getan. Direkt übers Gemüse. Niemand hat es gesehen. Unsere Umgebung ist isoliert. Still.

4.29:
Mein Kumpel erklärt, er langweile sich. Außerdem seien ihm die Flutlichtscheinwerfer, die inzwischen hier alles ausleuchten, zu heiß. Er würde jetzt gehe. Ich versuche ihm zu erklären, dass es für die Erforschung des EHEC-Bakteriums unheimlich wichtig sei, würde er an Ort und Stelle bleiben. Er würde sich in dem ehrenvollen Dienste der Forschung stellen.

4.31:
Mein Kumpel ist gegangen. Einfach so. Ich stehe allein vor dem Gemüse. Niemand zu sehen. Offenbar alles abgesperrt. Ich langweile mich.

4.35:
Habe mich klamm heimlich aus dem Scheinwerferlicht vom Gemüse entfernt. Stehe in der verdeckten Einfahrt eines Gemüsehändlers. Sehe wie einige GSG-9-Bewaffnete mich mit Taschenlampen beim Gemüse suchen und dann dort etwas ablegen.

4.37:
Eine Explosion verreißt die Stille der Nacht. Die haben das Gemüse gesprengt!!!!

4.43:
Komme zurück nach Hause. Lag fast direkt um der Ecke. Stelle den Rechner an und schalte Internet-Radio ein. Richard Clayderman am Piano. Für Elise. Das beruhigt.

4.44:
Unterbrechung! Sondermeldung!
„Heute morgen gelang es Spezialkräfte der GSG9 eine Ansammlung von Rohgemüse unschädlich zu machen. Gegen 3.45 hatten aufmerksame Bürger einen Beutel mit ungewaschenen Rohgemüse entdeckt und vermutet, dass es sich hierbei potentielle Überträger des EHEC-Bakteriums handeln könne. Um eine ernsthafte Bedrohung der Bevölkerung zu vermindern, sprengten Spezialeinsatzkräfte und Sprengstoffexperten der GSG9 die Gemüseanhäufung. Bei direkten Untersuchungen am Sprengort konnten metallische Teile sicher gestellt werden. Diese Spuren stammten nicht von der Sprengung her und müssten wohl zuvor in das Gemüse eingearbeitet worden sein. Es seien Federelemente und uhrenähnliche Rückstände sichergestellt worden. Ein terroristischer Hintergrund durch die Freisetzung von Rohgemüse mit Hintergrund zur nachhaltigen Schädigung der Bevölkerung der Stadt gilt als nicht mehr ausgeschlossen“

4.52:
Telefon klingelt. Bin fast schon am Schlafen und kann ihm nicht mehr antworten. Mein Kumpel wollte wissen, ob ich seine Armbanduhr gesehen hätte. …

Wasserstandsmeldung

Und nun mal die aktuelle Wasserstandsmeldung:
Es stand mir bis zum Hals.
Gesundheitlich.
Grippe.

Jetzt könnt Ihr Euch ja denken, was in solchen Fällen bei Ärzten passiert. Die ziehen einen sofort vom Arbeitsmarkt ab und stecken diesen dann für die restliche Woche ins Bett.
Gelbe Karte sozusagen. Für Arbeitsgeber und Krankenkasse, zu verteilen von Arbeitnehmer. Damit alles seine Richtigkeit hat und nicht Arbeitnehmerlein wegen Überschreitung von irgendwelchen Kulanzgrenzen vom Platz gepfiffen wird.

Jetzt hat mein Arzt sofort 1 und 1 auseinandergezählt und meinte:
»Ha! 1 ´n 1! Dat hammse! Sischer dat!«
Abstrich gemacht, Blut gezogen, alles ins Labor geschickt und paar Tage später zerknirscht am Telefon:
»Hönnse mal! Jeet et ihne wieder? Sie haben die Schweinegrippe nicht. Is´n ganz normaler Grippevirus. Und überhaupt, sie haben schon Schweinegrippen-Antikörper in ihrem Blut. Woher haben Sie die denn her? Hatten Sie überhaupt schon die H1N1-Grippe gehabt? Warum hammse nichts gesagt? Man hätte Ihnen doch helfen könne.«

Ja, das stimmt. Offenbar hatte ich die schon routinemäßig abgearbeitet gehabt. Abgewickelt sozusagen. Anfang November. Es war wie eine leichte Erkältung vorüber gegangen. Hatte mich nicht wirklich großartig gestört. Dauerte auch nur von Freitag Abend bis Sonntag Mittag.
Von einem Kind habe ich mir die Gruppe partywilliger H1N1-Viren eingefangen. Aber der Körper des Kindes hatte ebenfalls kein Bock auf Party. Lediglich leichte Erkältungssymptome machten sich bemerkbar. Da waren die H1N1-Viren wohl beleidigt und sind dann zur nächsten Party-Location gezogen. Zu mir. Wieder so eine Virenspassbremse. Da war nichts gravierendes in meinem Körper zu bemerken. H1N1? Sicher, H1N1-Light sozusagen.

14 Tage später hatte sich ein Kollege das volle H1N1-Vergnügen abgeholt: Samstag ging es los, Montag war er schon krank und am Dienstag Morgen vermeldete er den H1N1-Laborbefund.

Und am Dienstag Vormittag kam dann das Sondereinsatzkommando mit Desinfektionsmittel und hat seinen Arbeitsplatz geputzt. Einfach so. Nachdem er schon 3 1/2 Tage nicht mehr am Arbeitsplatz was angefasst hatte. Und die Türklinken wurden desinfeziert. Alle. Sicher ist sicher. An dem Tag titelte Kai Diekmanns BILD auch schon wieder die nächste H1N1-Weltuntergangsmeldung: Die zweite Welle sei im Anmarsch und es sei erforderlich, noch mehr zu desinfizieren.

14 Tage lag der Kollege flach. Jetzt lacht er wieder und freut sich: Impfung gespart. Von mir hatte er es aber nicht. Die Viren hatte er sich offenbar in vollen Zügen der DB reingepfiffen.

Hm.
Ich hab jetzt einen taktischen Fehler begangen. In meiner Firma hätte ich mich jetzt als H1N1-Leidender outen sollen. Mein Schreibtisch wäre endlich mal wieder geputzt worden. Zu spät. Ne stinkelig piefig normale Grippe entlockt nicht mal nem Schwein ein Grunzen.
Egal.

Und darum jetzt nochmals die aktuelle Wasserstandsmeldung:
Ich han‘ den Kanal noch lange net voll.
Wenn ich schon sowas wieder schreiben kann, dann werd‘ ich noch ne ganze Menge leben.