Über Krankheiten zu reden, ist irgendwie krank. Entweder man ist davon betroffen und redet davon, oder man ist nicht betroffen und redet deswegen noch lieber drüber. Der erstere Fall tritt mit zunehmendem Alter als Kommunikationsbasis immer gehäufter auf. Der zweite Fall immer dann, wenn Zeitungen ihre kranken Aufmacher als Eye-Catcher für deren Käufer platzieren.
Von Kindheit auf an hatte ich gelernt, dass Krankheit etwas urchristliches ist. Das Thema an sich gehört ebenso zum christlichen Abendland wie das Amen in der Kirche. Schuld und Sühne werden auch als moralische Instanzen bei der Beurteilung einer Krankheit heran gezogen.
Als Mitte der 80er AIDS zum Thema wurde, gab es im Münchener Postamt gegenüber dem Hauptbahnhof ein BTX-Terminals, über den die Post mittels Datex-J das erste öffentliche Internet aufbaute. Der Terminal war damals praktisch. Wetter, Lottozahlen, Beate Uhse Angebote und vieles andere Querbeet war darüber abzurufen. Allerdings stand dort nur ein Terminal, so dass ich öfters warten musste, bis ich an der Reihe war.
Eines Tages beherrschte der HI-Virus mal wieder die Schlagzeilen des Boulevards. Es wurde von einer bestimmten Zeitung vermutet, dass bereits eine Ansteckungsgefahr gegeben sei, würde ein HIV-infizierter im gechlorten Wasser eines Schwimmbades vor einem Menschen schwimmen. An jenem Tag wollte ich wieder zum BTX-Terminal. Wie üblich war er belegt. Ein Mann bediente ihn. Seine Finger hatte er sorgsam mit Papiertaschentücherstreifen abgedeckt. Und immer wenn ihm ein Streifen beim Tippen auf der Tastatur herunter fiel, riss er von einem Papiertaschentuch einen neuen Streifen ab und umwickelte den blank gewordenen Finger, um beim Tippen fortzufahren. Als er ging, öffnete er die damalige, große Flügeltür der Post, wiederum geschützt durch jeweils ein Papiertaschentuch. Er wirkte auf mich skurril. Für mich war zu jener Zeit HIV genau so irreal wie all die anderen Krankheiten, über die sich immer nur alte Menschen unterhielten.
HIV ist das direkte Beispiel, dass Krankheiten hier viel mit Schuld zu tun haben. Eine Krankheit sollte immer die Kehrseite einer Schuld darstellen. Der ethisch christliche Januskopf: Wer Schuld hatte, sollte gefälligst auch sühnen. Kardinal Meisner redete schon damals von AIDS als Geisel für sexuelles Fehlverhalten. Wobei er mit Fehlverhalten definitiv hierbei nicht die pastorale Pädophilie meinte, sondern Homosexualität oder Promiskuität.
Auch in der elterlichen Pädagogik der Gläubigen, Laizisten und Atheisten von gestern bis heute spielt die Krankheit in der gewollten Symbiosefalle von Schuld und Sühne seine Rolle. Du fühlst dich fiebrig? Bist du etwa gestern barfüßig gelaufen? Kein Wunder. Da bist du ja auch selber Schuld. Kopfschmerzen? Eigene Schuld. Zu viel gesoffen am Vorabend, oder? Oder etwa mal wieder in Zugluft sich aufgehalten? Schnupfen? Kein Wunder, du hast ja auch gestern nicht deine Jacke am frühen Morgen tragen wollen. Und so weiter und so fort.
Schuld und Sühne.
Aber nicht nur das elterliche Haus meiner oder der meiner Freunde haben mir das wie die mittägliche deutsche Kartoffel eingetrichtert. Fernsehen, Radio, Lehrer, Bekannte. Alle führten die Ursache als Abtragen einer Schuld und als verdiente Sühne zurück.
Später, im Job und als Erwachsener hatte sich die Situation ein wenig gewandelt. Schuld und Sühne als naturgegebene Seiten der gleichen Münze reichen nicht mehr aus. Wenn schon Schuld, so der allgemeine Gedanke, dann reichen die Naturgesetze als Sühne nicht. Eine äußere Instanz wurde erforderlich, um das Auftauchen dieser Währungseinheit in andere Sanktionen umzumünzen.
Krankheitsbedingte Kündigungen sind zwar nicht erlaubt, aber dafür interessiert sich mancher Arbeitgeber nicht die Bohne. Krankheit ist der wirtschaftliche Gegner einer auf Produktivität bedachten Wirtschaftsphilosophie. Krankheit, definiert als Antipode eines Wachstumsgedankens ist „persona non grata“. Unerwünscht. Statistisch wird der Krankenstand inzwischen bekanntlich gemessen und damit ein Vergleich zu einem „vorher“ ermittelt. In wirtschaftlich schlechten Zeiten sinkt der statistische Krankenstand, weil Kranke um ihren Arbeitsplatz fürchten. Nur, Kranke sind bekanntlich nicht nur dann krank, wenn sie in Statistiken auftauchen. Das ist aber Arbeitgeberverbänden und Politik wiederum nicht so wichtig. Wichtig ist, was schwarz auf weiß für sie zu lesen ist. Z.D.F. ist das Schlagwort: Zahlen, Daten, Fakten.
Gesundheit wird heutzutage durch die Abwesenheit von Krankheit definiert. Für Krankheit soll der Kranke dann auch selbstverantwortlich zahlen. Schuld und Sühne tauchen immer wieder als treibendes Motiv auf. Eine „Mutter Theresa“-Einstellung wird als komplett kontraproduktiv angesehen, altruistische Tendenzen als weltfremd gebrandmarkt. Für Verneiner des gesellschaftlichen Sozialgedankens wird dann das Konstrukt des „Gutmenschen“ als Keule geschwungen, um Menschen mundtot zu machen. Krankheiten werden als vermeidbar postuliert und das Auftauchen als Verschulden des Individuums gewertet. Und darum ist es auch so einfach über die Krankheiten anderer zu reden.
Und durch diese Schule bin auch ich gelaufen. Also rede ich lieber nicht drüber. Andererseits, wenn mir jemand begegnet und mich mit einem „Wie geht’s“ begrüßt, erwartet mein Gegenüber nicht, dass ich über meine Zipperleins referiere und aus meiner Krankenakte vorlese. Das will niemand hören.
Als Rudi Carell von Metastasen durchsetzt, seinen letzten Auftritt hatte, waren alle erleichtert, dass er nicht über seine Krebskrankheit lamentierte und stattdessen witzelte. Wenn mir Monica Lierhaus Sonntags mit ihren „Platz an der Sonne“-Losnummern über den Bildschirm flimmert, dann betrachte ich meine Fernbedienung immer mit einem „Drück mich“-Gedanken. Dass Gabi Köster einen Schlaganfall hatte, war auch nur in soweit akzeptabel für mich, als dass ich nicht durch Funk, Fernsehen oder Feuilleton davon behelligt wurde.
Mein Alter steigt und mein Körper zeigt immer mehr die üblichen verschleissbedingte Anfälligkeiten für das, was mir den Unterschied zwischen gesund und nicht-gesund immer deutlicher werden lässt. Zwischenzeitlich wird ebenfalls über die Erhöhung des Rentenalters auf 69 Jahre nachgedacht. Dann denke ich auch drüber nach, ob ich es schaffen werde, gesund und ohne größere Handicaps ins Rentenalter zu gelangen. Oder geschweige denn von der Tatsache, dass die männliche statistische Lebenserwartung bei etwas über 70 Jahre liegt. Wenn jemand seinen 80. Geburtstag feiert, dann muss es rein statistisch auch jemanden geben, der stirbt und noch keine 65 Jahre alt wurde und rentenauszahlungsneutral ablebt. Dabei steigt mit zunehmenden Alter natürlicherweise das Risiko zu erkranken.
In jungen Jahren war es mir egal, ob ich gesund oder krank war. Egal was, Hauptsache aktiv, und nicht immobil und bettlägrig. Und jetzt? Es ist nicht mehr so einfach, gesund zu sein. Denn – wie ich schon schrieb – „gesund“ definiert sich als Abwesenheit des Zustandes „krank“. Als Anwesenheit der Verschuldung des Zustandes „krank“. Ein „bisschen krank“ hat die Wertigkeit von ein „bisschen schwanger“: so etwas hat keinen Platz in der „gesunden“ Denke eines Menschens. Deswegen gibt es auch so viele Medikamente, um dieses „ein bisschen krank“ abzustellen. Das Entkommen des Krankseins geht also mit einem Zustand des Medikamenten-Konsumierens Hand in Hand. Das Medikament als proaktives Behandeln von potentiellen Schuldzuständen. Zu Risiken und Nebenwirkungen sollen wir ja eh unseren interaktiven Beichtvater – dem Arzt oder Apotheker – fragen. Wobei eine solche Frage mit direkten Kosten („Sühne“) verbunden ist, welche dann Politiker wieder von einer „Kostenexplosion“ reden lässt. Und bei Zuhörenden ein Schuldgefühl hervor ruft. Statt sich einzugestehen, wir sind alle kleine Sünderlein („… ’s war immer so, ’s war immer so …“), herrscht das Schuldgefühl vor und damit die Suche nach Vermeidung einer Sühne (“ … der Herrgott wird es uns bestimmt verzeih’n, ’s war immer, immer so …“). Also wird die Krankheit verschwiegen, unterdrückt und verdrängt.
Noch fühle ich mich nicht „krank“. Aber auch nicht wirklich so „gesund“ wie damals. Der Zahn der Zeit nagt auch an mir und meinem Körper und meinen Organen. Verdrängung ist auch mein Prinzip. Ich fühle mich ungesund gesund. Oder wie andere vielleicht sagen mögen „krankhaft gesund“ …
Wie lange noch?
Du hast völlig Recht.
Die katholische Kirche als Urwiege des christlichen Abendlandes hat das ganze zu einer abstrusen Kunstform erhoben und dem ganzen Anwender noch einen Seelen-Wischmob mitgegeben.
Aber auch die evangelische steht dem im nichts nach. Zwar hat sie in ihren Räumen keinen stilisierten Fahrstuhl gen Himmel („Beichtstuhl“) zur temporären Gewissensberuhigung, dafür hat sie einen generellen Freispruchtag („Buß- und Bettag“).
Ich kenne inzwischen auch andere christliche Glaubensrichtungen von innen, die hier wahrscheinlich unter Pfingstler oder Adventisten oder so eingeordnet werden. Selbst deren Anhänger haben die alt-testamentarische „Schuld und Sühne“-Denke als Reflex eingeübt.
Dass im neu-testamentarischen Sinne jenes „Schuld und Sühne“ durch ein „Love and care“ (subsumiert und bekannter unter dem Begriff „Nächstenliebe“) abgelöst wurde, das haben die wenigsten nicht drinne. „Nächstenliebe“ wird nicht wirklich goutiert und derjenige, der in dieser Richtung seine Denke ausrichtet, der wird als „Gutmensch“ oder weltfremd abgecancelt. Das ist dann immer eine Bankrotterklärung an den Solidaritätsgedanken und wen wundert es, wenn die Gesellschaft als kalt und veroht beschrieben wird.
Nur, dass erst die evangelische christliche Grundeinstellung Adolf Hitler und seinen Schergen eine brutale Selbstverwirklichung in diesen Breitengraden ermöglichte, das festzustellen, das ist nicht opportun. Selbst das System der DDR konnte auf dem evangelischen Boden der „Schuld und Sühne“-Philosophie prächtig gedeihen. Katholen sind da schwieriger, weil die nur einen weltlichen Vorgesetzten mit Allmacht akzeptieren. Lediglich wenn man sich lateinamerikanische und iberische Länder und deren Ex-Diktaturen anschaut, dann kann es nicht wirklich bestätigt werden; für unsere Breitengrade ist aber besonders die evangelische Einstellung der Neuzeit sehr fruchtbar für Diktaturen gewesen.
Nebenbei:
Ich halte es mit den Spanier, die sehr deutlich artikuliert hatten, was die von einem Papstbesuch hielten. Jeder Schuldenberater würde einem Schuldner eine reinsemmeln, würde der beim Besuch eines direkten verwandten gleich Hunderte von Euros raushauen, damit der Vater oder die Mutter bei sich als Besuch kommen könnten. Da lesen wir täglich die Klagelieder von hohen Verschuldungen und dass alles vor dem Abgrund deswegen steht und was passiert? Wenn der Papst kommt, dann funktioniert die Schuldenbremse auf einmal nicht mehr und dann sind plötzlich Millionen vorhanden, die andere Hilfsbedürftige dringend benötigen würden, denen aber ganz im Sinne des Wiegegedankens eines christlichen Abendlandes mit einem „Ihr seid selber Schuld, geht gefälligst arbeiten“ solche Subventionen vorenthalten wird. Das nenen die offiziellen mit einer halb-offiziellen Entschuldigung „Schuldenbremse“ für Arme ..
„Kasperleauftritt“ ist genau der richtige Begriff. Soll der Papst doch die Millionen mitbringen, damit der Besuch kostenneutral für den Steuerzahler abläuft. Dann könnte ich jederzeit über ein „Willkommen“ nachdenken. Aber es ist nicht nett, jemanden mit erhöhten Ausgaben zu belasten, der eh schon finanziell am Krückstock humpelt. „Nett“ ist dabei noch sehr, sehr euphemistisch. Eher ganz das Gegentum …
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Bis heute impft die Katholische Amtskirche das Schuldbewusstsein in die Köpfe ihrer blutjungen Zwangsmitglieder. Für alles Böse in der Welt sollen sie sich aufgrund der Erbsünde von Adam und Eva schuldig fühlen.
»Schuld, Schuld, Schuld« hallt es heute auch noch in meinen Ohren! Wir wurden mit religiös begründeten Ge- und Verboten überzogen, und dabei blieben uns die Kleriker die alles entscheidende Frage nach dem Gottesbeweis schuldig. Diese Gehirnwäsche der Katholiken ist so wirkungsvoll, dass sie als lebenslange Last getragen werden muss.
Übrigens für mich ein Grund, nachhaltig die Trennung von Kirche und Staat in der BRD zu verlangen. Das täte unserem Bildungssystem gut, das würde die Haushaltskassen schonen, und der Steuerzahler müsste nicht Millionen für den Kasperleauftritt des Papstes im Bundestag und im öffentlichen Raum blechen.
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