Notizen aus der Provinz

"Man muss die Leute belügen, damit sie die Wahrheit herausfinden." (Wolfgang Neuss)

Notizen aus der Provinz

Titten, Thesen und Temperamente

Es war wohl gestern einer der denkwürdigsten Vor-Fußball-WM-Tage Deutschlands. Ich habe in meinem Leben schon einige WMs miterlebt, aber das war wirklich so in dieser Weise noch nie geschehen:

ARD Brennpunkt, ZDF Aktuell, RTL Dabei, SAT1 Mittendrin, Pro7 Woanders und BILD TV Standpunkt, alle sendeten zur Prime-Time. Selbst im Internet wurde vorgedacht, nachgedenkt, mitüberlegt und auch anders justiziiert. Es wurde einem regelgerecht schwindlig. Was war passiert? Was löste das Ganze aus?

Gestern früh, halb Elf in Deutschland, wurden in München Flugblätter gefunden. In diesen erhob die Gruppe FEMEN den Vorwurf, die Fußball-WM in Katar wäre eine frauendiskiminierende Veranstaltung. Man plane am 20. November 2022 zum Eröffnungsspiel Katar gegen Ecuador in Katar vor 80.000 Zuschauern im Al Bayt Stadion gegen Sexismus und Unterdrückung der Frauenrechte in Katar zu protestieren. Auf dem Spielfeld. Vor 80.000 Zuschauern bei der Live-Übertragung.

Unterzeichnet waren die Flugblätter von vier europäisch mutmaßlich bekannten FEMEN-Aktivistinnen aus der Ukraine. Dort hatte bekannterweise die Bewegung der FEMEN ihren Ursprung. Gefunden wurden die Flugblätter in und um der Münchner Frauenkirche, auf dem Marienplatz, vor dem Lola-Montez-Palais der Münchner Barer Straße und auch direkt an der Bayrischen Staatskanzlei.

Die Polizei Münchens hatte einige Mühe, die Flugblätter einzusammeln. Trotzdem der konzertierten Polizei-Sammelaktion (zeitgleich klebten Klimaaktivisten am Stachus auf der Straße fest) musste die lokale Presse einiger Flugblätter habhaft geworden sein und berichtete Mittags um halb Zwölf in deren Medienkanäle darüber. Begierig wurden diese Nachrichten von der sich momentan langweilenden, überregionalen Yellow-Press aufgegriffen und in deren Antennen-Programmen eifrig diskutiert. Politiker wurden angerufen und dazu befragt.

So kam denn auch die im bayrischen Ur-Ton verfassen Meinung in den Äther. Sinngemäß sagten zwei Politikerdorffunktionäre und zwei Politiksprechervertreterinnen, dass die FEMEN es ruhig wagen sollten, barbusig und bemalt auf dem Katarer Spielfeldern zu demonstrieren. Denen würden sofort die Brüste von den Herrschenden dort abgeschnitten. Wenn sie denn nicht vorher kopflos werden würden. Daher sollten die Femen nochmals nachdenken, bevor jene so etwas Unüberlegtes und Verantwortungsloses ausführen würden. Und es herrsche ja Gleichberechtigung. Männlichen Flitzern droht ja auch die Amputation deren Zipfels (oder Kopfes) in Katar, sollten die es wagen,nackt zu flitzen.

Ein weiterer, christlicher Politiker veranstaltete sofort eine Pressekonferenz und erklärte, dass die FEMEN in der Ukraine lieber barbusig gegen Putin und seine Schergen kämpfen sollten, statt mit Flugblättern bei uns die Umwelt zuzumüllen. Man habe ja schon mit den auf der Straße geklebten Klima-Terroristen alle Hände voll zu tun, da bräuchte es in Katar auch nicht noch Titten-Terroristen bei einer friedlichen Fußball-WM.

Auf die Frage eines Journalisten, ob die FEMEN mit deren Anliegen eine größere Bedrohung wären, als wenn man in Katar auf Sklavenarbeiter für die WM aufmerksam machen würde, erklärte der Politiker knapp:

“Ich hab noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar g’sehn. Also die laufen alle frei rum, weder in Ketten gefesselt, noch und .. äh … auch mit irgendwelcher Büßerkappe am Kopf, also, das habe ich noch nicht g’sehn. Wo diese Meldungen herkommen, ich weiß es nicht. Also ich hab mir … äh, … vom arabischen Raum hab ich mir ein anderes Bild gemacht. Und ich glaube, mein Bild ist realistischer.”

Als der Reporter nachhakte, warum er denn Franz Beckenbauer 1:1 zitieren würde (Quelle: https://youtu.be/ZUPfm4zsVNQ), brach der Politiker die Pressekonferenz ab und schimpfte, dass in aller Welt in jedem Land immer wieder Menschenrechte verletzt werden würde, warum es dann in Katar denn anders sein solle. Und überhaupt, sollten die FEMEN eher barbusig bei Putin demonstrieren statt unschuldige Menschen zu belästigen. Er würde sich sogar dann bei denen brustfrei auf einem Pferd reitend dazu gesellen. Garantiert. Hundert Pro safe. Das würde er mit den nackigen FEMEN zusammen machen. Safe.

Ein Parteifreund jenes Politikers verteilte um halb Eins eine Pressemitteilung, in der er es bedauerte, dass die Presse seinen sehr christlichen Parteifreund solch einen Dreck angedichtet hätten, er hätte sich für eine Verteidigung der Sklaverei in Katar eingesetzt, damit Deutschland von Katar den WM-Pokal nach Hause bringen könne. Das wäre nachweislich Quatsch. Zudem sollte man die Verhältnisse in Katar berücksichtigen, dass man dort bei ungebührlichem Verhalten ohne Verurteilung 30 Tage lang eingesperrt werden könnte und dann könne keine Botschaft der Welt dagegen etwas ausrichten, weil es ja Katar’sches Recht sei. Und daher solle man auf solchen Titten-Terrorismus verzichten. Es ständen zudem auch wirtschaftliche Beziehungen auf dem Spiel, welche man nicht so einfach bei einem Fußballspiel aufs Spiel setzen solle. Und niemand solle sich beklagen, wenn bei Titten-Terrorismus Katar die Katanas zum Köpfen blank ziehen würde.

Die Opposition brachte darauf ein drölf-seitiges, wütendes Communiqué in die Presselandschaft unter, über welches BILD-TV als Erste berichtete. Hierbei betonte BILD-TV mehrfach, dass unzulässige Vergleiche in dem oppositionellen Pamphlet gezogen werden würden. Denn in jenem Communiqué wurde offenbar hingewiesen, dass das Bayrische Polizeiaufgabengesetz (PAG) seit 2019 erlauben würde, Personen mit potentiellem Risikopotential 30 Tage ohne gerichtliche Verurteilung einzuknasten. Und das wäre wohl 1:1 mit dem Recht in Katar verglichen worden. BILD-TV fragte direkt nach, ob dieses weltoffene, herzliche Bayern mit so einem fernen Land wie Katar einfach verglichen werden dürfe. Insbesondere, da damals Deutschland-weit niemand gegen die Existenzberechtigung des regional auf Bayern beschränkten PAGs etwas eingewandt hatte. Und Katar sei ja überhaupt keine gewählte Demokratie an und für sich.

Ein bayrische Gast aus der rechtsextremen Ortgruppen-Szene betonte in der Sendung, dass er eigentlich Söder und Co für dessen linksextreme Tendenzen nicht mögen würde, aber das PAG an sich schon der richtige Schritt in die richtige Richtung für Deutschland wäre. Denn man könne Klima-Terroristen, die sich auf Bayrischen Straßen festkleben, nicht hart genug bestrafen: denn diese würden die freie Fahrt für freie Bürger behindern, was – so erwähnte er in einem Nebensatz – in Katar jedenfalls nicht der Fall wäre. Da könne jeder Katari frei fahren, wo er wolle, wann er wolle und wie er dürfe und immer jederzeit wollen wollen. Aber in Deutschland haben ja offensichtlich einige Terroristen etwas dagegen und wollen das Dürfen verbieten lassen.

Um halb Drei wurden Ausschnitte aus jener Sendung in allen anderen Nachrichten (Fernsehen und Radio) gespielt. Politiker aller deutschen Bundesländer meldeten sich zu Wort. Es könne nicht sein, dass sogar jetzt Ukrainerinnen von dem Angriffskrieg von Putin mit Titten-Ablenkungsmanöver ablenken wollen. Die sollen doch unsere Fußballer in Frieden friedlich in Katar kicken lassen. Thomas Müller, ein großer Katar-Experte (unter Vertrag bei einem bayrischen Fullballverein der internationalen Katar-Connection), und sein Zitat “Auch in Deutschland gibt es Menschenrechtsverletzungen“ fanden sich in jeder dritten Stellungnahme für die WM in Katar wieder.

Der Bayrische Ministerpräsident Markus von und zu Söder ließ zu einem Fototermin bitten. Mit einem Maßkrug stellte er sich vor einem Bierfass und erklärte, dass der Vergleich zwischen Katar und Bayern hinke. In Bayern gelte die Liberalitas Bavariae als Prinzip und in Katar dagegen der Alkohol als verboten. Nebenbei fügte er an, dass er Katar für seinen rigorosen Umgang mit  Drogenvergehen bewundern würde, dass er Lauterbachs Drogenliberalisierungspläne als Einfallstor für den Drogenhandel in Deutschland sehe. Sprach es und hielt seine bayrische Maß in die Höhe.

Exklusiv aus einem Privatflugzeug, einer Diamond DA62, auf dem Flug von Sylt ins Sauerland, twitterte eine nicht unbekannte Politprominenz, dass das Zeigen von Titten nichts neues sei. Schon am 29. März 1979 beim 27. Bundesparteitag der CDU in Kiel trat ein Oben-Ohne-Ballett auf (Quelle). Die Titten der Frauen hätten schon damals Raum erhalten, da brauche es das heute nicht mehr. Allerdings twitterte er weiter, dass das Vordringen des Gender-Mainstreams von Ukrainerinnen auch in die Männer Fußball-WM in Katar für sehr bedenklich zu erachten sei, während Putin und seine Soldaten in der Ukraine ununterbrochen Frauen unbedenlich vergewaltigen. Und ob Titten und Klebstoff die richtigen Protestmittel seien, dass würde er gerade mit Pressevertretern ausgiebig in Sachen „Contra“ diskutieren. So etwas solle nie ungestraft bleiben. Der Staat müsse gegen solche gewalttätigen Protestformen eindeutig mittels harten Strafen Stellung beziehen und Wehrhaftigkeit zeigen.

Eine Anfrage an das Kanzleramt, ob der Bundeskanzler zu dem Thema Stellung beziehen könne, wurde mit der knappen Email-Antwort “Ja, er könne” beantwortet. Weiteres war in Folge nicht zu vernehmen. Die Bundespressekonferenz wartete vergeblich auf einen Kanzlertermin. Der Faktenchecker Florian Warweg konnte seine seit Monate vorformulierten Fragen nicht stellen.

Nachmittags um halb Fünf, in den Redaktionsstuben der Fernsehsender wurde bereits an Sondersendungen zur Prime Time gebastelt:

Die ARD plante ein Fünf-Minuten-Brennpunkt. Franz-Josef Gottlieb sollte reaktiviert werden.

Das ZDF plante den Frauenrechtsbeauftragten beim DFB mit Franz Beckenbauer für ein Vier-Minuten-Interview gewinnen.

RTL Dabei zeigte eine Zusammenfassung aller FEMEN-Auftritte weltweit – aufgearbeitet in HDR10 für den 4K-TV-Livestream im Internet – mit einem Straßeninterview von Passanten der Hamburger Herbertstraße plus den neusten Entwicklungen vom Klima-Terrorismus, kommentiert von FDP, AfD und CSU-Oberbayern.

SAT1 Mittendrin und Pro7 Woanders zeigten in einer Gemeinschaftssendung Live-Interviews direkt aus einem Münchner Swingerclub und fragten kritisch nach: “Braucht es Titten zur WM in Katar?”

Und BILD-TV dokumentierte die gefährliche Nähe der FEMEN zu Klima-Terroristen, welche freie Bürger an deren freien Fahrt hindern. Ein Live-Interview wurde mit einem FDP-Ortfunktionär aus Hinteroberuntertupfing und einem katholischen Priester geführt. Beide zeigten sich sehr bestürzt darüber, dass bei Protesten keinerlei Moral mehr walten würde. Stattdessen herrsche nur Unmoral und Unsitte unter den Demonstranten und das würde immer mehr um sich greifen und die Moral und die christlichen Werte des Abendlands in Deutschland bedrohen. Besonders der katholische Priester forderte härteres Vorgehen gegen die Titten-Terroristinnen, die einer unmoralischen Sexualideologie folgen.

Gegen halb Neun Uhr Abends kamen dann die Leitmedien der Alternativen Freien Presse mit deren Veröffentlichungen ins Internet. Sie mutmaßten ein False-Flag-Manöver verschiedener Geheimdienste, um von Katar abzulenken und den Fokus wieder auf Putin zu legen. Man zweifelte die Existenz der Flugblätter an und so wie auch die Existenz der FEMEN. Sollte es FEMEN geben, wären diese sowieso Ausgeburt faschistischer und nationalistischer ukrainischer Machenschaften. Die Russen könnten sowas nicht. Darüber hinaus sollten wohl im Westen nur die Geschäfte mit Katar geschützt werden.

Desweiteren wäre die hedonistische Szene Deutschlands sicherlich die Verursacher der Busen-Show einer nicht existenten Frauengruppierung mit Feminismus-Ansichten. Denn bei der berechtigten und allgemeingültigen Frage “Cui-Bono” habe sich hierzu keine andere Schlussfolgerung beim Nachdenken ergeben.

Als gegen 22:00 Uhr das Thema von allen Medien durchgekaut, ausgespuckt bis ausgekotzt war, wurde es wieder stiller. Das große Verdauen setzte ein. Ein denkwürdiger Tag ging zu Ende. Ich ging atemlos durch die Nacht hindurch direkt ins Bett.

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Hauptoberwachmeister Bieslmaier, 32 Jahre, Single, ein Kind, räumte ein Beweisstück in die Asservatenkammer. Es war in einem Flugblatt eingewickelt. Er schaute kurz drauf, las “Femen”, “Katar” und “Sexismus”, umwickelte es noch mal schnell mit einem Klebeband, steckte es in einen Umschlag und seufzte:

Vergewaltigung soll das gewesen sein. Das Flittchen ging auf Stöckelschuhen und im Mini. Die ist’s ja selber Schuld. Eine Ehrenfrau macht sowas nicht. Eine Ehrenfrau hat Respekt bei der Wahl ihrer Kleidung. Und jetzt sollen wir deren beschmutzen Schlüpfer von ihr zur Analyse bringen. Igitt. Naa, das kann warten. Das mach ma’ übermorgen. Dann ist auch noch ein Tag. Feierabend!”, grummelte Hauptoberwachmeister Bieslmaier und legte den Umschlag ins oberste Regal. Kraftvoll schloss er die Tür der Asservatenkammer mit Schwung, schlug sie regelrecht zu. Heftig vibrierte das Regal unter dem Zuschlagen. Der Umschlag auf dem obersten Regalablagefach geriet in Bewegung.

Und während Hauptoberwachmeister Bieslmaier seinen Schlüssel im Schloss der Asservatenkammer dreimal umdrehte, rutschte ein Umschlag aus dem Regal, fiel in dem davor stehenden Schwingdeckelmülleimer … plopp … und wurde nimmer mehr gefunden …

Alle elf Minuten … oder: Leidenschaft ohne Reue

RomantikIhre Hand hielt das Handy ans Ohr. Es klingelte am anderen Ende. Mit ihren Vorderzähnen bearbeitete sie nervös ihre Unterlippe und ihr Blick flog recht ungeduldig im Zimmer umher. Ihr Fuß wippte ohne Unterlass, während sie auf der Sofakante hockte, als es in der Handyleitung klackte:

»Alles klar, Tina?«

Unwirsch fuhr Tina sich mit der anderen Hand durch ihr Haar. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang erregt, aufgeregt:

»Ist was passiert Tina? Nun, sag doch was!«

Tinas rechte Hand suchte weiterhin noch ihren Weg durchs Haar, um dann schützend vor ihren Mund zu landen.

»Es ist alles okay. Nichts passiert.«

»Wirklich nichts? Was geht ab? Warum rufst Du an?«

»Es ist alles okay.«

Tina hatte den letzten Satz nur zögerlich flüstert und wieder fuhr sie sich mit ihrer Hand nervös durchs Haar, erwischte eine Strähne und zwirbelte sie wie zuvor hastig um ihren Zeigefinger.

»Jetzt lass Dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Tina! Was ist passiert? Wie ist das Date gelaufen? Schon zu Ende?«

Tina schluckte und atmete kurz tief durch.

»Nichts ist passiert. Gar nichts.«

»Wie nichts? Was meinst Du damit?«

»Nichts, überhaupt nichts, gar nichts, null, nada, niente.«

Tinas Stimme brach ein wenig, als sie die letzten Worte aussprach.

»Kein Sex?«

»No.«

»Was?«

»Ja.«

Eine Pause entstand. Stille schien sich kurz in der Leitung Raum zu verschaffen.

»Kein Sex? Ist er impotent?«

»Anke, der sitzt im Bad und hat sich dort eingeschlossen!«

»Was?«

Anke atmete hörbar am anderen Ende der Leitung tief durch, während Tina leise aufschluchzte.

»Der ist im Bad und hat sich eingeschlossen?«

»Was soll ich machen, Anke? Ich habe doch nichts Unrechtes gemacht. Ich wollte doch nur Leidenschaft ohne Reue.«

»Und jetzt hockt deine Leidenschaft eingeschlossen im Bad?«

»Ja.«

»Ich hatte Dir schon immer gesagt, lass die Finger weg vom Online-Dating. Da holst du dir nur Psychopathen ins Haus.«

»Danke, Anke.«

Stille. Tina hatte von ihrem Wohnzimmer aus die Badezimmertür im Blickfeld. Es hatte sich nichts geändert. Sie wusste nicht, was der Typ da drin jetzt machte, sie wusste lediglich, dass er dort drinnen war. Und sie wusste, dass sie ratlos auf ihrem Sofa saß, während aus ihrem Schlafzimmer gedämpft die zuvor auf Romantik organisierte Playlist ablief. Alles hatte sie perfekt vorbereitet, nur jetzt war das Ziel ihrer Begierde noch immer im Badezimmer und hatte sich dort eingeschlossen.

»Tina, tschuldige, ich hab’s nicht so gemeint. Wie ist es denn passiert?«

Tina musterte die Badezimmertür und erklärte die Situation flüsternd:

»Wie ich Dir ja gestern schon erklärte. Er sollte in meiner Straße parken, kurz per Handy durchklingeln und dann ne Minute später unten schellen. Das hat er auch getan. Er rief an, ich habe den Espresso in die Tasse laufen lassen, und die Tasse zu der Banane und den Müsliriegel ins Bad gestellt. Schnell die Kerze angezündet und dann rüber und den Türöffner betätigt.«

»Und dann?«

»Er kam rein und ging direkt ins Bad, während ich mit Negligé im Bett auf ihn wartete.«

»Wie? Der alte Mottenfiffi, den dir dein Ex letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte?«

»Mit dem doch nicht! Anke, was denkst du! Den habe ich doch längst in der Altkleidertonne entsorgt.«

»Na, Gott sei Dank. Das war ja so ein brutaler Liebestöter.«

»Ne halbe Stunde lag ich wartend im Bett, nur außer der Klospülung habe ich seit elf Minuten nichts mehr gehört.«

»Hast Du mal angeklopft? Vielleicht ist ihm was passiert, da drinnen.«

»Habe ich.«

»Und?«

»Er meinte, es sei alles in Ordnung.«

»Und?«

»Mehr nicht.«

»Mehr nicht?«

»Mehr nicht.«

»Seltsam. Da kommt ein Mann, um Sex zu erhalten und schließt sich jedoch im Bad ein?«

»Wir hatten doch bereits vorher telefoniert und uns Nachrichten geschickt. Alles schien in Ordnung.«

»Hast Du ihn verschreckt? Vielleicht kommt er nicht mit der selbst bestimmten Sexualität einer selbstbewussten Frau zurecht?«

»Ich will doch nichts Unmenschliches von ihm. Nur leidenschaftliches. Ich wollt mir doch nur eine alte Fantasie erfüllen: einmal einen Mann nur im Bett kennen zulernen und ihn dort ganz zu genießen.«

»Und jetzt ist deine Online-Bekanntschaft im Bad und kommt nicht raus. Was macht er da drin? Holt der sich einen runter, oder was?«

»Ich weiß es nicht, Anke.«

»Dann klopf doch noch mal.«

Tina zögerte, aber dann stand sie auf, ging zur Badezimmertür und klopfte:

»Ist alles in Ordnung?«

Es kam keine Reaktion. Sie klopfte erneut, energisch

»Alles in Ordnung?«

»Es ist alles in Ordnung», kam als Antwort.

Seine Stimme klang klar und deutlich, sachlich. Eigentlich so, wie Tina seine Stimme vom Telefon her in Erinnerung hatte. Sie ging wieder zurück zu ihrem Wohnzimmersofa und flüsterte in ihr Handy:

»Hast Du gehört, Anke? Mehr sagt der nicht.«

»Warum fragst Du nicht, was er hat, Tina? Du warst schließlich mutig genug, ihn zu Dir einzuladen. Also sei mutig und frag ihn.«

»Anke, ich hatte ihn nicht zum Quatschen zu mir eingeladen. Ich wollte wieder fremde Haut spüren, Hände, die mich an allen Stellen streicheln und liebkosen, Arme, die mich halten, Lippen, die mich küssen, eine Zunge, die oral eine gute Technik drauf hat,  …«

»Und einen, Du-weißt-schon-was, der es mal dir wieder richtig besorgt, ich weiß. Nur wenn Du nichts unternimmst, dann wird das nie etwas werden.«

Tina überlegte. Über das Online-Dating-Portal hatte sie ihn kennengelernt, mit ihm geschattet, dann mit ihm telefoniert. Sie hatten vereinbart, er käme vorbei, ließe sich von ihr führen und würde ihre sexuellen Vorlieben respektieren und befriedigen.

Kurzentschlossen stand sie auf und ging erneut zur Badezimmertür und klopfte an:

»Ist irgendetwas, weswegen du nicht rauskommen magst?«

»Nein, alles in Ordnung.«

»Echt?«

»Ja.«

»Soll ich dir was bringen? Kaffee?«

»Habe ich gefunden, hier im Bad.«

»Was zu essen?«

»Danke für die Banane und den Müsliriegel. Waren gut und sättigend.«

»Oder etwas anderes zu trinken?«

»Es hat hier ausreichend Wasser. Literweise.«

»Ich habe auch eisgekühlte Cola. Oder leckeren Kaffeesahnelikör.«

»Nein, danke.«

»Der Likör schmeckt echt Eins A. Ich kann dir auch einen langen Likörkuss geben. Du wirst abgehen darauf, schwör ich dir.«

»Ich geh hier nicht raus.«

»Warum?«

»Ich bleib hier.«

»Hast Du Angst?«

»Nein.«

»Warum magst Du dann nicht rauskommen. Ich beiße auch nicht.«

»Nein.«

»Nein was?«

»Nein, ich geh hier nicht raus.«

»Vielleicht ein eiskaltes Bier für dich?«

»Ich geh‘ hier nicht raus.«

»Aber ein Gläschen Prosecco wirst Du doch wohl mit mir trinken, oder?«

Tina lauschte angestrengt, aber jetzt blieb er ihr die Antwort schuldig. Es drang kein Laut durch die Badezimmertür. Zaghaft fragte sie nach:

»Bist Du vielleicht etwas nervös?«

Wieder keine Antwort.

»Ehrlich, Frank, ich bin auch nervös. Aufgeregt. Aber das ist doch normal, oder etwa nicht? Da ist doch kein Grund, sich einzuschließen.«

Sie lauschte, aber Frank schien sich im Badezimmer nicht zu rühren. Sie legte kurz ihr Ohr an die Tür. Aber sie konnte nichts hören.

»Frank. Du musst keine Angst vor mir haben. Ich tu Dir nichts Böses. Eher in Gegenteil. Du wirst darauf stehen. Wir wollen es doch beide.«

»Nein.«

»Was Nein?«

»Du, du willst es.«

»Was?«

»War ja klar, dass du mir jetzt mit schönen Worten schmeichelst und mich dabei anmachst.«

»Ich versteh nicht.«

»Du wolltest mich lediglich flachlegen. Nur Sex, nur meinen Körper und nichts, gar nichts anderes.«

»Wie?!«

»Du willst mich nur benutzen und auslaugen.«

»Ich will was?«

»Dass das immer nur mir passiert! Das gibt es doch gar nicht.«

»Wie?«

»Ich werde es überleben. Irgendwie.«

»Was?«

Mit der flachen Hand schlug Tina ungläubig auf die Badezimmertür. Sie war sprachlos. Verwirrt ging sie zum Wohnzimmer zurück und bemerkte das Handy in ihrer Hand. Hastig hielt sie es an ihn Ohr und flüsterte:

»Hast Du das gehört, Anke?«

»Hab‘ ich. Du musst ja einen tollen Eindruck auf ihn gemacht haben, Tina.«

»Ach ja? Danke, Anke!«

»Bitte, Titte, äh, Tina. Nur sehe es doch mal nüchtern: der Mann hat voll die Komplexe. Wie alle Männer, wenn’s um Sex geht. Die wollen erst die Hure und bekommen sie dann diese vorgespielt, wollen Sie sofort die Heilige. Und dann gleich wieder umgekehrt. Alle elf Minuten kannst du das beim Online-Dating erleben.«

»Ich verstehe das nicht. Zuvor hatte er auch gesagt, er wäre geil auf Sex mit mir. Einfach Haut auf Haut, Körper auf Körper, jedem seinen Spaß und gemeinsam noch mehr zusammen erleben.«

»Keine Ahnung, was mit den Männern heutzutage los ist. Früher brauchte man nur den Arm auszustrecken und schon hatte Frau ein halbes Dutzend Hoch-Notgeile an jeder Hand und konnte sich den Besten aussuchen …«

» … und jetzt habe ich ein verhuschtes Exemplar im Bad. Wie krieg ich den da wieder raus?«

»Frag ihn, ob er Fußball mag.«

»Wieso?«

»Es läuft gerade das Länderspiel. Männer sind ja alle fußballgeil.«

Tina stand kurz auf und rief zur Badezimmertür:

»Magst du vielleicht Fußball schauen? Deutschland spielt.«

Sie lauschte intensiv. Keine Reaktion. Nicht das kleinste Geräusch. Sie schaltete den Fernseher ein und regelte die Lautstärke etwas hoch. Das Spiel lief bereits. Rechts oben entzifferte sie mühsam, dass es kurz vor Ende der ersten Halbzeit noch immer Null Null stand. Sie schlich zum Badezimmer und lauschte. Keinerlei Geräusche. Als ob das Bad leer wäre. Sie ging wieder zurück in ihr Wohnzimmer und flüsterte wieder in ihr Handy:

»Ich habe jetzt Fußball angeschaltet. Aber er rührt sich nicht.«

»Warte ein wenig. Mit Speck fängst du Mäuse, mit Fußball richtige Kerle und keine Weicheier.«

Tina antwortete nichts. Mit dem Handy am Ohr verfolgte sie das Spiel. Es war ein Ballgeschiebe um den Mittelkreis herum. Der Reporter nölte etwas von einem hoch-intensiven Spiel und erzählte planlos aus dem Leben der des deutschen Co-Trainers Ehefrau. Und bevor der Reporter überhaupt mit seiner ersten Anekdote fertig war, pfiff der Schiedsrichter zur Pause.

»Und, Tina?«

Tina blickte zum Badezimmer.

»Immer noch nichts, Anke.«

Als Pausenprogramm wurde Werbung gesendet. Tina schaltete auf einen anderen Kanal.

»’Dieter, Dieter!‘ ‚Oh, Claudia!‘ ‚Oh, Dieter, ich bin ja so glücklich!‘ ‘Claudia, ich bin so froh dich gefunden zu haben!‘ ‚Oh, Dieter!‘ …«

Tina blendete den Bildschirmtext ein. Offensichtlich ein Liebesfilm nach Ideen von Rosamunde Pilcher. Das Liebespaar küsste sich innig, Geigen fiedelten schmalzig im Hintergrund und blauer Himmel am weißen Sandstrand ummantelte die Szene. Das Paar lächelte breit und blickte sich tief in die Augen. Zuckersüß. Tina wollte umschalten, aber sie erwischte nicht den richtigen Knopf auf der Fernbedienung, stattdessen erhöhte sie die Lautstärke.

» … ‚Oh, Dieter!‘ ‚Oh, Claudia!‘ ‚Wollen wir heiraten?‘ ‚Wir müssen aber erst Mutter fragen, Claudia.‘ ‚Heute noch?‘ ‚Gleich.‘ ‚Ach, Dieter, du machst mich so glücklich.’«

Ein Bläser-Orchester setzte ein, eine einzelne Oboe heulte dazwischen herzzerfetzend auf. …

In dem Augenblick klackte es vom Badezimmer her. Tina zuckte zusammen und sah die Tür sich nach außen hin öffnen. Die offene Tür versperrte ihr die Sicht, aber sie sah ihn noch, in seinem sandfarbenen Anzug, hochaufgewachsen, stattlich, aber hastig, wie er zur Eingangstür entschwand. Sie hörte das Öffnen und danach die Tür ins Schloss fallen.

Tina stellte den Fernseher ab und ging zum Bad.

»Anke, ich glaube, er hat das Bad verlassen.«

Das Bad war leer. Im Waschbecken stand die geleerte Tasse Espresso, daneben sorgsam drapiert die Bananenschale und die Verpackung des Müsliriegels.

»Er ist weg.«

In Tinas Stimme schwang Enttäuschung mit.

»Hat er dort etwa gewichst?«

»Sieht nicht danach aus. Handtücher sind unberührt.«

»Sei froh, Tina, dass es so gekommen ist. Wer weiß, was der sonst noch mit dir angestellt hätte. Männer können so unberechenbare Schweine sein. Sei froh, …«

Tina beendete die Verbindung wortlos. Sie starrte noch immer auf das Waschbecken und die Reste darin.

Was er mit ihr angestellt hätte … . Ja, wenn er doch wenigstens …

Ankes Worte hallten in ihr nach.

Ich wollte doch bloß mal wieder Leidenschaft ohne Reue, waren ihre Gedanken. Sie strich über ihre Haare, seufzte, trug die Überreste in die Küche und ging in ihr Schlafzimmer. Sie starrte auf die bereit gelegten Kondome auf der Nachttischkommode und wieder entfuhr ihr ein Seufzen.

Leidenschaft ohne Reue.

Die Einladung an ihn reute sie nicht. Der Typ war eigentlich der Mr. Right, nur wohl ein wenig schüchtern. Oder stark verkorkst. Oder beides. Aber vor allem fehlte es ihm an der notwendigen Leidenschaft.

So nah dran, dachte sie, als sie sich auf Bett legte, das Kissen zu sich herzog, umklammerte und auf ihren Unterleib drückte. So nah dran … .

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