Ihre Hand hielt das Handy ans Ohr. Es klingelte am anderen Ende. Mit ihren Vorderzähnen bearbeitete sie nervös ihre Unterlippe und ihr Blick flog recht ungeduldig im Zimmer umher. Ihr Fuß wippte ohne Unterlass, während sie auf der Sofakante hockte, als es in der Handyleitung klackte:
»Alles klar, Tina?«
Unwirsch fuhr Tina sich mit der anderen Hand durch ihr Haar. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang erregt, aufgeregt:
»Ist was passiert Tina? Nun, sag doch was!«
Tinas rechte Hand suchte weiterhin noch ihren Weg durchs Haar, um dann schützend vor ihren Mund zu landen.
»Es ist alles okay. Nichts passiert.«
»Wirklich nichts? Was geht ab? Warum rufst Du an?«
»Es ist alles okay.«
Tina hatte den letzten Satz nur zögerlich flüstert und wieder fuhr sie sich mit ihrer Hand nervös durchs Haar, erwischte eine Strähne und zwirbelte sie wie zuvor hastig um ihren Zeigefinger.
»Jetzt lass Dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Tina! Was ist passiert? Wie ist das Date gelaufen? Schon zu Ende?«
Tina schluckte und atmete kurz tief durch.
»Nichts ist passiert. Gar nichts.«
»Wie nichts? Was meinst Du damit?«
»Nichts, überhaupt nichts, gar nichts, null, nada, niente.«
Tinas Stimme brach ein wenig, als sie die letzten Worte aussprach.
»Kein Sex?«
»No.«
»Was?«
»Ja.«
Eine Pause entstand. Stille schien sich kurz in der Leitung Raum zu verschaffen.
»Kein Sex? Ist er impotent?«
»Anke, der sitzt im Bad und hat sich dort eingeschlossen!«
»Was?«
Anke atmete hörbar am anderen Ende der Leitung tief durch, während Tina leise aufschluchzte.
»Der ist im Bad und hat sich eingeschlossen?«
»Was soll ich machen, Anke? Ich habe doch nichts Unrechtes gemacht. Ich wollte doch nur Leidenschaft ohne Reue.«
»Und jetzt hockt deine Leidenschaft eingeschlossen im Bad?«
»Ja.«
»Ich hatte Dir schon immer gesagt, lass die Finger weg vom Online-Dating. Da holst du dir nur Psychopathen ins Haus.«
»Danke, Anke.«
Stille. Tina hatte von ihrem Wohnzimmer aus die Badezimmertür im Blickfeld. Es hatte sich nichts geändert. Sie wusste nicht, was der Typ da drin jetzt machte, sie wusste lediglich, dass er dort drinnen war. Und sie wusste, dass sie ratlos auf ihrem Sofa saß, während aus ihrem Schlafzimmer gedämpft die zuvor auf Romantik organisierte Playlist ablief. Alles hatte sie perfekt vorbereitet, nur jetzt war das Ziel ihrer Begierde noch immer im Badezimmer und hatte sich dort eingeschlossen.
»Tina, tschuldige, ich hab’s nicht so gemeint. Wie ist es denn passiert?«
Tina musterte die Badezimmertür und erklärte die Situation flüsternd:
»Wie ich Dir ja gestern schon erklärte. Er sollte in meiner Straße parken, kurz per Handy durchklingeln und dann ne Minute später unten schellen. Das hat er auch getan. Er rief an, ich habe den Espresso in die Tasse laufen lassen, und die Tasse zu der Banane und den Müsliriegel ins Bad gestellt. Schnell die Kerze angezündet und dann rüber und den Türöffner betätigt.«
»Und dann?«
»Er kam rein und ging direkt ins Bad, während ich mit Negligé im Bett auf ihn wartete.«
»Wie? Der alte Mottenfiffi, den dir dein Ex letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte?«
»Mit dem doch nicht! Anke, was denkst du! Den habe ich doch längst in der Altkleidertonne entsorgt.«
»Na, Gott sei Dank. Das war ja so ein brutaler Liebestöter.«
»Ne halbe Stunde lag ich wartend im Bett, nur außer der Klospülung habe ich seit elf Minuten nichts mehr gehört.«
»Hast Du mal angeklopft? Vielleicht ist ihm was passiert, da drinnen.«
»Habe ich.«
»Und?«
»Er meinte, es sei alles in Ordnung.«
»Und?«
»Mehr nicht.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«
»Seltsam. Da kommt ein Mann, um Sex zu erhalten und schließt sich jedoch im Bad ein?«
»Wir hatten doch bereits vorher telefoniert und uns Nachrichten geschickt. Alles schien in Ordnung.«
»Hast Du ihn verschreckt? Vielleicht kommt er nicht mit der selbst bestimmten Sexualität einer selbstbewussten Frau zurecht?«
»Ich will doch nichts Unmenschliches von ihm. Nur leidenschaftliches. Ich wollt mir doch nur eine alte Fantasie erfüllen: einmal einen Mann nur im Bett kennen zulernen und ihn dort ganz zu genießen.«
»Und jetzt ist deine Online-Bekanntschaft im Bad und kommt nicht raus. Was macht er da drin? Holt der sich einen runter, oder was?«
»Ich weiß es nicht, Anke.«
»Dann klopf doch noch mal.«
Tina zögerte, aber dann stand sie auf, ging zur Badezimmertür und klopfte:
»Ist alles in Ordnung?«
Es kam keine Reaktion. Sie klopfte erneut, energisch
»Alles in Ordnung?«
»Es ist alles in Ordnung», kam als Antwort.
Seine Stimme klang klar und deutlich, sachlich. Eigentlich so, wie Tina seine Stimme vom Telefon her in Erinnerung hatte. Sie ging wieder zurück zu ihrem Wohnzimmersofa und flüsterte in ihr Handy:
»Hast Du gehört, Anke? Mehr sagt der nicht.«
»Warum fragst Du nicht, was er hat, Tina? Du warst schließlich mutig genug, ihn zu Dir einzuladen. Also sei mutig und frag ihn.«
»Anke, ich hatte ihn nicht zum Quatschen zu mir eingeladen. Ich wollte wieder fremde Haut spüren, Hände, die mich an allen Stellen streicheln und liebkosen, Arme, die mich halten, Lippen, die mich küssen, eine Zunge, die oral eine gute Technik drauf hat, …«
»Und einen, Du-weißt-schon-was, der es mal dir wieder richtig besorgt, ich weiß. Nur wenn Du nichts unternimmst, dann wird das nie etwas werden.«
Tina überlegte. Über das Online-Dating-Portal hatte sie ihn kennengelernt, mit ihm geschattet, dann mit ihm telefoniert. Sie hatten vereinbart, er käme vorbei, ließe sich von ihr führen und würde ihre sexuellen Vorlieben respektieren und befriedigen.
Kurzentschlossen stand sie auf und ging erneut zur Badezimmertür und klopfte an:
»Ist irgendetwas, weswegen du nicht rauskommen magst?«
»Nein, alles in Ordnung.«
»Echt?«
»Ja.«
»Soll ich dir was bringen? Kaffee?«
»Habe ich gefunden, hier im Bad.«
»Was zu essen?«
»Danke für die Banane und den Müsliriegel. Waren gut und sättigend.«
»Oder etwas anderes zu trinken?«
»Es hat hier ausreichend Wasser. Literweise.«
»Ich habe auch eisgekühlte Cola. Oder leckeren Kaffeesahnelikör.«
»Nein, danke.«
»Der Likör schmeckt echt Eins A. Ich kann dir auch einen langen Likörkuss geben. Du wirst abgehen darauf, schwör ich dir.«
»Ich geh hier nicht raus.«
»Warum?«
»Ich bleib hier.«
»Hast Du Angst?«
»Nein.«
»Warum magst Du dann nicht rauskommen. Ich beiße auch nicht.«
»Nein.«
»Nein was?«
»Nein, ich geh hier nicht raus.«
»Vielleicht ein eiskaltes Bier für dich?«
»Ich geh‘ hier nicht raus.«
»Aber ein Gläschen Prosecco wirst Du doch wohl mit mir trinken, oder?«
Tina lauschte angestrengt, aber jetzt blieb er ihr die Antwort schuldig. Es drang kein Laut durch die Badezimmertür. Zaghaft fragte sie nach:
»Bist Du vielleicht etwas nervös?«
Wieder keine Antwort.
»Ehrlich, Frank, ich bin auch nervös. Aufgeregt. Aber das ist doch normal, oder etwa nicht? Da ist doch kein Grund, sich einzuschließen.«
Sie lauschte, aber Frank schien sich im Badezimmer nicht zu rühren. Sie legte kurz ihr Ohr an die Tür. Aber sie konnte nichts hören.
»Frank. Du musst keine Angst vor mir haben. Ich tu Dir nichts Böses. Eher in Gegenteil. Du wirst darauf stehen. Wir wollen es doch beide.«
»Nein.«
»Was Nein?«
»Du, du willst es.«
»Was?«
»War ja klar, dass du mir jetzt mit schönen Worten schmeichelst und mich dabei anmachst.«
»Ich versteh nicht.«
»Du wolltest mich lediglich flachlegen. Nur Sex, nur meinen Körper und nichts, gar nichts anderes.«
»Wie?!«
»Du willst mich nur benutzen und auslaugen.«
»Ich will was?«
»Dass das immer nur mir passiert! Das gibt es doch gar nicht.«
»Wie?«
»Ich werde es überleben. Irgendwie.«
»Was?«
Mit der flachen Hand schlug Tina ungläubig auf die Badezimmertür. Sie war sprachlos. Verwirrt ging sie zum Wohnzimmer zurück und bemerkte das Handy in ihrer Hand. Hastig hielt sie es an ihn Ohr und flüsterte:
»Hast Du das gehört, Anke?«
»Hab‘ ich. Du musst ja einen tollen Eindruck auf ihn gemacht haben, Tina.«
»Ach ja? Danke, Anke!«
»Bitte, Titte, äh, Tina. Nur sehe es doch mal nüchtern: der Mann hat voll die Komplexe. Wie alle Männer, wenn’s um Sex geht. Die wollen erst die Hure und bekommen sie dann diese vorgespielt, wollen Sie sofort die Heilige. Und dann gleich wieder umgekehrt. Alle elf Minuten kannst du das beim Online-Dating erleben.«
»Ich verstehe das nicht. Zuvor hatte er auch gesagt, er wäre geil auf Sex mit mir. Einfach Haut auf Haut, Körper auf Körper, jedem seinen Spaß und gemeinsam noch mehr zusammen erleben.«
»Keine Ahnung, was mit den Männern heutzutage los ist. Früher brauchte man nur den Arm auszustrecken und schon hatte Frau ein halbes Dutzend Hoch-Notgeile an jeder Hand und konnte sich den Besten aussuchen …«
» … und jetzt habe ich ein verhuschtes Exemplar im Bad. Wie krieg ich den da wieder raus?«
»Frag ihn, ob er Fußball mag.«
»Wieso?«
»Es läuft gerade das Länderspiel. Männer sind ja alle fußballgeil.«
Tina stand kurz auf und rief zur Badezimmertür:
»Magst du vielleicht Fußball schauen? Deutschland spielt.«
Sie lauschte intensiv. Keine Reaktion. Nicht das kleinste Geräusch. Sie schaltete den Fernseher ein und regelte die Lautstärke etwas hoch. Das Spiel lief bereits. Rechts oben entzifferte sie mühsam, dass es kurz vor Ende der ersten Halbzeit noch immer Null Null stand. Sie schlich zum Badezimmer und lauschte. Keinerlei Geräusche. Als ob das Bad leer wäre. Sie ging wieder zurück in ihr Wohnzimmer und flüsterte wieder in ihr Handy:
»Ich habe jetzt Fußball angeschaltet. Aber er rührt sich nicht.«
»Warte ein wenig. Mit Speck fängst du Mäuse, mit Fußball richtige Kerle und keine Weicheier.«
Tina antwortete nichts. Mit dem Handy am Ohr verfolgte sie das Spiel. Es war ein Ballgeschiebe um den Mittelkreis herum. Der Reporter nölte etwas von einem hoch-intensiven Spiel und erzählte planlos aus dem Leben der des deutschen Co-Trainers Ehefrau. Und bevor der Reporter überhaupt mit seiner ersten Anekdote fertig war, pfiff der Schiedsrichter zur Pause.
»Und, Tina?«
Tina blickte zum Badezimmer.
»Immer noch nichts, Anke.«
Als Pausenprogramm wurde Werbung gesendet. Tina schaltete auf einen anderen Kanal.
»’Dieter, Dieter!‘ ‚Oh, Claudia!‘ ‚Oh, Dieter, ich bin ja so glücklich!‘ ‘Claudia, ich bin so froh dich gefunden zu haben!‘ ‚Oh, Dieter!‘ …«
Tina blendete den Bildschirmtext ein. Offensichtlich ein Liebesfilm nach Ideen von Rosamunde Pilcher. Das Liebespaar küsste sich innig, Geigen fiedelten schmalzig im Hintergrund und blauer Himmel am weißen Sandstrand ummantelte die Szene. Das Paar lächelte breit und blickte sich tief in die Augen. Zuckersüß. Tina wollte umschalten, aber sie erwischte nicht den richtigen Knopf auf der Fernbedienung, stattdessen erhöhte sie die Lautstärke.
» … ‚Oh, Dieter!‘ ‚Oh, Claudia!‘ ‚Wollen wir heiraten?‘ ‚Wir müssen aber erst Mutter fragen, Claudia.‘ ‚Heute noch?‘ ‚Gleich.‘ ‚Ach, Dieter, du machst mich so glücklich.’«
Ein Bläser-Orchester setzte ein, eine einzelne Oboe heulte dazwischen herzzerfetzend auf. …
In dem Augenblick klackte es vom Badezimmer her. Tina zuckte zusammen und sah die Tür sich nach außen hin öffnen. Die offene Tür versperrte ihr die Sicht, aber sie sah ihn noch, in seinem sandfarbenen Anzug, hochaufgewachsen, stattlich, aber hastig, wie er zur Eingangstür entschwand. Sie hörte das Öffnen und danach die Tür ins Schloss fallen.
Tina stellte den Fernseher ab und ging zum Bad.
»Anke, ich glaube, er hat das Bad verlassen.«
Das Bad war leer. Im Waschbecken stand die geleerte Tasse Espresso, daneben sorgsam drapiert die Bananenschale und die Verpackung des Müsliriegels.
»Er ist weg.«
In Tinas Stimme schwang Enttäuschung mit.
»Hat er dort etwa gewichst?«
»Sieht nicht danach aus. Handtücher sind unberührt.«
»Sei froh, Tina, dass es so gekommen ist. Wer weiß, was der sonst noch mit dir angestellt hätte. Männer können so unberechenbare Schweine sein. Sei froh, …«
Tina beendete die Verbindung wortlos. Sie starrte noch immer auf das Waschbecken und die Reste darin.
Was er mit ihr angestellt hätte … . Ja, wenn er doch wenigstens …
Ankes Worte hallten in ihr nach.
Ich wollte doch bloß mal wieder Leidenschaft ohne Reue, waren ihre Gedanken. Sie strich über ihre Haare, seufzte, trug die Überreste in die Küche und ging in ihr Schlafzimmer. Sie starrte auf die bereit gelegten Kondome auf der Nachttischkommode und wieder entfuhr ihr ein Seufzen.
Leidenschaft ohne Reue.
Die Einladung an ihn reute sie nicht. Der Typ war eigentlich der Mr. Right, nur wohl ein wenig schüchtern. Oder stark verkorkst. Oder beides. Aber vor allem fehlte es ihm an der notwendigen Leidenschaft.
So nah dran, dachte sie, als sie sich auf Bett legte, das Kissen zu sich herzog, umklammerte und auf ihren Unterleib drückte. So nah dran … .