Schwarze Löcher und Grüße aus dem Schwarzen Internet

Was vorher geschah:
Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12, Teil 13, Teil 14

***

Geduldig hatte ich auf eine Reaktion von Herrn Küfer gewartet. Aber es kam nichts. Nicht eine Reaktion. Ich beschloss, Herrn Küfer erneut aufzusuchen. Schließlich war ich mit 50 Euro für die Kopierkosten in Vorleistung gegangen. Und ich wollte langsam aber sicher etwas dafür sehen. Kopien der PentAgrion-Papiere.

Wieder saß ich in dem Bus, der mich zu der Wohnung von Herrn Küfer bringen sollte. Die Bushaltestelle hatte sich nicht verändert. Selbst der Schneematsch schien so auszuschauen wie vor einem Monat. Der Weg führte mich wieder zu dem Gebäude, wo der Herr Küfer wohnte. Mein Blick wanderte erneut zur ersten Etage hoch. Die Wohnung erschien mir heller. Eigentlich zu hell für meine Erinnerung. Und dann fiel mir auf, wieso die Wohnung heller war: die Wohnung war offensichtlich leer. Beunruhigt beschleunigte ich meine Schritte. An der Eingangstür suchte ich das Klingelschild von Herrn Küfer. Ich fand den Namen nicht mehr. Stattdessen fand ich ein leeres Klingelschild. Eine dumpfes Gefühl beschlich mich. Ein Bewohner verließ das Gebäude und ich nutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob in dem Haus eine Wohnung frei sei. Er nickte. In der ersten Etage sei seines Wissens kürzlich etwas frei geworden. Ich solle mich an die Wohnungsgesellschaft wenden, sollte ich Interesse haben.

Wieder zu Hause rief ich die Wohnungsgesellschaft an und erkundigte mich nach der Wohnung in jenem Gebäude. Ja, die Wohnung sei frei geworden, aber noch nicht vermietbar. Auf meine Frage, was mit dem Vormieter geschehen sei, kam nur ein schlichtes „Keine Ahnung“ als Antwort. Offenbar sei der Vermieter urplötzlich Ende Dezember ausgezogen. Die Wohnungsgesellschaft hatte wohl ein handschriftliches Kündigungsschreiben mit allen Wohnungsschlüsseln erhalten. Als der Hausverwalter nachsah, war die Wohnung leer und besenrein. Das Seltsame an der Geschichte – so die Frau der Wohnungsgesellschaft – sei gewesen, dass der Vermieter keine Kontaktdaten angegeben habe. Schließlich sei die Frage der Rückzahlung der Genossenschaftsanteile an den Herren ja noch offen.

Ich fühlte mich wie Sysiphos, der kurz vorm Ziel wieder von vorne anfangen muss. Herr Küfer war also weggezogen. Aus welchen Gründen auch immer. Damit blieben mir wieder nur die Kontaktdaten aus Remagen.

»Guten Abend, Jürgen, hier ist Careca. Wie geht’s?«
Jürgen erinnerte sich erst, nachdem ich ihm wieder in Erinnerung rief, dass wir uns damals in Begleitung seiner Frau in Köln getroffen hatte. Als ich ihn auf PentAgrion ansprach, verwies er mich auf den Herrn Küfer.
»Herr Küfer wohnt dort nicht unter der Adresse, die Sie mir gegeben hatten.«
»Verzogen?«
»Unbekannt verzogen.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Ich glaubte von Jürgen einen leisen Fluch zu vernehmen, sicher war ich mir aber nicht.
»Stimmt was nicht, Jürgen?«
»Nichts. Alles in Ordnung. Nur dass mir Herr Küfer noch die Kopien der Pentagrion-Papiere zahlen sollte.«
»Er sagte so etwas in der Art.«
»Ich hatte ihm eine komplette Kopie zugeschickt. Aber er faselte nachher etwas von Transportschaden und das er nicht zahlen würde.«
»Er hatte mir seine Kopie gezeigt. Sie war nicht vollständig.«
»Du hast sie gesehen? Und sie war nicht vollständig?«
Ich bestätigte es ihm und erzählte von meinem Besuch. Ich erzählte ihm von der ehemaligen S-Bahnstation Oberwiesenfeld am Olympiapark, von den ›Nuru‹ und dass nach Meinung von Herrn Küfer Verbindungen der ›Nuru‹ zu Stonehenge,Choquequirão und Machu Picchu geben sollte.
Jürgen lachte.

»Ja, ja, die ›Nuru‹-Geschichte. Schon gehört? Letzte Woche wurde Machu Picchu evakuiert. Regenfälle hatten Touristen dort oben eingeschlossen und es drohte denen, dass Erdrutsche sie verschütten konnten. Aber zurück: Stonehenge,Choquequirão und Machu Picchu sind schon immer ein Faible von Herrn Küfer gewesen. Hat er Ihnen auch über PentAgrions erweiterte Theorie über Schwarzen Löcher erzählt?«

Ich verneinte. Jürgen holte aus und begann mit Steven Hawkins und dessen Theorien über Schwarze Löcher. Er erzählte mir, dass nach der lang läufigen Meinung der Physiker keine Information verloren gehe. Eine Information verschwindet nicht einfach. Das Wissen, welches die Menschheit durch ihre Individuen erlangt habe, verschwinde nicht einfach mit dem Tode der Individuen. Sie wird nur transformiert. Es wäre wie mit einen Würfel, der mit einem Hammer zerschlagen würde. Mit den dadurch entstandenen Einzelteilen – seien sie noch so klein und pulverisiert – könne der Würfel rekonstruiert werden. Das wäre natürlich mühsam und zeitaufwendig, aber nicht unmöglich. Ebenso wie es heute bereits gelänge antike Schriftarten zu dechiffrieren und so den Inhalt erfahrbar zu machen, so würden die Informationen auch mit dem menschlichen Tod nicht einfach verfallen. Klar, es fehle noch der Code, um diese Informationen zurück zu gewinnen. Aber wer möge behaupten, dass es unmöglich sei? Ebenso wie man letztens herausfand, welche Hautfarbe die Dinosaurierechsen hatten, und ebenso wie inzwischen aus Genen liest, so werde es möglich sein werden, alte Informationen zurück zu gewinnen.

Jürgen hielt kurz inne und lachte.

»Mitte der 90er hatte ich meinen ersten Computer. Einen 386er mit 40 Mega-Hertz. ›Mega-Hertz‹, wohlgemerkt, nicht Gigahertz. Und meine Festplatte hatte noch 20 Megabyte und der Speicher war üppig mit 2 Megabyte bestückt. Knapp 15 Jahre später habe ich jetzt schon Schwierigkeiten, meine Kopien des damaligen Betriebssystems jetzt noch zu nutzen. Aber mit den entsprechenden Kniffen ist es möglich. In weiteren 10 Jahren vielleicht nicht mehr. Und dann habe ich endgültig einige meiner auf CD lagernden Daten für immer verloren. Und das in nur einem Viertel Jahrhundert. Aber mit entsprechenden Tricks werden die Daten auch in der Zukunft auslesbar sein. Fragt sich nur, wen es dann noch interessiert. Meine damals angelegten Daten scheinen von ein Schwarzes Loch verschlungen zu werden. Aber wirklich verloren sind sie nie.«

Wieder lachte er. Er fuhr fort, mir von den Theorien der Schwarzen Löcher zu erzählen.

Steven Hawkins war der Wissenschaftler, der immer davon ausging, dass allein Schwarze Löcher die Macht hätten, Informationen zu zerstören. Letztendlich habe aber dieser Steven Hawkins dann seine Theorie – Informationen würden mit Hilfe eines Schwarzen Loches für immer verschwinden – widerrufen.

Ich versuchte Jürgen zu unterbrechen, denn ich verstand nicht wirklich, was er mir erzählen wollte. Jürgen war aber nicht mehr aufzuhalten.

»Stell dir vor, ein dicker, fetter Elefant käme in die Nähe eines Schwarzen Lochs. Der Elefant würde also im Begriffe sein, verschluckt zu werden. Automatisch würden die Körperteile des Elefanten, die dem Schwarzen Loch näher lägen, stärker angezogen als seine entfernteren. Angenommen wir hätten den Elefant im Fokus unseres Teleskops, wir würden sehen wie der Elefant sich zu einer Spaghetti verformen würde. Während einige Körperteile mit hoher Geschwindigkeit in das Schwarze Loch hineingezogen würden, hätten andere diese Geschwindigkeit noch nicht erreicht. Der Elefant würde in die Länge gezogen. Irgendwann würde dann der Elefant vom Schwarzen Loch verschluckt und absorbiert worden sein. Aber bereits als Spaghetti würden wir dem Elefanten den physischen Tod bescheinigen. Nur jetzt kommt das Phantastische.«

Er machte eine Kunstpause und ich stellte mir den Elefanten als Spaghetti vor, wie dessen Blutgefäße platzen würden, wie sich dessen das Elefantenhirn in die Länge ziehen würde, bevor es in viele kleine Fitzelchen in das Schwarze Loch fallen würde. Ein wenig von der imaginierten Filmwelt von Roberto Rodriguez, eine Prise Quentin Tarantino Vorstellungen und einen Schuss Splatter-Movie. Und alles vermixt in einem Schwarzen Loch im unendlichen Weltall. Mühsam konnte ich ein Gähnen unterdrücken.

»Der Elefant wird sich definitiv nie als Spaghetti sehen. Während wir meinen, er sei schon Tod, denkt sich der Elefant, er sei noch quicklebendig.«

Noch quicklebendig? Irgendwann hatte ich schon mal ähnliches gehört, dass die einen meinten, etwas sei tot, während es aber nicht wirklich tot war.

»Aber wird der Elefant nicht spüren, wie es ihn auseinander zieht, wie er zur Spaghetti wird?«

»Vielleicht wird er sich unwohl fühlen, vielleicht hat er Schmerzen, aber er wird sich als Einheit sehen, so wie er vorher war. Als dicker, fetter Elefant und nicht als Spaghetti.«

Mir erschien das unlogisch.

»Nein, das ist nicht unlogisch. Kennst du die Einsteinsche Relativitätstheorie?«

»Für die er den Nobelpreis erhielt?«

»Nein, dafür erhielt er nicht den Nobelpreis. Den erhielt er für was anderes. Die Relativitätstheorie handelt davon, dass von zwei unterschiedlichen Standpunkten aus, die Zeit unterschiedlich schnell vergehen kann.«

»Stimmt. Als Kind dachte ich die Vorweihnachtszeit bis Heilig Abend würde nie vorbei gehen. Als Erwachsener rast die Vorweihnachtszeit dahin und am 24. stehe ich dann immer in den letzten Einkaufsschlangen der Geschäfte mit meinen Last-Minute-Geschenken in der Händen.«

»Nein, das mein ich nicht. Ich meine, dass für den, der sich mit annähernd Lichtgeschwindigkeit bewegt andere Zeiten gelten, als der der den Sich-Bewegenden beobachtet. Der, der fliegt, für den dauern 10 Sekunden 10 Sekunden, was dem Beobachter mit festem Standpunkt aber als ein Jahr erscheint.«

»Sag ich doch. Vorweihnachtszeit.«

»Gleiches passiert auch in einem Schwarzen Loch sowohl mit der Zeit als auch mit der Dimension. Während die außenstehenden Beobachter meinen, der Elefant sei bereits tot, macht der Elefant gerade noch Pläne für einen Porzellanladenbesuch.«

Porzellanladenbesuch. So, so.

»Ähnliches hatte ich schon mal gehört. Jetzt fällt es mir wieder ein: Schrödingers Katze.«

»Ja, beide Themen sind miteinander verwandt.«

»Aber bei den Schwarzen Löchern, hast du gesagt, bleibt jede Information erhalten, ist rekonstruierbar.«

»Wenn man den Schlüssel dazu hat. Die Antagonisten zu Steven Hawkins haben darauf hingewiesen, dass Schwarze Löcher Materieklumpen mit höchster Dichte und höchster Anziehung sind. Informationen, die solch ein gieriger Materieklumpen verschluckt, wird auf der Hülle abgebildet werden und könne theoretisch rekonstruiert werden.«

»Theoretisch.«

»Theoretisch schon, weil die Informationen nicht verloren sind.«

»Also, wird es möglich sein, Goethes Faust in einem Schwarzen Loch zu archivieren?«

»Theoretisch schon. Ein Schwarzes Loch ist wie ein Informationsspeicher der Materie, die es verschluckt hat.«

»Und Steven Hawkins?«

»Er meinte anfangs, die Informationen würden zerstört und durch die Hawkinsstrahlung in die Unendlichkeit des Weltalls unrettbar und unwiederherstellbar abgestrahlt werden, weil Materie und Information voneinander endgültig getrennt würden. Erst 2004 hat er diese Ansicht widerrufen, weil er diese These selber nicht mehr halten konnte. Er hatte sich in seinen Berechnungen selber widerlegt gehabt und dieses dann öffentlich eingestanden. Seit 2004 sind also unsere Informationen von uns allen nicht mehr verloren.«

Ich schnitt am Telefon Grimassen. Wie gut, dass mich Jürgen nicht sehen konnte. Er würde das Gespräch sofort beendet haben. Jürgen meinte, ich würde ihm folgen. So richtig schaffte ich das aber nicht mehr. Mehrfach hatte ich mich erwischt, wie ich gedanklich weggedriftet war. Beim Quentin Tarantino und den Hirnfitzelchen dachte ich unwillkürlich an die Szene, als die Gangster das Fahrzeug in ›Pulp Fiction‹ säuberten. Mühsam hatte ich mich aus diesem Gedanken wieder herausgerissen und versuchte Jürgen erneut zu folgen. Aber es war schwierig.

Was hatte er gesagt? Was wird zerstrahlt? Was von wem getrennt? Verschlucken Schwarze Löcher nicht alles?

Das Schwarze Loch als Archivschrank des Weltalls. Faszinierend. Die Idee gefiel mir. Da eröffneten sich ganz andere Dimensionen: Sollte ich mal etwas verlegt haben, dann bräuchte ich nur zum nächsten Schwarzen Loch und dort würde ich es … stimmt, ich könnte mal mein Schlafzimmer aufräumen. Noch immer lebte ich seit dem Umzug aus meinen Koffern. Den neue Kleiderschrank hatte ich noch nicht benutzt.

Bekannt war mir schon, dass Körper sich in quantenmechanische Begriffe zerlegen lassen. Masse, Ladung, Drehimpuls stellen einige Definitionsgrößen dar und beschreiben die Natur einer Information. Selbst dieser niedergeschriebene Satz ließe sich mittels Masse, Ladung und Drehimpuls kleinster Teilchen nachstellen. Und das was ich gerade denke, ebenfalls.

»Und was haben Schwarze Löcher mit PentAgrion zu tun?«

»Es geht um Informationen. Wo verbleiben diese? PentAgrion hatte in diesem Zusammenhang auch vom Schwarzen und vom Weißen Internet gesprochen.«

Das Schwarze Internet. Und das weiße Internet. Stimmt. Davon hatte ich gelesen.

»Und das Schwarze Internet ist jetzt nichts anderes als eines Schwarzen Lochs?«

Jürgen lachte auf.

»Beide haben etwas gemein. Die Eigenschaft als Informationsspeicher.«
»Wobei, wenn ich mich erinnere, dass es da eine These des Pataphysikers Costers gibt. Costers These ist, dass die wirklich wichtigen Informationen Zug um Zug ins schwarze Internet abwandern würden, soweit sie nicht vorher schon da waren.«

»Stimmt. Costers These. Er hatte sie auch in Hinblick auf den Belgier Stijn Van de Voorde erstellt. Stijn Van de Voorde …«

»… hatte die Papiere des PentAgrions ins Internet gestellt gehabt.«

Es wurde kurz still. Jürgens darauf an mich gerichtete Frage war von einer Atemlosigkeit begleitet, die mich gruselte:

»Du weißt davon?«

»Ich las im Internet davon. Und dass das von Stijn Van de Voorde ins Internet hineingesetzte Traktat von PentAgrion wieder verschwunden ist. Als ob es in ein schwarzes Internet abgewandert sei. Wie in einem Schwarzen Loch.«

Jürgen schwieg. Die Leitung war still, fast wie tot.

»Jürgen?«

Keine Antwort.

»Jürgen??«

Und dann wie aus einem Nebel dringend, hörte ich seine Stimme:

»Es existiert, es existiert.«

»Was existiert?«

»Das Schwarze Internet.«

»Okay. Mag sein. Aber was ist mit PentAgrion?«

»Er hatte darüber geschrieben.«

»Ich möchte es lesen. Im Original.«

Ich hatte meinen Wunsch ganz unverblümt wie eine Forderung gestellt und wartete auf eine Reaktion.

»Ich brauche von dir Adresse, Telefon- und Faxnummer.«

»Bitte nicht per Fax. Das killt nur meine Papiervorräte und Faxkartuschen. Schick mir die Papiere per Post.«

»Und wer zahlt mir die Kopie der Papiere?«

Das alt-bekannte Thema. Ich gab ihm meine Adresse, Telefon- und Faxnummer und im Gegenzug erhielt ich von ihm seine Kontonummer. Vereinbart hatte ich mit ihm, einen Vorschuss zu zahlen. 80 Euro. Den Rest würde ich nach Erhalt der Papiere überweisen. Er wollte mir die Papiere Mitte Februar schicken.

»Aber mach mir keinen Scheiß wie der Herr Küfer, Careca.«

»Dann schicke mir das ganze als Einschreiben mit Rückschein. Ich zahle das ebenfalls.«

»Okay.«

Jürgen und ich verabschiedeten uns. Überraschend schnell verlief der Abschied. Eigentlich sehr schnell, wenn ich mir das vergangene Telefongespräch dazu vergegenwärtige. Der Blick auf meine Uhr verriet mir, dass wir beide wohl an die drei Stunden telefoniert hatten. Mein rechtes Ohr glühte leicht.

Seufzend ließ ich mich in meinem neuen Fernsehsessel nieder. Hatte ich es jetzt endgültig geschafft, die Papiere des PentAgrions zu erhalten?
Das Surren meines Faxgerätes ließ mich aufschrecken. Offenbar wollte Jürgen meine Faxnummer wohl verifizieren. Mühsam stand ich aus meinem Sessel auf und nahm das Faxblatt in Empfang:

»Sehr geehrter Careca,
ich musste leider aus privaten, persönlichen Gründen die Stadt München verlassen. Ich habe sie nicht vergessen. Sie werden wie vereinbart die versprochene Kopie der PentAgrion Papiere erhalten. Sobald diese per Post bei Ihnen eingetroffen sein werden, bitte ich Sie mir die noch ausstehende Zahlung auf folgendes Konto [KNR. … BLZ …] anzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Aloisius Küfer«

Wow.
Küfer lebte. Er war nicht spurlos verschwunden. Ich schaute auf den Kopf des Faxes, um die Nummer des Sender-Faxgerätes zu lesen.

»Copy-Laden Leineblick – Ihr Spezialist für Reproduktionsdienstleistungen – 051154«

Der Rest war unleserlich.
Küfer lebte. Und bald sollte ich zwei Exemplare der Papiere des PentAgrion in den Händen halten.

Erneut summte das Fax-Gerät. Während ich das vorherige Fax nochmals las – es war nicht von Herrn Küfer unterschrieben – nahm ich das neue Fax aus der Ablage. Flüchtig schaute ich über das Blatt und stockte. Ein auf der Spitze stehendes Pentagramm sprang mir entgegen und darunter in kleinen Buchstaben:

»Grüße aus dem Schwarzen Internet, dem Schwarzen Loch der -6Destruktiv—Informationen.«

Die Absenderfaxnummer lautete 0841-4071776. Die Nummer musste aus Ingolstadt stammen. Neben der Nummer konnte ich noch kryptisch die Buchstaben »MdCclxxvi« entziffern? Ein Rätsel?

Ich nahm das Blatt, schrieb schnell ein »Danke, wir kaufen nix« drauf und tippte die Ingolstädter Nummer ein. Mein Faxgerät zog das Blatt ein, surrte, wählte die Nummer und fing an, mit der Gegenstelle zu kommunizieren.

Ich ging mit dem Fax vom Küfer in die Küche, holte mir eine Cola aus dem Kühlschrank und schaute das Fax an. Bald würde ich in Besitz der Papiere des PentAgrions sein.

Im Wohnzimmer hörte ich mein Faxgerät wieder summen. Kurz darauf fiepste es zweimal. Ich ging zurück und schaute auf die Ablage. Dort lag wieder ein Fax mit einem Pentagramm. Ich hob es auf und schaute genauer drauf. Es war das Fax, welches ich mit meiner Anmerkung weggefaxt hatte. Unter meinem »Danke, wir kaufen nix« fand ich eine Zusatzanmerkung vom Absender. Ich hielt das Fax gegen eine Lampe. Die feinen Buchstaben wurden jetzt besser entzifferbar. Ich holte mir gerade eine Information aus dem Schwarzen Loch des Faxens zurück, dachte ich leicht ironisch und lächelte in mich hinein.
Anfangs glaubte ich nur Grüße zu lesen. Dann jedoch entzifferte ich immer mehr Buchstaben, bis ich letztendlich den Satz zusammen hatte.
Meine Überraschung war groß. Zweimal musste ich den Satz lesen, bis ich ihn nicht nur verstanden hatte, sondern auch dessen Inhalt erfasst hatte:

»Viele Grüße aus Ingolstadt.
Dein PentAgrion«

(Fortsetzung)

Weiße Flächen und eine S-Bahnstation

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***

Durch die Fenster des Wohnzimmers drang das fahle Dämmerungslicht des endenden Tages. Die dunkelbraune Schrankwand des Wohnzimmers schien das gedämpfte Licht der Tütenständerlampe in der Wohnzimmerecke aufzusaugen. Bereits unten von der Straße aus war die alles dominierende Schrankwand des Wohnzimmers sichtbar.

Mein Gastgeber war ein fast 60-jähriger, grauhaariger Herr. Sein Name war Aloisius Küfer. Dessen Adresse hatte ich von dem Ehepaar aus Remagen per Email geschickt bekommen.

Oder besser gesagt, mein alter Arbeitgeber hatte mein Email-Postfach eingesehen, jene Mail ausgedruckt und sie mir mit meinem Entlassungsschreiben zugeschickt. Die private Nutzung meiner Firmen-Email-Adresse wäre mir per Arbeitsvertrag nicht erlaubt. Und nachdem ich bereits eine erste Abmahnung wegen privater Nutzung von Firmeneigentum erhalten hatte, kam jetzt die fristlose Kündigung.
Mein Rechtsanwalt ist inzwischen mein bester Freund und meine Rechtsschutzversicherung sein Liebling. Nachdem meine Frau die Scheidung gefordert hat, ich darauf in eine eigene 1 1/2-Zimmer-Wohnung umzogen bin, hatte sie über ihren Rechtsanwalt 30% meiner Einkünfte für sich als Lebensunterhalt gefordert. Sie argumentierte damit, dass ich wegen meines Umzugs erheblich geringere Lebenshaltungskosten hätte und ich dementsprechend die Zahlung problemlos leisten könne.

Der Duft von Kaffee riss mich aus meiner Betrachtung der Schrankwand. 13 Türen und sieben Schubladen hatte ich gezählt. Alle waren geschlossen. Die gesamte Schrankwand wirkte auf mich erdrückend, monolithisch. Der Ausdruck »Schalker Barock« kam mir in den Sinn.

Aloisius Küfers hatte mir einen Kaffee hingestellt. In seinem dunkelgrauen Pullunder mit jenen Bürokraten-Ärmelschoner, dem darunter getragenen weißen Hemd mit der grau-gemusterten Krawatte wirkte er auf mich wie aus dem Heinz-Erhard-Zeitalter. Eine Kopie der Lieblingsfigur von Heinz Erhard, jenem Büroangestelltem ›Willy Winzigs‹. Küfers hellgraue Stoffhose war einwandfrei gebügelt. Die haarscharfe Bügelfalten in der Mitte der Hosenbeine ließen keinen Zweifel aufkommen: Küfer wollte ein ordentlicher Mensch sein. Als er sich in dem Cocktailsessel neben dem Sofa niederließ, zupfte er seine Hosenbeine hoch. Lange dunkelgraue Socken in seinen Filzpantoffeln kamen zum Vorschein.

Bis auf seine Schrankwand schien der Mann ein Faible für Grautöne zu haben. Seine Haare waren sauber gescheitelt und mittels Haarpomade auf seinem Kopf enganliegend, aber sie waren ebenfalls grau und deshalb machte Herr Küfer nicht wirklich einen strengen Eindruck. Trotz seines sauberen Scheitels und der grauen Hosenbügelfalten. Selbst sein Cocktailsessel und das Sofa, auf dem ich saß, waren grau. Und ebenso der Aktenordner, den er aus einem Nebenraum geholt hatte, er war grau. Herr Küüfer hatte ihn mir auf dem Nierentisch geöffnet hingelegt. Das niedrige Sofa machte es mir schwierig, in den geöffneten Ordner zu schauen.

»Sind das jetzt die Papiere des PentAgrion?«, wollte ich wissen.
»Nicht ganz.«
»Was heißt ›nicht ganz‹?«
»Es sind Ausschnitte. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass der Ethnologe PentAgrion zehn Jahre in seinen Aufzeichnungen niedergeschrieben hatte, dann wird Ihnen klar sein, dass dies nicht das Gesamtwerk ist.«

Ich schaute mir die Seiten im Ordner an. Es waren zweifelsohne Ausdrucke aus dem Internet, versehen mit dem Druckdatum und der Quelle, also der Internet-Adresse.

»Das Ehepaar aus Remagen meinte, dass Sie eine komplette Kopie aller Papiere des PentAgrion vorliegen hätten.«
»Nicht ganz. Sie hatten mir zwar alle Papiere kopiert zugeschickt, aber es gab wohl einen Transportschaden bei der Post. Die an mich gerichtete Sendung war jedenfalls in Unordnung. Mein Paket war aufgerissen und viele Papiere sind in Folge des Transportschadens verloren gegangen.«
»Warum haben Sie es nicht nochmals aus Remagen schicken lassen?«
»Eine komplizierte Geschichte. Ich bin mit dem Ehepaar in Streit geraten. Wegen einer Kleinigkeit.«
»Geld? Ging es um Geld für die Papiere?«
»So in etwa. Aber darüber möchte ich jetzt nicht reden. Wichtig ist erst einmal, dass die hier vorliegenden Kopien eh schon verdammt umfangreich sind. Und das ganze ist nicht einfach zu lesen.«

Ich blätterte in dem Ordner und überflog ein paar der Seiten sehr grob. »Der Gottesbeweis durch vollständige Induktion« hieß die Überschrift eines Kapitels:

»Es gilt zu beweisen, dass aus der Menge der natürlichen Zahlen für die Zahl n erst einmal n=1 gilt und dass damit die Eins-Existenz Gottes belegt wird. Auf dieser Basis hin ist dann lediglich noch zu zeigen, dass Gott für alle Zahlen n auch mit n+1 existiert. Denn existiert immer eine um eins größere Menge Gottes, dann ist einwandfrei mathematisch bewiesen, dass Gott existiert und gegen unendlich strebt. Somit wäre bewiesen, dass Gott allumfassend und größenunabhängig sein würde.«

Es folgten eine Reihe mathematischer Konvergenzkriterien und Formeln. Ich las nicht mehr, sondern versuchte das Ende dieser vollständigen mathematischen Induktion zu finden. Eine mathematische Antwort auf die einfache Frage des Gottesbeweises. Wie verführerisch.

»Hm. Ich finde das Ende der vollständigen Induktion nicht. Haben Sie das zufälligerweise irgendwo?«
Aloisius zuckte mit den Achseln.
»Ich bedaure. Leider gehört das Ende des Beweises zu den Seiten, die verloren gingen.«
»Hatten Sie mal in Remagen nachgefragt, ob der Gottesbeweis mit der vollständigen Induktion geglückt ist?«
Er schüttelte wortlos den Kopf. Offenbar hatte auch er keine Information dazu. Vielleicht auch wegen dem Streit zwischen ihm und den beiden aus Remagen. Der Streit war wohl wichtiger als die Antwort auf die Gottesbeweisfrage, sonst wäre die Antwort im Ordner abgeheftet gewesen.

Ich blätterte weiter. Auf einer Seite stach mir die Überschrift »Unter dem Pflaster liegt der Strand« ins Auge. Hieß nicht mal so eine Zeitschrift von dem jetzigen EU-Abgeordneten Daniel Kohn-Bendit und dem ehemaligen Außenminister Joschka Fischer?

Seiten später fiel mir unvermittelt ein Satz auf: »Auf Usjh gab es das nicht« Usjh? War das nicht der Planet, von dem PentAgrion stammen sollte? Ich las mir den Absatz quer. Er handelte über die Sucht von Ski-Fahrer, sich im Winter einer besonders verhassten menschlichen Tätigkeit hinzugeben: dem Sich-anstellen in Warteschlangen. Gerade im Winter erfreuten sich Menschen daran, lange Zeit in Warteschlangen zu verharren, nur um nachher einen Hügel oder Berg hochgezogen zu werden, um dem dann noch schneller wieder herunter zu kommen. PentAgrion hatte den Eindruck, der Mensch wolle das Weiße der Hügel auf diese Weise abtragen. Denn einen tieferen Sinn in dieser Handlung konnte er nicht erkennen. Auf ›Usjh‹ war ihm dieses irrationale Verhalten unbekannt. Weiß erschien PentAgrion als eine für die Menschheit verhasste Farbe. So verbannten die Menschen täglich unzählige Mengen weißer Stengel, ja sie entfachten die Glut der Stengel zielgerichtet durch das tiefe Luftholen der Menschen. Sie nutzten sogar zum eigenen Schutz Filter, um die Gefährlichkeit des inhalierten Rauches zu mindern.

RasenschildAndererseits fand PentAgrion heraus, dass auch die Farbe ›grün‹ als Bedrohung der Menschheit angesehen wird. Denn er traf oft Schilder, die das Betreten von Grünflächen gemeinhin als unerwünscht erklärten. Was PentAgrion dann allerdings überhaupt nicht verstand, war, dass die Ski-Fahrer solange ihrer Tätigkeit nachgingen, bis dass das ›weiߋ durch ›grün‹ weggefahren worden war. Kam ›grün‹ zum Vorschein hörten die Ski-Fahrer sofort auf zu fahren und betraten die grüne Fläche mit ihren Brettern nicht mehr. Andererseits streben die Menschen auf die höchsten Berge dieser Welt, um dort im tödlichen Weiß der Berggipfel als Eissäulen zu verenden. Das Betreten weißer Flächen ist bei den Menschen aber gemeinhin nicht unerwünscht. »Auf Usjh gab es das alles so etwas nicht« schrieb PentAgrion dazu noch einmal als Quintessenz.

»Was hat es eigentlich mit dem Planeten ›Usjh‹ auf sich?«
»Nun, es ist der Planet, von dem PentAgrion gekommen sein soll.«
»Ja, das weiß ich. Nur was bedeutet es? Steht zu diesem Planeten genaueres in den Papieren drin?«
Der Mann schüttelte verneinend seinen Kopf.
»Die Papiere geben nicht viel Informationen dazu. Der Planet ›Usjh‹ wird immer wieder erwähnt, mehr nicht.«
»Kein einziger Hinweis?«
»Nicht direkt. PentAgrion erwähnt, dass die Erde schon in früheren Zeiten von Bewohnern des Planeten ›Usjh‹ Besuch erhalten hat.«
»Wann früher?«
»Er gibt keine genauen Zeiten dazu an. Aber er erwähnt immer wieder das Volk der ›Nuru‹.«
»›Nuru‹? Etwa Sarah Nuru?«
Der Mann lachte.
»Immer wenn der Name ›Nuru‹ fällt, denken jetzt alle an das letzte ›Germans Next Topmodel‹ Sarah Nuru. Nein. Das Wort ›Nuru‹ kommt eigentlich aus dem Japanischen und heißt soviel wie ›schlüpfrig, glitschig‹. In Japan gibt es eine Form der Massage, die ›Nuru‹-Massage. Die Massierende ölt den Klientel ein und massiert ihn dann mit ihrem ganzen nackten Körper.«
»Also sind die ›Nuru‹ die Erfinder der erotischen Ganzkörpermassage?«
»Nein, nein. Überhaupt nicht. Das Volk der ›Nuru‹ erhielt seinen Namen vielmehr wegen ihrer Fähigkeit sich anzupassen. Unter Dicken waren sie dick, unter Dünnen dünn, unter Intelligenten intelligent und unter Dummen dumm. Die perfekten Chamäleons. Einige sollen den Inkas von Machu Picchu und Choquequirão angehört haben, andere sollen an den Kulthandlungen bei Stonehenge beteiligt gewesen sein. PentAgrion hat aber auch Hinweise gefunden, dass ›Nuru‹ bei den alten Germanen gelebt haben sollen.«
»Wer sagt das? Gibt es dafür Beweise?«
»Nein. Nur äußerst schwache Indizien, die PentAgrion zusammen getragen hatte.«
»Welche?«
»Die Einbeziehung der Astronomie in Kulthandlungen, Kultur und Philosophie.«
»Das soll spezifisch für die ›Nuru‹ sein?«
»Nein. Aber ›Nuru‹ waren wohl meistzeit darin involviert.«
»Die Spuren der ›Nuru‹ finden sich nur im Altertum?«
»Indizien, nicht Spuren. Denn jene Kulturen haben keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen. Jedenfalls keine, die in der heutigen Zeit dechiffrierbar sind. Nein, nicht nur im Altertum. PentAgrion fand Hinweise, dass die ›Nuru‹ auch in unserer Zeit noch leben. Selbst hier in Deutschland.«

Bei mir stellte sich ein hohles Gefühl in der Magengegend ein. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass diese Geschichte zu absonderlich wurde. Die Papiere des PentAgrions erschienen mir anfangs wie ein philosophisches Werk, aber jetzt erschien mir das ganze eher wie die Geschichte von Sektierern. ›Usjh‹. ›Nuru‹.

»Ich wette, Sie glauben, dass ich anfange zu phantasieren, nicht wahr.«

Ich schüttelte hastig verneinend meinen Kopf. Nur nicht unhöflich werden, dachte ich zu mir selber und versuchte interessiert drein zu schauen. Herr Küfer fuhr fort:

»Es wirkt alles recht unwirklich. Gerade wir Deutsche sind doch in Sachen Völkerfragen immer so sensibel. Das ist ja auch kein Wunder, denn wir sind ein ziemlich pluralistisches Volk: Bayern, Preußen, Schwaben, Badenser, Schlesier, Sudeten, Sachsen, Westfalen, Rheinländer, Ostfriesen und so weiter und so fort. Jedes deutsches Völkchen beruft sich offen auf seine Traditionen und das Recht, diese leben zu müssen und zu dürfen. Die ›Nuru‹ lassen sich aber nicht so offensichtlich in solchen Forderungen wiederfinden. Wie ich bereits schrieb, sie sind Chamäleons.«
»Sie meinen die ›Nuru‹ sind ein Volk nicht im Sinne eines Volksstammes sondern im Sinne einer Abstammung?«
»So in etwa. Sie sind ein Volk mehr in geistiger Hinsicht. Sie verstehen?«
»So wie das Volk der Dichter und Denker?«
»So in etwa.«
»Haben Sie Beweise?«
»Nein.«

Herr Küfer zuckte bedauernd mit den Schultern, während ich den Ordner weiter durchblätterte. Beim Blättern stieß ich auf Fotos. Eines zeigte eine alte Betonkonstruktion, es erschien mir wie eine alte trostlose Bahnstation. In der Bildunterschrift stand »S-Bahn Station ›Oberwiesenfeld‹« geschrieben.

»S-Bahn Station ›Oberwiesenfeld‹? Ist das hier in München?«
Herr Küfer nickte.
»Jene S-Bahn Station ›Oberwiesenfeld‹ ist besser bekannt unter dem Namen ›Olympiastadion‹. Sie war zwischen 1972 und 1988 in Betrieb. Seit der Fußball-EM 1988 verfällt sie. Inzwischen ist sie eine Ruine.«

Oberwiesenfeld

»Die Fotos sind aber nicht von PentAgrion.«
»Nein, sie sind von mir. Ich habe sie in den letzten Wochen gemacht. Die Bahnstation ist nicht so leer wie sie ausschaut. Schauen Sie mal hier.«
Er deutete auf das unterste Foto. Es zeigte eine Seite der mit Graffitis besprühten Wand des Betongebäudes.

Bahnhof

»Sehen Sie das? Da waren nicht nur Obdachlose, da existiert eine intelligente Untergrundkultur.«

Er erzählte mir darauf, dass er selber der Spurensuche des PentAgrions verfallen sei. Und er meinte inzwischen auch Spuren der ›Nuru‹ gefunden zu haben. Die Plakate an den un-einsehbaren Wänden der verfallenen S-Bahnstation stellten für ihn so ein Indiz dar.

Ich wusste nicht, wie ich auf dieses reagieren sollte. Innerlich spottete ich über den heiligen Ernst des Herrn Küfers. Nicht nur die haarscharfen Bügelfalten seiner Hose auch die ausgeprägten Kniffe in den grauen Sofakissen zeigten mir, dass Herr Küfer pedantischer Natur sein müsse. Was seine Lebensweise als auch seinen Forschungsdrang anbetrafen. ›Nuru‹. ›Usjh‹. Das erschien mir eher wie ein Auswuchs der Phantasie. Eine Manie. Der Versuch in allem ›PentAgrion‹ zu sehen, wo PentAgrion nicht drin war.

Ich fragte Herrn Küfer, ob ich eine Kopie seiner PentAgrion-Traktats erhalten könne. Die Kopierkosten würde ich ihm auch im Voraus auslegen. Die Papiere des PentAgrion waren es, weswegen ich den Herrn Küfer aufgesucht hatte. Nicht mehr und nicht weniger. Herrn Küfer stimmte mir zu, meinte aber, dass er es in diesem Jahr nicht mehr schaffen würde. Im Januar könne er mir sicherlich die Kopie aushändigen. Ich war einverstanden und reichte ihm 50 Euro mit einen Zettel meiner Telefonnummer. Herr Küfer nickte bedächtig, als ich den Ordner wieder schloss und ihm überreichte. Mit seinem Ärmelschoner wischte er sorgsam über den Ordner, als ob er Fingerabdrücke von mir wegwischen wollte.

»Also dann bis im Januar, Herr Küfer?«
»Bis im Januar. Es hat mich gefreut, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«

Draußen auf der Straße war es regnerisch kalt. Ich schlug meinen Jackenkragen hoch und stapfte durch den Schneematsch zur Bushaltestelle. Bis zum Januar, dachte ich mir und ich warf nochmals einen Blick zurück auf das Gebäude und die erste Etage, wo Herr Küfer wohnte.

Das Fenster schimmerte in der Dunkelheit. Es war mir, als ob der monolithische Schrankwandblock durch die Dunkelheit hindurch mir nachstarren würde. Aber in Wahrheit war da nichts.
Überhaupt nichts.
Nichts außer meine Einbildung.

(Fortsetzung)

Neugierde tötete Schrödingers Katze (Kneipengespräch)

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***

Tresen1

Ich starrte auf den Tresen. Er hatte mir geduldig zugehört. Bis seine Kölsch-Stange leer war. Dann orderte er eine neue, nahm einen Schluck daraus und schaute mich an.

– Wie furchtbar ist Wissen, wenn es dem Wissendem keinen Gewinn bringt.
– Du zitierst Lui Cifre aus dem Film „Angel Heart“?
– Ja. Und noch ein Zitat aus dem Film: Wie geschickt du dich an einen Spiegel heranschleichst, das Spiegelbild schaut dir direkt ins Auge.
– Ich bin nicht geschlichen.

Meine Kölsch-Stange war noch halb voll. Nur der restliche Schaum auf dem Kölsch schien mir eher „halb leer“ zu erzählen.

– Ich hatte dir ja erzählt, dass das Traktat von PentAgrion existiert. Du hast es ja selbst vor deinen Augen gehabt und auszugsweise gelesen.
– Es hat mir kein Glück gebracht. Es stand viel zu lesen drin.
– Und du hast viel erfahren, bei deiner Suche.
– Ich hab nicht gesucht.
– Stimmte, es hat dich gefunden.
– Gesucht. Gefunden. Wir haben uns getroffen. Zufällig.

Er leerte sein Kölsch mit einem weiteren Schluck. Der Wirt brachte ihm sofort ein neues und schaute mich dabei ironisch grinsend an.

– Und? Auch in Amsterdam nach PentAgrion gefahndet?
– Arsch.

Er lachte und entfernte sich wieder. Mein Nachbar setzte fort:

– Du hast einen Teil der Wahrheit gefunden.
– Meine Ehe ist ruiniert. Meine Frau will sich scheiden lassen. Momentan wohnt sie bei ihrer Mutter.
– Weil deine Frau eine der Möglichkeiten, warum man sich in einem Puff aufhalten kann, als die einzige Wahrheit gehalten hat.
– Ich meine, ich verstehe sie ja, dass sie glaubt, ich wollte dort. Aber sie glaubt mir nicht, dass ich nicht hatte.
– Sie sieht eine der Möglichkeiten als Wahrheit an.
– Was ist schon Wahrheit.
– Du zitierst den Statthalter Jerusalems, als er Jesus zum Kreuzigen verurteilt hatte.
– Na und?
– Angenommen ich werfe jetzt mein Kölschglas hoch, was passiert dann?
– Es wird auf dem Boden zerbersten.
– Warum sollte es so sein? Wenn ich das Glas hoch werfe und es zu Boden gefallen ist, dann weiß ich – ohne wenn und aber – ob es zerbrochen ist.
– Schön. Und was willst du damit sagen?
– Solange ich das Glas nicht geworfen habe, gibt es unter anderen die folgenden Möglichkeiten: das Glas zerbricht, das Glas bleibt ganz, das Glas erhält nur einen Sprung, das Glas bleibt oben, das Glas bleibt in der Luft stehen, das Glas löst sich in seine Atome auf, das Glas fällt ewig durch ein Loch ins Universum …
– Jetzt bleib mal auf dem Teppich. Das Glas wird auf den Boden fallen und zerbrechen.
– Nicht wahr? Das Ergebnis raubt uns alle Möglichkeiten, die ich mir gerade überlegt hatte, nicht wahr. Das Ergebnis macht arm.
– Schön. Und nochmals: Was willst du mir damit sagen?
– Die Wahrheit raubt uns alle Möglichkeiten. Das Ist an sich ist einfältig. Das Kommende, das Zukünftige, dagegen aber ist vielfältig. Nur die Wirklichkeit, also das Ergebnis, ist ohne Möglichkeit.
– Herr Oberspielleiter! Nochmals ein Kölsch für zwei! Der hier neben mir will in meinen Synapsen einen Kurzschluss verursachen.

Der Wirt blickte maliziös lachend zu uns herüber und fuhr fort, Gläser zu spülen. Mein Nachbar versuchte meinen Blick aufzufangen.

– Deine Frau hat eine Möglichkeit als Wahrheit ergriffen und damit dem Kommenden alle Zukunft beraubt. Sie hat euch eurer zukünftigen Vielfalt beraubt.
– Stimmt. Sie ist Schuld, dass ich im Puff war!
– Quatsch. Ich rede nicht von Schuld, sondern Verursachung und Ursache. Schuld ist eine moralische Frage.
– Aber darum geht es doch.
– Okay für dich schon. Aber nicht bei den Papieren von PentAgrion.
– Sondern?
– Gewissheit und Wissen machen arm. Das wurde bereits auch schon in der Bergpredigt der christlichen Bibel geschrieben: „Selig sind die, die geistig arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Anders ausgedrückt formuliert: Wissende werden mit Glücksentzug bestraft. So wurden auch Adam und Eva gleich aus dem Paradies geschmissen.
– „Sie wussten zu viel.“ Hört sich ja an wie in einem Mafia-Film. Der letzte Satz bevor der Schuss fällt und der Mitwisser röchelnd stirbt.
– Mag sein. Aber das Fehlen oder der Entzug von Glück hat die Menschheit weiter gebracht. Jemand, der immer ausgeglichen, zufrieden und selbstgenügsam ist, der empfindet niemals den Drang nach Forschung und Wissen. Und zu allem Verhängnis kommt auch noch hinzu, dass das Gefundene und Entdeckte nur kurzfristig zufrieden stellt.
– Und das heißt jetzt?
– Hättest du die Papiere von PentAgrion jetzt vor dir liegen gehabt, dann hätte dich diese Wahrheit aller Möglichkeiten beraubt gehabt.
– Und weil ich sie nicht vor mir habe, erlebe ich jetzt ein Chaos in meinem Leben?
– Eine Zukunft mit vielen Möglichkeiten.
– Super. Mir stehen wieder alle Frauen der Welt offen? In meinem Job kann ich wieder von vorne anfangen? Sind das die vielfältigen Möglichkeiten?

Ich griff nach meinem Kölsch und leerte es ärgerlich.

– Die Wissenschaftler haben für deine Situation ein herrliches Gedankenexperiment.
– Welches?
– Schrödingers Katze.
– Was für ne Pussy?
– In der Quantentheorie der Physik gibt es den Satz, dass Messungen physikalische Zustände beeinflussen. Beispielsweise hat jedes Wasserstoffatom ein Elektron, welches sich in einer Art Hülle um das Atom herum bewegt. Zusätzlich hat das Elektron auch noch eine Eigenrotation. Aber jedes Mal wenn dieser sogenannte Spin gemessen wird, kann der sich ändern. Es ist daher nur eine Momentan-Aussage über den Zustand möglich.
– Sind wir in einer Kneipe oder im Chemieunterricht?
– Warte. Schrödinger hatte aufgrund dieser Sache in einem Gedankenexperiment eine Katze in einer Holzkiste mit einer definierten Menge instabiler Atome gesetzt. Zerfällt jetzt ein Atom in der Kiste, löst dieses einen Mechanismus aus, der wiederum eine Zyankali-Kapsel zerstört, womit die Katze getötet wird.
– Danach hat Schrödinger sicherlich Probleme mit PeTA erhalten.
– Es scheint also nur zwei Zustände zu geben. Zustand 1: Atom ganz, Katze lebt. Zustand 2: Atom zerfallen, Katze tot. Jetzt befinden wir uns also auf Atomebene und das Atom befindet sich auf dem Weg zum Zerfall. Also befindet sich auch die Katze in einem Zwischenstadium aus Tod und Leben.
Aber dann brauch ich ja nur die Kiste zu öffnen, und schon sehe ich, ob die Katze tot oder lebendig ist.
– Genau. Und da greifst du in dem Experiment mit deiner Messung ein und veränderst die Realität. Tot ODER lebendig, während sie vor deiner Messung Tot UND Lebendig war.
– Curiosity kills the cat. Neugierde tötet die Katze.
– Richtig. Die Messung und die Befriedung des eigenen Wissens bestimmt den Zustand der Katze. Sie greifen in die Wirklichkeit ein und rauben vielfältige Zukunftsmöglichkeiten.
– Wie? Sollte die Katze etwa spurlos aus der abgeschlossenen Kiste verschwinden? Sie kann doch nur tot oder lebendig sein. Die Chancen sind 50:50.
– Mit dieser Annahme und Erzwingung der Wirklichkeit raubst du dir die Zukunft. Deine Frau nimmt an, dass du im Puff zum Vögeln warst. Sie wird dir nie glauben, dass du in Architektur und mathematischen Verhältnissen weiter gebildet wurdest.
– So ein Quatsch!
– Bestimmten Heiligen wird die Fähigkeit der Bilokation nachgesagt. Sie sollen zeitgleich an zwei verschiedenen Orten aufgetaucht sein.
– Das kenne ich von Handwerkern. Wenn man die braucht, sind die überall und nirgends. Aber nur nicht dort, wo man sie braucht.
– Andere Heilige sollen über die Fähigkeit des Fliegens, der Levitation, verfügt haben. Schließt man dieses aber von vornherein aus, dann bleibt nur der Schluss, dass es sich hierbei um fromme Legenden handeln muss.
– Du glaubst doch nicht etwa an den Quatsch?

Er schaute mich lächelnd an. Doch, er glaubte daran. Diese Antwort schien ihm auf der Stirn gemeisselt.

– Was wäre, wenn es kein Quatsch wäre?
– Dann müsste Bilokation und Levitaion reproduzierbar sein. Warum sollte es nur von Heiligen beherrschbar sein?
– Im alten Ladakh in Tibet gibt es Mönche, die von sich behaupten, dass sie es beherrschen.
– Und warum tun sie es dann nicht, um Zweifel auszuräumen?
– Weil es denen nicht wichtig ist. Weil es die ganzen anderen Materialisten in die Verzweiflung treiben würde. Denn deren existentialistisches Leben bar jeder vielfältigen Zukunft ist nicht nicht das der Mönche. Wie furchtbar ist Wissen, wenn es dem Wissendem keinen Gewinn bringt?

Ich rollte mit den Augen. Mein Kölsch neigte sich wieder dem Ende entgegen. Proportional zu meinem Unverständnis dem gegenüber, was er mir da so erzählte.
Ich setzte noch einen neuen Versuch ihn zu verstehen:

– Und die Papiere von PentAgrion?
– Wären sie Realität geworden, hättest du sie vor dir, dann hätten sie dein Leben einfältiger und einfarbiger gemacht.
– Eintöniger?
– Du hast die Messung nicht vollzogen, die Kiste zu Schrödingers Katze noch nicht geöffnet. Du kannst nicht definitiv sagen, das Atom sei zerfallen und die Katze deswegen tot. Die Katze schwebt für dich noch immer zwischen tot und lebendig.
– Tot oder lebendig?
– Tot UND lebendig! Erst wenn du in die Kiste hinein schaust kannst du das Wort ODER nutzen. Vorher ist der Zustand zwischen den beiden Extremen.
– Soll das heißen, nur wenn ein höheres Wesen uns beobachtet, dann kann damit etwas über unseren Zustand ausgesagt werden? Jemand, der unser Biotop wie unter einem Mikroskopenauge betrachtet, und dann seine Erfahrungen vom aktuellen Zustand niederschreibt ? Damit wir es lesen? Damit wir wissen, wer wir sind?
– Du sagst es. Wie PentAgrions Papiere, die PentAgrion in seiner zehnjährigen Aufenthaltsphase zusammengestellt hatte.
– Und solange diese Papiere nicht der Öffentlichkeit wieder zugänglich sind, sondern lediglich bei einigen wenigen herum fliegen, solange interpretieren wir nur unsere Welt unzulänglich?
– Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert. Letztendlich kommt es ja darauf an, sie zu gestalten.
– Jetzt hast du fast Karl Marx zitiert. Aber der Marx hat in Schrödingers Kiste auch nicht hinein blicken können.
– Einige haben es vor 20 Jahren aber getan.
– Und dann haben sie festgestellt, dass die Katze nicht gefüttert wurde, der Sozialismus tot verhungert war.
– Dafür haben sie sich konsequent des „Oder“s angenommen und die Mauer fallen lassen.
– Eine Warnung für uns heute. Wir sollten den Blick in der Kiste Schrödingers dem Kapitalismus verbieten. Sonst bliebe uns wieder nur ein ODER.
– Wiederholungen gefallen nicht.
– Und wer weiß dann schon, vielleicht existiert die Kiste mit Schrödinger seiner Katze auch gar nicht. Vielleicht ist unsere Kiste zum Öffnen lediglich die verkleidetet Büchse der Pandorra und alles käme noch schlimmer.
– Ja, wer weiß.

Das Thema war zerredet.
Wir saßen schweigend nebeneinander.
Während ich meine Kölschstange schweigend auf dem Tresen drehte, fragte ich mich, ob sich mir ein zweites Mal die Chance bieten würde, nach Remagen zu reisen, um an die Papiere des PentAgrion zu gelangen.

Draußen wurde es dunkel. Ich zahlte. Um 18:00 hatte ich noch einen Termin beim Scheidungsanwalt.

PentAgrion und seine Papiere.
Ich wurde das Thema nicht los.

(Fortsetzung hier)

Auf den Weg zu den Papieren des PentAgrions

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Längst sitze ich nicht mehr am Hotelfenster, wenn ich jetzt aus einem Fenster hinaus schaue. Mueder_JesusDas Hotelzimmer konnte ich wieder mit meinen eigenen vier Wänden tauschen. Irgendwie geht das Leben weiter. Nur, getrennt in den eigenen vier Wänden zu leben, ist schwierig. Im Endeffekt ist ein gemeinsames Leben manchmal wie ein Ausziehtisch: Ausgezogen gibt es für alle mehr Platz.

Die Suche nach dem PentAgrion-Traktat habe ich für mich beendet. Meine letzte Hoffnung, noch eine Kopie der Papiere zu erhalten, war hinüber, als ich meine Hose in dem Waschsalon in die Waschmaschine schob. Ich zog es beim Bügeln sauber gefaltet und gewaschen aus der linken Hosentasche. Das Faltblatt, welches ich in Köln erhalten hatte, vom Jürgen aus Remagen, der mir eine Kopie zuschicken wollte. Lediglich der Goethe Text vom Hexen-Einmaleins war dort noch zu entziffern:

„Du mußt versteh’n! / Aus Eins mach Zehn, / Und Zwei laß geh’n, / Und Drei mach gleich, / So bist Du reich. / Verlier die Vier! / Aus Fünf und Sechs, / So sagt die Hex’, / Mach Sieben und Acht, / So ist’s vollbracht: / Und Neun ist Eins, / Und Zehn ist keins. / Das ist das Hexen-Einmaleins!“

Auch ohne dieses faustische Gedicht hatte ich bereits Probleme „eins“ und „eins“ zusammen zu bringen. Die Fülle der Informationen hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes überwältigt, aber dem Ziel, dass zu erkennen, was sich dahinter verbarg, ein Stückchen näher zu kommen. Mir erging es wie dem Jesus, den ich über einer Dominikanerkirche in Rottweil antraf: Ratlos. Da saß ich nun ich armer Tor, klüger war ich nicht geworden. Diese Situation frustrierte, weil das ganze Wissen ohmächtig machte. Was nützt das ganze Wissen, wenn man damit nichts anfangen kann.

Hermann Hesse hatte mal geschrieben:

„Echte Bildung ist nicht Bildung zu irgendeinem Zwecke, sondern sie hat, wie jedes Streben nach Vollkommenen, ihren Sinn in sich selbst.“

Vielleicht lag ja hierin der Schlüssel zu den Papieren des PentAgrions.

Goethe verfasst einen Brief an Karl Ludwig von Knebel, dem Hofmeister des Prinzen Konstantin in Weimar, mit folgenden Sätzen:

„Die rechte Art, ihm beizukommen, es zu beschauen und zu genießen, ist die, welche Du erwählt hast: es nämlich in Gesellschaft mit einem Freunde zu betrachten. Überhaupt ist jedes gemeinsame Anschauen von der größten Wirksamkeit; denn indem ein poetisches Werk für viele geschrieben ist, gehören auch mehrere dazu, um es zu empfangen; da es viele Seiten hat, sollte es auch jederzeit vielseitig angesehen werden.“
(Brief vom 14. November 1827)

Philosophenweg

Vielleicht müsste das Traktat von PentAgrion genauso behandelt werden. Vernetzt betrachtet, wäre dem auf die Spur zu kommen. Auf mich allein gestellt konnte die Suche nach dem Wissen um die Papiere des PentAgrions nur sinnlos sein und in einer privaten Katastrophe enden. Alleine und zu Fuß war der Weg zu den Papieren nicht beschreitbar.

Diese Erkenntnis vermochte mich allerdings nicht wirklich zu trösten. Jenes Gefühl, einen Zipfel der Erkenntnis zu erlangt zu haben und das dieser mir dann entwischt ist, dieses Gefühl war nicht wirklich erbaulich. Wie gewonnen, so zerronnen. Der Weg zu den Papieren des PentAgrions hatte sich mir verschlossen.

Es bleibt nur noch die letzte Hoffnung, dass sich der Zipfel von jenem Mantel der Geschichte noch wiederfindet, der den Blick auf die Papiere des PentAgrion verschleiert.
In der Hoffnung, dass sich bei solch einer Gelegenheit erklärt, was es mit den Papieren des PentAgrion nun wirklich noch auf sich hat, leite ich an dieser Stelle die Einladung zur langen Deniere-Lesenacht bei Trithemius weiter:

Einladung-Lesenacht

Fortsetzung

Maxwells Silberhammer

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Draußen ist Vollmond, während ich diese Zeilen in meinem Zimmer schreibe, der 2. November 2009.

Dem Vollmond werden starke Kräfte nachgesagt. Hexen reiten dann auf ihren Besen, einsame Werwölfe streifen durch nebelverschleierte Wälder, Eulen haben besonders große Augen und Fledermäuse fleddern im Lichte des Vollmondes außer Motten und Mücken auch noch Kühe, Ratten und Menschen. Hunde jaulen wehmütig den Vollmond an, weil sie vermuten, was wir bereits seit Langem wissen: Da oben wohnt kein Mensch. Eine menschenfreie Zone.

Ich sitze hier und lecke mir meine Wunden. Heulen könnte ich wie ein Hund. Die Ereignisse hatten sich mit jener Polizeikontrolle verselbständigt. Die Polizei nahm mich mit, weil ich meinen Personalausweis nicht dabei hatte. „Wir müssen Ihre Personalien auf dem Revier überprüfen. Kommen Sie bitte mit“, waren die Worte des Polizeibeamten. Unter Aufsicht durfte ich mich anziehen und nach etlichen Stunden des Wartens wurde ich gegen vier Uhr morgens in ein Polizeirevier gefahren. Eine knappe halbe Stunde später stand ich wieder an der frischen Luft, orientierungslos nach einem Taxi Ausschau haltend.

Bei meinem Abschied vom Revier meinte der protokollierende Polizeibeamte nur noch:
„Sie erhalten einen Anhörungsbogen von uns geschickt. Wir brauchen noch weitere Angaben von Ihnen. Sie sollten es Ihrer Frau beichten, damit ihr Schock nicht zu groß wird.“

Das war jetzt allerdings mein kleineres Problem. Ich war hundemüde und hatte zu allem Überfluss auch noch den Geschäftstermin in Wuppertal-Elberfeld vor mir. Im Hotel angekommen war mein erster Gang zur Kaffeemaschine vom Frühstücksbuffet. Ich schenkte mir eine große Tasse ein und ging Richtung Aufzug. Den ersten Schluck nahm ich noch vor dem Aufzug, den Zweiten im Aufzug, den Letzten, als ich die Code-Karte in den Türschlitz zu meinem Zimmer schob. Den Mischhebel der Dusche hatte ich auf „kalt“ gestellt. Trotz heißem Kaffee und kalter Dusche war ich noch immer nicht so richtig wach. Eine halbe Stunde später stand ich erneut vor dem Kaffeeautomat.

Kurz vor sieben. Der Termin war für elf angesetzt. Ich setzte mich in der Hotellobby in eine der Sessel, um noch bis zur Abfahrt ein wenig Zeitung zu lesen. Als mich der Hotelangestellte weckte, war es bereits fast zehn Uhr. Meine Kalkulation, rechtzeitig vor elf in Wuppertal einzutreffen, wurde am Leverkusener Kreuz gründlich zunichtegemacht. Entsprechend begeistert war dann der Anruf meines Chefs.

„Da spendiere ich dir einen Wellness-Abend und du übertreibst es. Hast du wenigstens den Mietwagen heil gelassen?“
„Ich konnte nichts dafür, ich bin in eine Polizeikontrolle geraten.“
„Ja, ja, ja, Ausreden hast du dauernd auf Lager. Aber erst die Arbeit und dann das Vergnügen, Junge!“
„Das ist keine Ausrede!“
„Und noch was: Wenn du jemanden unsere Faxnummer gibst, dann stelle vorher sicher, dass damit kein Faxspam geschickt wird. Einer deiner sauberen Freunde hat 50 Seiten Müll übers Pentagon gefaxt. Einen Termin schmeißen und dann noch geschäftliche Nummern für Privates nutzen, du kannst dich auf eine scharfe Abmahnung einstellen.“

Mein Chef warte meine Antwort nicht mehr ab und legte auf. Na, toll. Ich befürchtete, dass das, was mein Chef „Pentagon-Faxspam“ nannte, offensichtlich die Papiere des PentAgrion gewesen waren. Ich versuchte, unsere Teamassistentin anzurufen, um in Erfahrung zu bringen, ob die 50 Seiten noch aufbewahrt oder bereits weggeschmissen waren. Nach fünf Minuten hatte ich die Teamassistentin am Telefon. Sie reagierte kühl und distanziert. Ja, sie hatte das Fax entsorgt. Nein, es wäre ihr egal, ob es „Pentagon-“ oder „PentAgrion“-Papiere seien, sie würde die Papiere nicht wieder aus dem Müll fischen. Und süffisant fügte sie hinzu, zudem könne sie nicht mehr weiter telefonieren. Sie würde gerade an einer Abmahnung für denjenigen schreiben, der das Wuppertal-Projekts geschmissen hätte. Noch bevor ich mich rechtfertigen konnte, hatte sie aufgelegt. Ich schien beliebt wie die Pest.

Den dunkelblauen Audi TT neben mir auf der Autobahn hatte ich nicht beachtet gehabt. Erst als aus dessen Seitenfenster energisch winkend eine rote Polizeikelle auftauchte, merkte ich, dass es etwas Besonderes mit den beiden Fahrern auf sich hatte. Nach dem Vollstrecken der Formalitäten (ein Punkt in Flensburg und 40 Euro für das Telefonieren hinterm Steuer) und der Bemerkung, dass ich etwas übermüdet aussehe, konnte ich weiter fahren.

Drei Staus später kam ich am Kölner Flughafen an. Die Fahrzeugrückgabe zog sich in die Länge. Der Mann an der Rückgabestation ließ sich beim Begutachten der Karosserie Zeit. Der Mann war einer der gründlicheren Sorte. Sorgen machte ich mir deswegen aber keine, denn mein Flug ging am frühen Abend und Zeit hatte ich ja genug.

Zeit. Kaum hatte ich das Wort gedacht, wurde mir klar, dass ich die mir verbliebene nicht richtig genutzt hatte. Das Mietfahrzeug hatte ich nicht vollgetankt zurückgegeben. Somit erhöhte der Mann die Rechnung pauschal um 100 Euro. Super. Wie sollte ich das meinem Chef erklären? Die 100 Euro durfte ich selber tragen, da war ich mir sicher.

Zeit. Zu allem Überfluss hatte der Flieger auch noch Verspätung. Eine Stunde. Da konnte ich die Personenüberprüfung innerlich für mich zum Sicherheitsbereich des Flughafens schon als soziale Zuwendung wegbuchen. Der Sicherheitskontrolleur meinte es besonders gründlich mit mir. Dreimal schickte er mich durchs Metalldetektor-Portal. Beim zweiten Mal ohne Schuhe, beim dritten Mal ohne Gürtel. Aber das Portal wollte nicht schweigen. Danach griff er mich manuell ab. Letztendlich musste ich meine Krawattennadel abgeben. Er meinte, ich könne sie als Waffe verwenden. Meine Proteste blieben wirkungslos. Selbst sein Chef war der Meinung, mit meiner Krawattennadel würde ich die Flugzeugsicherheit gefährden.

Zeit. Von der erhielt ich im Laufe des Abends noch genügend. Der Flug wurde wegen technischer Probleme annulliert und ich auf den ersten Flieger am nächsten Morgen gebucht. Ich beschloss am Flughafen zu bleiben, denn ich befürchtete, würde ich in ein Hotel gehen, ich könnte verschlafen. An einem Kiosk kaufte ich mir ein Buch, eine Ersatzkrawattennadel und drei Flaschen Kölsch als Einschlafhilfe. Eine Sitzreihe diente mir als Schlafgelegenheit. Der Weckdienst kam pünktlich gegen fünf Uhr morgens: Ein Schäferhund begleitet von zwei Polizeibeamten. Eine Personalausweiskontrolle später erhielt ich den Hinweis, dass mein Schnarchen Lärmbelästigung gewesen wäre und ich nicht mehr weiterschlafen dürfe.
An einem Kiosk organisierte ich mir Kaffee.

Das Warten auf meinen Flieger in zwei Stunden hatte begonnen. Ist es erwähnenswert, dass mein Flieger mit einer Stunde in München landete? Oder interessiert es wen, dass der Triebwagen meiner S-Bahn für weitere Verspätung sorgte? Oder dass mir mein Chef kurz angebunden per Handy Urlaub bis zum Ende der Woche verordnete? Der nächste Schicksalsschlag erwartete mich dann zu Hause. Im Grunde war es aber nicht wirklich eine Überraschung. Die Polizei arbeitete schneller, als ich mir dachte. Meine Frau hatte den Briefumschlag bereits geöffnet gehabt und las das Schreiben und den Anhörungsbogen. Sie erwartete mich bereits am Wohnzimmertisch, den Brief vor sich liegend. Es war ihr gleichgültig, ob ich nur Kölsch getrunken hatte oder ob ich eine Frau gebucht hatte. Für sie zählte allein die Absicht und der Wunsch mich nicht mehr in der Wohnung zu haben.

Draußen ist Vollmond, während ich diese Zeilen schreibe, an diesem 2. November. Durch das Hotelzimmerfenster starre ich hinaus in die Nacht. Der Mond erleuchtet den Hinterhof. Am Fenster gegenüber konnte ich ein Pärchen ausmachen. Und das gibt sich jetzt bei geöffnetem Fenstervorhängen dem klassischen Akt hin, worum mich wahrscheinlich jetzt alle Spanner dieser Welt beneiden werden.
Im Hintergrund startete das kleine Nachttischradio, ein altes Beatles-Lied zu spielen. Ein Déjà-vu der letzten Tage:

Joan was quizzical / Johanna war skeptisch
Studied pataphysical / studierte pataphysische
Science in the home. / Wissenschaft zu Hause.
Late nights all alone / Nachts mutterseelenallein
With a test tube. / mit einem Reagenzglas
Oh, oh, oh, oh.

Maxwell Edison
Majoring in medicine / Studienschwerpunkt Medizin
Calls her on the phone. / rief sie an
„Can I take you out to the pictures, / Kann ich dich ins Kino ausführen?
Joa, oa, oa, oan?“

But as she’s getting ready to go, / Als sie sich aber zum Ausgehen fertig macht
A knock comes on the door. / klopf es an ihrer Tür.

Bang! Bang! Maxwell’s silver hammer / Bäng! Bäng! Maxwells Silberhammer
Came down on her head. / traf sie auf ihren Kopf

Bang! Bang! Maxwell’s silver hammer / Bäng! Bäng! Maxwells Silberhammer
Made sure she was dead. / stellte sicher, dass sie tot war.

quoted lyric by The Beatles

(Fortsetzung hier)

Le Corbusier und der Versuch, einem weißen Kaninchen zu folgen

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9

***

Ich kam zurück zum Hotel. Mein Kampf mit dem Mietwagen zuerst über den völlig zugestauten Kölner Ring und dann noch über den Kölner Hohenzollernring hatte ich mit stoischer Geduld gemeistert. Direkt gegenüber dem Hotel am Waschsalon hatte ich auch einen kostenlosen Parkplatz ergattern können.

So ganz hatte ich die Ereignisse nicht verdaut. Zuerst das Aufwachen mit der Erinnerung an die Träume, dann der Besuch bei Jürgen und den Papieren, die ich gelesen hatte, und dann noch jene Frau in der Appolinaris-Kirche.

Die Frau sagte, dass ich einem Phantom hinterher jage. Bei meinem Besuch zuvor schien ich entweder auf die Papiere oder deren Fragment gestoßen zu sein. Zumindest wollte Jürgen mir eine Kopie davon schicken. Und dann war da auch noch mein Kneipenkollege, der mich einen Abend lang über PentAgrion, Illuminaten, Volkswagen, Hannover und einem Trithemius zugetextet hatte.

Wenn es das Traktat oder die Papiere des PentAgarion wirklich geben sollte, dann müsste ich ja bald eine Kopie in den Händen halten, so vermutete ich. Denn Jürgen hatte ja am Schluss eindeutig „Papiere des PentAgrion“ gesagt gehabt.

Auf dem Hotelzimmer schaute ich auf mein Handy. Eine SMS von meinem Chef:
„Wuppertal-Elberfeld morgen gegen elf ist bestätigt. Viel Spaß noch beim Wellness. Ich empfehle das ‚Samya‘. Lass aber den Mietwagen ganz!“

Wellness. Fast hätte ich das vergessen. Es kam mir jetzt irgendwie gelegen. Vielleicht konnte ich diesmal entspannen und das ganze PentAgrion-Gesummse vergessen. Schlecht wäre das nicht. Ich nahm eine freundliche Dusche und zog mir legere Kleidung an und fuhr in die Hotellobby hinunter.

Nur, wo gab es in Köln diese Wellness-Gelegenheit ‚Samya‘? Ich fragte die Hotelangestellte an der Rezeption.

„’Samya‘? Das liegt in Köln-Rodenkirchen. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“
„Ja, bitte.“

Samya. Komischer Name. Er hörte sich arabisch an. Vielleicht eines der neuen Hamam-Bäder. Sollte mir recht sein. Das würde mich auf andere Gedanken bringen.
Das Taxi kam recht bald. Ich nannte ihm den Namen, der Taxifahrer nickte und und schon ging die Fahrt los. Die Fahrt war recht schweigsam und es gab nur eine kurze Konversation:

„Was heißt eigentlich ‚Samya‘?“
„Das ist arabisch und heißt ‚der Schein‘.“
„Aha. Und wieso heißt es ‚der Schein‘?“
„Ihr habt vielleicht komische Fragen.“

Mehr Gespräch war nicht. Selbst das Bezahlen lief beinahe beängstigend schweigend ab.
Vor mir lag ein fast quadratischer Bau mit einem versteckten Parkplatz und ebenso verstecktem Eingang. Mit ausgestrecktem Zeigefinger drückte ich den kupfernen Klingelknopf und der Türsummer antwortete. Ich trat ein. Eine Frau empfing mich und erklärte mir, dass sich die Saunen mit dem Swimming-Pool im Keller befänden. Handtücher, Getränke und Abendessen wären im Preis von 50 Euro inbegriffen. Massagen und so müsse ich extra mit dem Service-Personal verrechnen. Sie redete so emotionslos, fast so, als ob es nicht sie wäre, die reden würde, sondern eine Sprachpuppe. Sie schaute mich auch nicht an. Ich hatte das Gefühl irgendwie nicht wirklich anwesend zu sein. Als ich den Fünfziger auf den Tresen legte, griff sie mechanisch zu und reichte mir ein weißes Bündel. Ein großes Handtuch. Sie wies mir den Weg zu den Umkleiden und den Duschen und verschwand danach wieder.

Um es kurz zu machen: Ich musste feststellen, nicht in einem Wellness-Club zu sein. Als ich den Bereich der Kasse verlassen hatte, war mir sofort klar, dass das ‚Samya‘ nicht wirklich ein Wellness-Club war. Und wenn, dann war der nur für Männer gedacht. „Bordell“ wird so etwas ganz desillusionierend bezeichnet. „Wellness-Club“ ist für so etwas eine beschönigende Bezeichnung. „Puff“ trifft es besser.

Ich erinnerte mich an ein Zitat von Clark Gable, warum er den Service von Prostituierten in Anspruch nehmen würde: „Weil ich sie danach heimschicken kann …“. Hier war es auch nicht schwer: Weil ich danach einfach gehen kann und dann hast du sie nicht mehr gesehen.

Ich überlegte kurz, ob ich mein Eintrittsgeld zurückfordern sollte, um dann zu gehen, oder ob ich bleiben sollte. Es erscheinen Engelchen und Teufelchen auf meiner Schulter: Engel links, Teufel rechts und fingen an, in mein Gewissen zu reden. Ich hatte mich inzwischen umgezogen und stand unter der Dusche. Irgendwie müssen die dabei von meinen Schultern weggespült worden sein. Ich hörte beide nicht mehr, als ich mich im Erdgeschoss an die Theke setzte.

„Kölsch?“

Der Kellner wedelte mir mit einer leeren Kölschstange vor der Nase herum. Ich nickte. In Sichtweite lag das Buffet. Ein Blick zeigte mir Kroketten, Reis, Geschnitzeltes, Würstchen, Suppe und Brot.

Es mag vielleicht sich extrem seltsam anhören, aber die ganzen PentAgrion-Gedanken waren wie weggewischt. Meine Gedanken waren bei den Mädchen, die hier am Tresen saßen oder die an mir vorbei liefen. Mir kam das Ganze irgendwie paradiesisch vor. Schickt die ganzen Gotteskrieger hier her, da finden die ihre Jung-Frauen und können mit dem vielen Geld, von dem die Bomben und Granaten kaufen, hier paradiesische Zustände erleben. Und die anderen Menschen könnten ihr Leben unbeschadet weiterleben.

Ein Mädchen setzte sich zu mir. Sie stellte sich als ‚Fabiana‘ vor. Wir kamen ins Gespräch. Es war trotz der Situation in dem Bordell vollkommen asexuel. Anfangs. Denn wie in jedem deutschen Gespräch fällt nach den ersten Anschnuppersätzen die Frage nach dem „was machst du denn so“.

So erklärte ich ihr, was ich so tagsüber trieb und sie erzählte mir, dass sie Studentin sei. Sie würde Architektur in Aachen studieren. Ja, nee, is klar, Studentin. Musste ja so sein. Mir fielen die zahlreichen deutschen 70er Jahre Jodelpornos ein. Dort waren die Darstellerinnen alle Studenten und sexbesessen. So etwas zieht immer als Legende und auch hier zur perfekten Illusionserfüllung.

„Und was behandelt ihr so gerade? Irgendetwas spezielles?“
„Meier.“
„Meier?“
„Richard Meier. Wir nennen ihn bei uns Studenten scherzhaft auch immer wieder mal ‚Privatsekretär Meier‘.“
„Wer ist das?“
„Ein US-amerikanischer Architekt.“
„Erzähl.“
„Er konstruierte weiße Einfamilienhäuser und Villen, die die Ideen von Le Corbusier verwirklichen.“
„Welche Ideen?“
„Die Ideen, die Goldene Zahl so oft wie möglich in den Gebäuden einzuarbeiten.“

Goldene Zahl? Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder. Sie meinte doch wohl nicht die Fibonacci-Folge?

„Du weißt, was die Goldene Zahl ist?“

Ich verneinte probeweise.

„Die Goldene Zahl ist eine Konstante, welche das Verhältnis zweier Zahlen zueinander regelt. Sie taucht sowohl in der Natur auf, ist aber nicht so offensichtlich wie die Kreiskonstante Pi. Aber man kann sie auch mittels einer Zahlenreihe bestimmen. Der sogenannten Fibonacci-Folge.“

Ich hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Wollte ich mich hier erholen? Meinetwegen auch Sex haben? Oder mich gleich wieder PentAgrion-Theorien aussetzen? Wenn eine Idee jemanden verfolgt, dann wohl entsprechend Murphys Gesetzen: dort, wo du es nie erwartest. In meinem Fall überall.

„Sagt dir ‚Le Corbusier‘ etwas?“

Nein, den Namen hatte ich noch nie gehört.

„Le Corbusier war einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Aber viele kennen ihn nicht.“
„Hat er Bedeutsames hinterlassen?“

Sie lachte.

„Und wenn schon. Viele werden es nicht bemerken. Er hat sogar versucht, das menschliche Wesen auf ein Maßsystem zurückzuführen. Er nannte das System ‚Modulor‘.“
„Modulor? Hm. Nie gehört.“
„Kennst du Josephine Baker?“
„Die mit den Bananen-Röckchen?“
„Genau die. Le Corbusier hatte die in Brasilien kennnen gelernt und ist ihr dann auf einen Dampfer von São Paulo nach Montevideo gefolgt. In Le Corbusiers Kabine hat sie dann für ihn gesungen und sich von Le Corbusier nackt zeichnen lassen.“
„Wann war das?“
„1928. Ich wette, die hat sich nicht nur nackt zeichnen lassen. Der hat die auch gepoppt.“
„Aber die Baker war doch verheiratet.“
„Na und? Hier kommen doch auch verheiratete Männer und Frauen ins ‚Samya‘. Du glaubst doch nicht, dass Le Corbusier und die Baker sich die Situation haben entgehen lassen, mal so ordentlich ne Nummer zu schieben.“

Bei ihren letzten Worten sah sie mich eindeutig zweideutig an. Sie hatte mir gerade eine Offerte gemacht, dessen war ich sicher. Aber noch wollte ich nicht drauf eingehen.

„Was war das mit Le Corbusiers Modulor?“
„Le Corbusier nahm als menschliches Standardmaß ein Meter dreiundachtzig an. Und mittels der Goldenen Zahl entwickelte er dann die sogenannte „rote Zahlenreihe“ und die „blaue Zahlenreihe“. Jede nachfolgende Zahl stand zu ihrer Vorgängerzahl in dem Verhältnis der Goldenen Zahl. Und mit diesen Zahlenreihen werden Räume und Möbel konstruiert und errichtet.“
„Die rote und die blaue Pille.“

(In his left hand, Morpheus shows a blue pill.)
Morpheus: You take the blue pill and the story ends. You wake in your bed and believe whatever you want to believe. (a red pill is shown in his other hand) You take the red pill and you stay in Wonderland and I show you how deep the rabbit-hole goes. (Long pause; Neo begins to reach for the red pill) Remember — all I am offering is the truth, nothing more.
(Neo takes the red pill and swallows it with a glass of water)

Sie lachte.

„Ja, der Film „Matrix“ und die beiden Pillen.“
„Ich hatte von der Goldenen Zahl und der Fibonacci-Folge schon gehört. Fibonacci hat doch die Folge mittels populationsfreudigen Hasen entwickelt, oder nicht?“
„Hat er. Mit poppfreudigen Hasen. Die haben nicht viel gelabert, die kamen gleich zur Sache. Darum jetzt meine Frage an dich, mein Bester: Willst du dem weißen Kaninchen folgen?“
„Wie?“
„Im Buch ‚Alice im Wunderland‘ lockt das weiße Kaninchen Alice in seinem Kaninchenbau. Ich habe ein weiße Kaninchen auf meinen Schultern. Wollen wir in meinem Kaninchenbau der Fibonacci-Folge näher auf den Grund gehen?“

Sie drehte ihre Schulter mir zu. Wirklich, sie hatte ein weißes Kaninchen auf ihrem Schulterblatt tätowiert. Ich wollte antworten. In dem Moment ging das Licht an. Geblendet schloss ich meine Augen. Links von mir sah ich uniformierte Menschen in den Raum strömen. Auf der anderen Seite entstand kurz eine Hektik, ein Mann und eine Frau rannten die Treppe nach unten. Vier Uniformierte folgten sofort.

Dem weißen Kaninchen konnte von mir nicht mehr gefolgt werden. Das weiße Kaninchen saß erstarrt vor der Schlange. Fabiana hockte bleich geworden auf ihrem Barhocker. Sie erinnerte mich an mich selber, wie ich letztens in Remagen selber auf der Straße stand: Wie Loths Frau.

Aus dem Pulk der Uniformierten links von uns löste sich ein Individuum in Zivil und schaute in die Runde von uns Halbnackten:

„Polizeikontrolle. Jeder bleibt an seinem Platz. Wir werden jeden nacheinander bei jedem die Identität feststellen. Bleiben Sie bitte ruhig.“

(Fortsetzung hier)

Ist Wasser verdünnbar?

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8

***

Ich saß auf einem Felsvorsprung. Lange Zeit war ich gewandert, um mich hier hinsetzen zu können. Das heißt, ich bin nicht aus eigenem Verlangen hierher gewandert. Vielmehr hat mich irgendetwas hierhin getrieben. Obwohl ich jetzt hier auf diesem Felsvorsprung saß und glaubte, ans Ziel gelangt zu sein, fühlte ich, dass es jetzt erst richtig rund gehen würde.

Unter mir lag so eine Art brodelnder Sumpf. Immer wieder schlug er Blasen. Und trotzdem erschien mir, da unten noch etwas mehr als nur bloßer Sumpf zu sein. Angestrengt schaute ich in den Sumpf und nach einiger Zeit erkannte ich, dass dort unten noch anderes Leben war. Irgendwas versuchte da unten, sich dem Ufer entgegen zu arbeiten. Manche Lebewesen schafften es, bis zum Ufer zu gelangen. Hatten sie jedoch gerade eine Hand auf das rettende Ufer gelegt, wurden sie von einer unsichtbaren Macht in die Mitte zurückgezogen.

Solange ich auch zuschaute, keiner schaffte es, je das Ufer zu erreichen.
Doch.
Jetzt.
Ein Lebewesen zog sich mit allerletzter Kraft aufs rettende Ufer und richtete sich auf.
Mein Gott, es war ein Mensch!

Jetzt sah ich auch andere, die sich ans Ufer zogen. Anscheinend haben die sich die ganze Zeit ans Ufer gezogen, aber mir war das wahrscheinlich wehen ihrer braunen, drecküberzogenen Körper und ihrer langsamen Bewegungen in diesen braunen Pfuhl entgangen. Jetzt entdeckte ich auch noch andere mitten in diesem Sumpf, die wie einige andere Menschen in dem See verbissen um ihr Leben kämpften, resignierend aber aufgaben, um dann zu versinken.

Mir war übel. Ich fühlte mich elend. Hier oben ich und da unten die. Und ich konnte nichts für sie tun. Wankend drehte ich mich um. Ich tat einen unsicheren Schritt nach vorne und dann sah ich ihn. Er kam auf mich zu.

„Du? Du hier?“
„Wo du bist, bin auch ich.“
„Und das als PentAgrion?“
„Nenn mich, wie dir beliebt.“
„Wer hat dir gesagt, dass ich hier bin?“
„Nur du.“
„Was soll das heißen?“
„Siehst du den Sumpf da unten?“
„Ja.“
„Es ist der Sumpf der Erkenntnis.“
„Der Sumpf der … Was?!?“
„Jeder Mensch muss in den Sumpf der Erkenntnis.“
„Sag mal, bist du blöd im Kopf?“

Er sah mich lächelnd an.

„Wieso sagst du nichts?“

Er lächelte mich immer noch an und machte einen Schritt auf mich zu. Unwillkürlich wich ich zurück. Was hatte er vor?

„Lass mich in Ruhe!“

Doch offensichtlich hörte er nicht mehr auf mich. Lächelnd machte er erneut einen Schritt auf mich zu.

„Bleib, wo du bist!“

Er hörte nicht. Nochmals trat ich einen Schritt zurück. Ich merkte sofort, dass dieser Schritt einer zu viel war. Wie eine dünne Eisschicht brach der Boden unter mir weg. Ich stürzte ab.
Immer wieder sah ich, entweder wie der immer noch lächelnde PentAgrion sich von mir entfernte oder wie mir der Sumpf in rasendem Flug entgegen kam.
Als Letztes sah ich den Sumpf, wie er mir entgegen raste. Oder besser gesagt, ich sah eine braune Fläche, deren Oberflächenstruktur mir immer deutlicher wurde und dann knallte ich auf.

Es war nur so ein dumpfes Gefühl, aber dies genügte, um mich vollständig aus den Träumen in die Realität zurückzuholen.

Mit offenen Augen lag ich im Hotelbett. Der Schreck saß mir noch in den Knochen. Nachdenken über den Traum, konnte ich jedoch nicht mehr lange, da ich bald wieder ruhig eingeschlafen war.

Wo Berge sind, da sind auch Täler und manche sind ziemlich sumpfig. Nun hatte ich eines dieser Täler gesehen, war dem entkommen und hatte mich wieder auf den nächsten Berg hochgekämpft. Oben war es kalt, aber auch die dünne Luft klar.

„Na endlich hast du es geschafft.“
„Ich kann nicht mehr.“
„Schau, Careca, da unten das Tal!“
„Tal?“
„Vor dir.“
„Ach so.“
„Hey, du bist nicht gerade begeistert davon?“
„PentAgrion, ich bin kaputt. Ich bin unaufhörlich gewandert. Mehrmals ausgerutscht und den Berg runtergerutscht, ich hab mir Wunden zugezogen, die gerade erst geheilt sind und jetzt da ich diesen verdammten Berg, den du einen ‚Hügel‘ nennst, bezwungen habe, da willst du mich schon wieder für ein Tal begeistern, eine ‚Untiefe‘ wie du so etwas sprachlich dauernd beschönigst, nur damit ich nachher wieder herabsteige? Und wenn ich da unten bin, was dann? Dann werde ich vielleicht feststellen, dieses Tal ist total versumpft, dass es eine einzige Sumpfblase ist? So wie das Letzte, wo ich hineinstürzte? Nein, mein Freund, ich will hier oben bleiben, die Aussicht genießen, mich erholen, an der kühlen klaren, dünnen Luft berauschen, in den Tag hinein träumen, die Sonne genießen.“
„Du genießt die Aussicht, erholst dich, träumst in den Tag hinein, genießt die Sonne und vergisst, dass es vor dir etwas viel Aufregenderes gibt, was vielleicht Überraschungen für dich bereithält. Schau dich um, Careca. Du siehst hier viele andere Menschen, die nicht über diesen Berg gekommen sind, die in deiner kühlen klaren, dünnen Luft berauscht der Höhenkrankheit erlegen und erfroren sind. Menschliche Eissäulen, festgefroren auf diesem Berg hockend. Irgendwann, wenn du von dem vielen Träumen, Erholen und Genießen müde bist und du versuchst dich davon zu erholen, dann wirst du das Tal vielleicht sehen und plötzlich träumst du von einem grünen Tal, voll von Bäumen, von einem Sonnenuntergang hinter den Bergen, davon, dass sich im Tal bestimmt mehr Leben abgespielt hätte, dass dort alles eine Veränderung, eine wirklich permanente Veränderung durchmacht und dass nicht das Tal morgen genauso aussieht, wie hier oben diese ungastliche Stein- und Schneewüste, sondern ein völlig anderes Gesicht hat. Aber deine Träume werden Träume bleiben, da du zu müde bist, hinabzusteigen. Ein besseres Zuhaus als hier oben findest du unten allemal. Komm mit ins Tal hinab.“
„Ich bin im Augenblick zu müde, PentAgrion.“
„Oder vielleicht einfach nur berauscht durch diese unwirkliche Welt hier oben?“
„Nein, das nicht. Aber wieso können wir hier auf diesem Berg keinen Wald anpflanzen? Denselben Plan wie mit dem Tal hier oben auf den Berg übertragen?“
„Weil hier oben keine Bäume in den Himmel wachsen können.“
„Woher willst du also wissen, dass es da unten im Tal klappt?“
„Ich vertrau darauf.“
„Du vertraust darauf? Gut, PentAgrion, aber gesetzt den Fall, dort unten befindet sich kein nährreicher Boden, kein Sumpf, den man urbar machen könnte? Gesetzt den Fall wir treffen da unten nur eine zweite Steinwüste an?“
„Du wirst keine Steinwüste antreffen. Das ganze Regenwasser, das diesen Berg herab floss, hat sich dort unten gesammelt und mit dem Wasser potenten Nährboden für Pflanzen herausgeschwemmt, direkt aus den Ritzen dieses Berges. Der Weg dahin ist nie umsonst. Sollte wirklich da unten nur Steinwüste sein, dann bist du so oder so verloren. Denn ohne Regenwasser, das dann nie gefallen wäre, verdurstet du auch hier oben wie da unten.“
„Aber wenn da unten nur Wasser ist und kein Boden? Woher willst du wissen, dass das Tal fruchtbar ist?“
„Schau nach unten, Careca. Du siehst nur eine braune Fläche. Keine sandfarbene oder bläulich schimmernde Fläche.“
„Aber, wenn da unten schon einer ist, der dieses Tal beschlagnahmt hat?“
„Glaub mir, Careca, du bist nicht umsonst über diesen Berg gekommen. Glaub mir das.“
„Und wenn es eine Sumpfblase ist, dieses Tal?“
„Das Tal ist eine Sumpfblase und es wartet nur auf eine Hand, die es befruchtet, die es ergrünen lässt. Es wartet auf dich. Es wartet darauf, dass du in diesem Tal Leben rein bringst. Dieses Tal gehört dir. Ganz allein dir. Du wirst eins werden mit diesem Tal und irgendwann wirst du in die anderen Täler reinblicken können, weil es dir nichts mehr ausmacht, die anderen Berge zu überwinden.
„Du hast mich verwirrt, PentAgrion. Du redest so irr, aber doch auch so logisch. Ich werde dir vertrauen. Kommst du mit runter?“

Der Wecker fiepte unerbittlich.
Mühsam wälzte ich mich aus der Hotelbettwäsche.
7:30 Uhr.
Die Zeit für den ausgeschlafenen Angestellten.
Guten Morgen, Arbeit.
Zuerst jedoch eine freundliche Dusche. Aufwachen findet bei mir unter fließendem Wasser statt.

Ich hatte krude Träume gehabt. Nicht nur die beiden, von denen ich oben schrieb. Da war auch noch der Traum mit den Papieren. Normalerweise erinnere ich mich nicht an solche. Aber diesmal hingen mir einige Traumfetzen wie Gemälde in meiner Erinnerung nach. In einer Straße lief ich auf und ab. Papier umwehte mich. Bedrucktes Papier. Ich hatte versucht ein Papier zu ergreifen, aber es rutschte mir immer wieder aus meinen Händen. Auf einem konnte ich ein Pentagramm erkennen, auf einem meinte ich, das Wort „PentAgrion“ zu lesen. Auf wieder einem anderen las ich das Wort „Vanderford“. Ich hatte es versucht mit einem Kugelschreiber zu korrigieren, aber der Kugelschreiber in meiner Hand war ohne Miene und mein Versuch das Wort in „van de Voorde“ zu ändern, führte dazu, dass ich das Blatt zerstörte. Weitere Blätter umwehten mich, ich las das Wort „Usjh, König von Juda“ auf ihnen, sie bildeten mit ihren Seiten ein Fünfeck.

Darauf wachte ich auf. Die Dusche war für mich die Gelegenheit, mich von diesen irren wirren Traumbildern frei zu waschen.

(Fortsetzung hier)

Pythagoras wissenschaftliche Zahlen, Alexanders unwissenschaftliche Reise und eine Loseblattsammlung

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7

***

Panorama Rhein Remagen

Remagen. Stadt am Rhein. Ein weißer Fleck auf meiner privaten Landkarte. Die Stadt sagte mir nicht. Na gut, fast nichts. Von dem Hollywood-Schinken „Die Brücke von Remagen“ hatte ich gehört. Nur gesehen hatte ich den Film nie.

Die Fahrt verlief ohne Komplikationen. Es herrschte kaum Verkehr. Ich passierte Städte, deren Namen ich zuvor maximal einmal gehört hatte. Bad Breisig. Niederbreisig. Sinzig. Nett anzuschauen. Aber sie sagten mir nichts. Links Eichenwald, rechts der Rhein.

„Sie ist raus in den Wald zu einer alten Eiche gegangen, um ihre Monatsblutung vor Mondaufgang im Moos zu lassen. Dort sammelt sie auch immer ihren Reisig und schneidet Misteln und Kräuter.“

Eine beschauliche Landschaft mit mutmaßlichen Herrenhäusern und Einfamilienhäusern zog an mir vorüber. Die vielen Schilder „Zimmer frei“ verrieten mir, dass jetzt wohl gerade keine Hauptsaison herrschte.

Auf der Höhe von Remagen bog ich in die Stadt ein. Mein GPS-Führer hatte das Haus von der Kölner Bekanntschaft in der Nähe der Kirche „St. Peter und Paul“ angegeben. Unterhalb der Kirche fand ich einen freien Parkplatz. Ohne lange zu überlegen, parkierte ich mein Fahrzeug direkt vor einer recht jungen Eiche.

„In der Eiche wohnt auch ein Raabe. Man sagt, dass er ausschließlich zu Vollmond immer und immer wieder nur ein Wort krächzt. Es soll ‚Ascher‘ heißen. Warum er nach einem Aschenbecher verlangt, kann aber niemand wirklich erklären.“

Ich schloss mein Fahrzeug ab und nahm die Treppe, die steil hoch zur Kirche führte. Umgeben war sie von alten Grabkreuzen verstorbener Remagener zu einer Zeit, in der der Kirchhof der Friedhof bestimmter Remagener war. Mein Weg führte an einem Torbogen vorbei, der mir seltsame Szenen zeigte. Eine prägte sich mir stark ein. Es war ein König mit Ratten in den Händen, in einem Korb sitzend, gehoben von zwei Vögeln. Kurz danach passierte ich ein archäologisches Museum. Ich war auf dem richtigen Weg und etwas später drückte ich einen Klingelknopf.

Jürgen war zu Hause. Er war überrascht und fragte mich, warum ich mich telefonisch vorher nicht gemeldet hätte, aber andererseits meinte er, ich wäre ihm auf alle Fälle willkommen. Er führte mich ins Wohnzimmer zu einer hellbraunen Sitzecke mit einem Glastisch davor. Im kurzen Small-Talk erklärte ich, dass ich zufälligerweise in der Nähe zu tun gehabt habe und dass ich mich an deren Einladung am gestrigen Abend erinnert hatte. Er nickte verstehend.

„Normalerweise sehen wir die Bekanntschaften nicht mehr wieder, wenn meine Frau denen das Faltblatt gegeben hatte. Am Anfang sind ja noch alle begeistert, aber wenn sie das Blatt denn gelesen haben, dann verschwinden die. Im seltensten Fall rufen die an und erklären uns, dass wir auf dem Pfade des Teufels seien.“
„Im Schatten der Kirche ‚St. Peter und Paul‘ sollte der Teufel doch keine Chance haben, oder?“, versuchte ich das Gespräch in leichtere Fahrgewässer zu ziehen.

Meine Lust an philosophische Exkursionen war gering. Von philosophischen Diskussionen verstehe ich nicht so viel und meistens enttarne ich mich dabei immer als philosophisches Leichtgewicht. Das wollte ich vermeiden. Aber ich sollte keine Chance haben.

„Der Schatten der Kirche? Aber dahin hat die Kirche doch ihre Teufel verbannt. Ins Dunkle hinein, da wo die Kirche ihre Schatten wirft.“

Ich nickte. Soviel wusste ich auch noch aus meiner Schulzeit. Luzifer war der gefallene Engel, der eigentlich ein Lichtbringer sein sollte. Weil er aber nicht brav genug war, hat ihn der Erzengel Michael mit dem Flammenschwert aus dem Himmel geschmissen. Seitdem muss Luzifer sein Reich der Schatten in Eigenregie organisieren und managen, während seine ehemaligen Kollegen das bereits organisierte Paradies Eden verwalten durften.

„Hast du das Faltblatt meiner Frau gelesen?“
„Nicht ganz.“
„Nicht ganz?“

Ich erklärte ihm ein wenig verlegen, dass ich keine Gelegenheit hatte, das Blatt zu lesen. Zumindest hätte ich aber bemerkt, dass dort Pentagramme zu finden seine. Er lachte.

„Ja, die Pentagramme, die bemerkt jeder. Du weißt, was Pentagramme sind?“

Klar weiß ich, was Pentagramme sind. Fünfzackige Sterne. Ein Endlossymbol wie das Haus vom Nikolaus, was ich als Kind mit meinen Fingern so oft in den Wintern innen an beschlagenen Busscheiben gemalt hatte. Und ein Symbol der Hexen. Und Wikka leite sich doch wohl irgendwie von Hexen ab, fügte ich hinzu. Wo denn seine Frau sei, wollte ich wissen. Er lächelte ironisierend und antwortete, sie sei da, wo man Hexen vermute. Unter Eichenbäumen ihre Rituale verfolgend und Reisigbesen schnitzend. Er meinte es offensichtlich nicht ernst, aber wieso er mir diese Antworten gab, erschloss sich mir nicht. Daher fragte ich auch nicht weiter nach. Und Jürgen verlor auch darüber kein weiteres Wort.

Stattdessen griff er hinter sich in ein Regal und nahm fünf gleichlange Holzstäbe heraus. Ich solle eine einfache Figur auf dem Tisch damit legen. Ich überlegte nur kurz und legte ein Fünfeck. Er erklärte mir nun, dass die Diagonalen im Fünfeck – die dann das Pentagramm bilden – jeweils immer um den Faktor „1,618“ länger seien. Das sei erstmal nichts Besonderes. Aber dieser Faktor „1,618“ sei in Wahrheit eine Zahl, die nicht ganzzahlig mit Brüchen darstellbar sei. Und das Besondere sei an ihr, dass der Kehrwert (also 1 geteilt durch „1,618“) das gleiche Ergebnis habe, wie wenn man dem Faktor einfach „1“ abziehen würde. Mathematiker bezeichnen diese Zahl als die Goldene Zahl. Sie habe die Bezeichnung Φ (sprich: Phi).
Jeder kenne die Zahl π (sprich: Pi) und jeder wisse, dass diese Zahl notwenig sei, um Flächeninhalte oder Umfänge von Kreisen zu berechnen. Und gewiefte Leute würden statt mit der exakten Kreiszahl π mit dem Bruch „355/113“ hinreichend genau rechnen.
Auch die Konstante Φ ist mittels eines Bruches aus zwei ganzen Zahlen darstellbar. Eine davon ist die Berechnung mittels einer bestimmten Zahlenreihenfolge. In dieser Folge wird die jeweils nächste Zahl mit der Summe der beiden vorangehenden gebildet. Begonnen wird mit „0“ und „1“. Somit ergibt sich die folgende Reihe:
0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, 233, 377, 610 ...
Diese recht einfache Folge wird auch als „Fibonacci“-Zahlenfolge bezeichnet. Bildet man nun das Verhältnis aus den jeweils letzten beiden Zahlen, dann erhält man immer eine bessere Annäherung an die Konstante Φ .

So sind die Werte der Kreiszahl π wie auch die Konstante Φ nicht mittels Brüchen darstellbar, sondern maximal annäherbar. Dieses wurde schon damals bei den alten Griechen entdeckt, erklärte mir Jürgen. Insbesonders bei der Gruppe der damaligen Pythagoreer. Diese Menschen hatten sich damals der reinen Mathematik verschrieben und waren der Meinung, dass jegliche Zahl mittels einer Bruchzahl aus zwei ganzzahligen Zahlen darstellbar wäre. Auf dieser Annahme fußte deren göttliche Weltordnung und viele vertrauten den Pythagoreern. Die Welt erschien berechenbar und göttlich geordnet. Nach Pythagoras leiten sich alle Harmonien aus dem Verhältnis ganzer Zahlen ab. Je einfacher, desto schöner.
Selbst in der Musik schien diese Harmonie zu gelten.
Aber Pythagoras hatte bereits entdecken müssen, dass die verbindende Gerade bei einem gleichschenkligen Dreieck nicht mittels ganzzahligen Zahlen darstellbar ist. Und dann tauchte noch das Fünfeck und mit dem Fünfeck das Pentakel auf. Und gerade das bei der Zahl „5“, welche den Pythagoreern als Zeichen der Vervollkommnung stand. Jene Zahl „5“, welche mit seinem Punkt den bestehenden drei Dimensionen eine neu hinzufügte (die Zeit; s.a. hier).

Pythagoras konnte mit der Konstante Φ nicht rechnen, aber er erkannte ebenfalls, dass es sich bei der Konstante Φ um eine Goldene Zahl handelte. Und sie tauchte nicht nur als Verhältnis bei verschiedenen Strecken auf. Es wurde auch noch herausgefunden, dass es einen Goldenen Winkel gibt: Ψ (sprich: Psi). Dieser ergibt sich, wenn man die 360° des Vollkreises im Verhältnis des Goldenen Schnittes der Konstante Φ teilt. Dieser Goldene Winkel beträgt ungefähr 137,5 °.

Und dieser Winkel findet sich auch in der Natur wieder: Sonnenblumenblütenblätter sind in diesem Winkel angeordnet. Selbst Rosenblätter weisen diese Winkelanordnung auf, und das, obwohl sie nachweislich die Konstanten nicht errechnen können.

Stellt die goldene Zahl Φ ein reines mathematisches Konstrukt dar? Oder ist sie Ausdruck einer höheren Ordnung? Die Pythagoreer konnten sich das nicht erklären, denn diese Zahlen widersprachen deren Ordnungsverständnis. Widersprach diese Zahl dann auch der göttlichen Ordnung?

Schließlich mussten die Pythagoreer auch noch erkennen, dass selbst Musik nicht den einfachen ganzzahligen Zahlen folgt. Dieses Problem kennen die Klavierstimmer. Die Noten „Fis“ und „Ges“ liegen auf der gleichen Taste des Klaviers, haben aber nicht die gleiche Frequenz. Der Quintenzirkel in der Tonreihe schließt sich nicht. Dieses Problem und das fehlende Bindeglied im Quintenzirkel wird entsprechend „das pythagoreische Komma“ genannt. Die Tonreihe besteht aus 11 Quinten und einer um das „pythagoreische Komma“ verringerten Quinte, die unter dem Namen „Wolfsquinte“ bekannt wurde. Problematisch ist das für normale Kompositionen nicht, wenn die Tonart nicht gewechselt wird und diese Quinte vermieden wurde. Johann Sebastian Bach schrieb jedoch Kompositionen, in denen er dauernd die Tonart wechselte, und hatte daher mit der schräg klingenden „Wolfsquinte“ einen Störfaktor. Also ging er dieses Problem aktiv an und schaffte es, dieses mit seiner „wohltemperierten“ Klavierstimmung unter Kontrolle zu bekommen. Bis heute allerdings rätselt man immer noch, wie er diese Klavierstimmung durchführte. Es fehlt hierzu eine schlüssige Erklärung.

Bei der heutigen populären Musik spielt „pythagoreische Komma“ kaum eine Rolle. Elektronische Synthesizer sind nicht dafür gedacht, Klassik zu spielen. Und bei den Tonfolgen kommt es auch nicht auf die Tonfolge an, sondern eher auf Rumms und Bumms der Musik. Und alles andere wird durch Equalizer gnadenlos auf eigene Ansprüche vom Hörer nivelliert.

Jürgen machte eine Pause. Er hatte die ganze Zeit ununterbrochen geredet. Erstaunlicherweise konnte ich ihm in seinen Ausführungen folgen. Auch wenn mir vor lauter Psi, Pi und Phis der Kopf ein wenig schwirrte.

„Und was hat das nun mit dem Faltblatt deiner Frau zu tun?“

Jürgen stützte kurz sein Kinn mit seiner rechten Hand, um nachzudenken.

„Der Wikka-Kult ist die Antwort auf die Frage der Menschen, ob der Mensch das Recht hat, die Grenzen der Welt zu erkunden und gar zu überschreiten.“
„Welche Grenzen?“
„Bist du vom Rathaus hier hergekommen? Oder von der Kirche aus?“
„Von der Kirche.“
„Dann kamst du an dem Torbogen der Kirche vorbei?“
„Ja.“
Kreuz„Der Torbogen war schon erbaut, bevor überhaupt Pläne für die Kirche existierten. Die Wissenschaftler streiten sich über die dort dargestellten Figuren, ob es sich hierbei um die acht Todsünden handeln soll. Nur über eine Darstellung ist man sich einig. Sie stellt Alexander den Großen dar. Alexander hatte die Welt erobert gehabt und war am Horizont angekommen. Also überlegte er sich, den Himmel zu erkunden. Also setzte er sich in einem Korb und bandzwei Vögel mit Löwenkörpern und Adlerköpfen an seinen Korb. Denen hielt er dann zwei Ratten vor die Schnäbel. Als die seltsamen Vögel danach schnappten, hob der Korb ab und Alexander startete wohl das erste fremd-getriebene Fliegzeug der Welt. Schließlich begegnete Alexander einem Engel, der ihn fragte, was er denn dort im Himmel wolle. Er solle doch zuerst einmal die Erde besser kennenlernen. Alexander wurde beschämt, landete auf der Erde und buchte dort erstmal paar Bildungsreisen mit seinem Militär.“
„Schöne Geschichte.“
„Der Wikka-Kult will nicht Grenzen überschreiten, sondern die Erde besser kennenlernen.“
„Was ist der Wikka-Kult?“

Ein Telefon klingelte. Jürgen entschuldigte sich und reichte mir eine Mappe, die er ebenfalls aus dem Regal genommen hatte.

„Tschuldige nen Moment, ich muss zum Telefon. Ließ dir mal die Mappe durch.“

Ich ergriff die Mappe. Jürgen stand auf und verließ das Wohnzimmer.

Die Mappe bestand sowohl aus geheftetem Material als auch aus einer Loseblattsammlung. Ich schlug die erste Seite auf. Mir fiel auf, dass am Rand der Seite handschriftlich etwas geschrieben in Rot war:

„Usja im Buch 2.Chronik; je nach Übersetzung auch Usjh; war König von Juda.“

Usjh?
Mir kam das Wort bekannt vor. Wo war ich dem Wort schon begegnet? „Usjh“. Mir lag es auf der Zunge, nur half es mir nicht weiter.

Meine Überlegungen wurden unterbrochen, weil mir eines der losen Blätter aus der Mappe auf den Boden gefallen war. Ich hob es auf. Eine Stelle des Textes war grün umkringelt und mit Ausrufezeichen versehen:

Wenn du meist mit dem Auto unterwegs bist, spürst du davon nichts. Doch ich frage mich: Was ist das? Unsere Alten, die noch näher an der Natur waren, sie hatten diese Wahrnehmung stark. Sie wussten, es gibt in der Welt schlechte und gute Stellen und Plätze. Sie haben Kult oder Religion aus dieser Wahrnehmung gemacht. Sie pflanzten Eichen, stellten Standbilder und Tempel auf, wo es gut war. Später setzte man die Kreuze, Kapellen, Kirchen und Abteien darauf.

Deshalb – es hat nichts mit Religion zu tun, wenn du keine hast. Es ist Ergebnis einer schlichten Wahrnehmung in der Natur:
Es gibt auf der Welt schlechte und zum Glück auch gute Plätze.
Finde einen guten Platz in der Welt, dann hast du Macht über dich.

Macht. Ein zentrales Wort. Jeder Kult will eine Konzentration der Macht. Das war mir schon klar. Warum sollte es bei den Wikka anders sein? Die mir vorliegende Notiz durch den „Wikka“-Kult bestätigte meinen Gedanken.

Ich nahm ein anderes Blatt und mein Blick blieb an der folgenden Textstelle hängen:

Sprachliche Kompetenz bedeutet, dass ein Mensch in der Lage ist, zwischen verschiedenen Sprachebenen zu wählen. Viele Menschen in unserer Gesellschaft sind nur sicher in ihrem Soziolekt und haben enorme Schwierigkeiten mit der differenzierteren Hochsprache. Da Sprache das Denken strukturiert, ist das nicht nur ein verbales Problem, – solche Menschen tun sich generell schwer damit, abstrakte Sachverhalte zu verstehen.

War das eine Wikka-Analyse? Ich verstand es nicht. Mir erschien das Ganze eher wie eine Beschreibung eigener Eindrücke. Beim Weiterblättern stieß ich auf ein weiteres Blatt mit einer markierten Stelle:

Das ist keine Kraft, mit der Menschen sich messen dürfen.
Bemessen, du hast recht, das können wir. Im Messen ist der Mensch allen Dingen der Welt überlegen. Ob es Sinn hat oder nicht, der Mensch misst. Dazu hat er die gewaltige Mathematik.
Man kann sie anbeten. In ihren oberen Regionen scheint sie sich im Göttlichen zu verlieren.
Doch die Anbetung der niedrigen Regionen der Mathematik ist Götzendienst: Statistik, zum Beispiel, was kann man für einen Schindluder mit ihr treiben. Ach, und die simpelste Mathematik beten wir Computernutzer an. Sie beruht nur auf eins und null.

Ich wurde unruhig. Irgendetwas hatte ich hier vor mir, aber es war nicht das, was Jürgen meinte, mir gegeben zu haben. Schnell blätterte ich weiter und fand wieder eine markierte Stelle:

Goethe dachte sich die Erde als Organismus. Ich dachte sofort an eine Landschaft wie das Hohe Venn, als ich seine Erklärung für die Hochs und Tiefs in der Atmosphäre las. Ich habe es nicht wörtlich präsent, doch es geht etwa so: Goethe sagt, wenn der Organismus Erde ausatmet, verneint er das Wasser. Das ist das Hoch. Dann wieder ist die Erde wasserbejahend, sie atmet ein, wir bekommen ein Wettertief.

Das Hohe Venn? Das Hohe Venn, wo liegt das nochmal?
Ich fühlte plötzlich Stress in mir aufsteigen. Adrenalin. Was hatte ich hier vor mir? Wikka-Kult? Oder etwas, was …Der Gedanke erschreckte mich.
Im Hintergrund hörte ich Jürgen hektisch telefonieren. Er war beschäftigt.
Ich blätterte schnell weiter und fand eine blau markierte Stelle:

„Jünger der schwarzen Kunst“

Schwarze Magie? Handelten die Blätter über den Umgang mit schwarzer Magie? „Schwarze Kunst“?
Meine Augen blieben an einem Bonmont hängen.

“das Glück ist eine kurze Decke, die mal hierhin, mal dahin gezogen wird. Wer freiliegt unter dem gnadenlosen Himmel, hat eben Pech. Schamanen und Druiden werden gerufen. Sie sollen die Götter beschwören, damit sie Wasser schicken oder die Fluten hemmen. Doch ich höre sie gar nicht. Sie können ihren Mummenschanz ruhig treiben, es ist mir egal. Ich mache es gerade, wie ich lustig bin.“

Also doch. Wikka.
Ich nahm mir das nächste Blatt vor.

Das Nikolaushaus ist eine Endlosfigur. Solche Figuren haben magische Kräfte. Das jedenfalls glaubten die Alten. Die berühmteste Endlosfigur ist das Pentalpha, auch Drudenfuß oder Pentagramm genannt. Dieser Fünfstern hat einige Namen, denn er war in vielen Kulturen verbreitet. Er ist ein Glückssymbol. Stellst du das Pentagramm allerdings auf den Kopf, ist es schwarzmagisch.
Man kann das Pentagramm übrigens wie ein Kreuz schlagen. Vermutlich ist auch das sich bekreuzigen daher entlehnt.
Traust du dich, das Pentagramm zu schlagen? Oder denkst du, du bist eine Heidin, wenn du das tust? Ich kann dich beruhigen, das Pentagramm ist auch bei frühen Christen auf Amuletten gefunden worden. So ist es allenfalls Aberglaube, wenn du das Pentagramm schlägst, nicht heidnisch. Du darfst es jedoch nicht verkehrt herum schlagen, sonst fliegen uns die bösen Geister um die Ohren.
Bist du bereit? Nimm deine rechte Hand und führe sie zum Herzen. Dort beginnst du:
Vom Herzen zur Stirn,
zur rechten Brust,
zur linken Schulter,
zur rechten Schulter,
zurück zum Herzen.
Siehst du, es ist eine Endlosfigur. Du hast sie im Raum vollzogen, hast mit der Hand dein Herz und deinen Kopf verbündet.
Als zweidimensionale Zeichenspur hat das Pentagramm die gleiche Bedeutung.
Das Nikolaushaus hat große Ähnlichkeit mit dem Pentagramm. Doch es ist schwieriger zu zeichnen, denn es gelingt nur auf eine bestimmte Weise. Es ist die verspielte Variante. Man braucht den Kopf, die Hand und ein bisschen Glück, damit sie gelingt. Eigentlich braucht man jedoch nur eine Regel zu kennen.

Was zur Hölle hatte ich hier? Das war keine Religions- oder Kultbeschreibung. Das war was anderes. Was total anderes.
Das nächste Blatt, die nächste Markierung:

Ich stieg eine Allee zwischen hohen Hausreihen hinauf. Ganz oben am Schluss der Allee wusste ich eine große neugotische Kirche, in der ich schon gewesen war. Dort fand ich jedoch nur noch einen glatt asphaltierten Platz. Die Kirche war spurlos verschwunden. Nur an einer Stelle war ein Streifen zu sehen, wo vielleicht eine Mauer gelastet hatte. Der Platz, nun der Kirche ledig, schien mir jetzt viel kleiner als zuvor. Wo aber war die Kirche abgeblieben? Da kam niemand, den ich fragen konnte.

Literaturschnipsel waren das und keine wissenschaftliche Analyse. Das war mir klar. Aber was war es genau? Prosa? Autobiographie? Hatte ich hier einen Schlüssel? Wenn ja zu welchem Schloss?

Jürgen kam zurück.

„Es tut mir leid. Ich muss dich verabschieden. Meine Frau braucht mich im Geschäft?“
„Geschäft?“
„Ja, sie hat eine Bäckerei und dort gibt es momentan Probleme mit einem Ofen.“

Er schaute auf die Mappe in meinen Händen.

„Und alles gelesen?“
„Ich möchte eine Kopie davon. Von der ganzen Mappe. Das sind aber nicht alles Papiere über Wikka, oder?“
„Nein. Ich schätze nur das abgeheftete handelt von der Wikka. Die losen Blätter hat sie eingelegt, weil sie meinte, sie passen dazu.“
„Was sind das für Texte?“
„Sie hatte mal Seiten ausgedruckt. Irgendwelche Erlebnisberichte. Die sind jetzt im Netz verschwunden. Liest sich sehr interessant. Ebenfalls kopieren?“
„Ja, das wäre nicht schlecht.“

Ich übergab ihm die Mappe und reichte meine Visitenkarte. Er warf einen Blick auf die Karte.

„So jetzt muss ich dich leider rauswerfen. Wir bleiben in Kontakt.“

Rostiges Schloss Er begleitete mich zur Tür. Wir schüttelten unsere Hände und ich trat auf die Straße. Er winkte mir noch kurz zu. Während ich mich anschickte, die Straße herunter zu gehen, fiel ihm ein Blatt aus der Mappe. Er bückte sich und hob es auf. Es schien das Titelblatt zu sein.

„Ich sollte diese Papiere des PentAgrion endlich mal abheften, nicht wahr“, rief er mir noch zu. Er warf mir noch ein freundliches Abschiedslächeln zu, bevor die Haustüre schloss. Wie erstarrt stand ich auf der menschenleeren Straße. Wie Loths Frau einer Salzsäule gleich.

Was hatte er gesagt?
Wie bitte?
Was?

(Fortsetzung hier)