Was vorher geschah:
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Ich starrte auf den Tresen. Er hatte mir geduldig zugehört. Bis seine Kölsch-Stange leer war. Dann orderte er eine neue, nahm einen Schluck daraus und schaute mich an.
– Wie furchtbar ist Wissen, wenn es dem Wissendem keinen Gewinn bringt.
– Du zitierst Lui Cifre aus dem Film Angel Heart?
– Ja. Und noch ein Zitat aus dem Film: Wie geschickt du dich an einen Spiegel heranschleichst, das Spiegelbild schaut dir direkt ins Auge.
– Ich bin nicht geschlichen.
Meine Kölsch-Stange war noch halb voll. Nur der restliche Schaum auf dem Kölsch schien mir eher halb leer zu erzählen.
– Ich hatte dir ja erzählt, dass das Traktat von PentAgrion existiert. Du hast es ja selbst vor deinen Augen gehabt und auszugsweise gelesen.
– Es hat mir kein Glück gebracht. Es stand viel zu lesen drin.
– Und du hast viel erfahren, bei deiner Suche.
– Ich hab nicht gesucht.
– Stimmte, es hat dich gefunden.
– Gesucht. Gefunden. Wir haben uns getroffen. Zufällig.
Er leerte sein Kölsch mit einem weiteren Schluck. Der Wirt brachte ihm sofort ein neues und schaute mich dabei ironisch grinsend an.
– Und? Auch in Amsterdam nach PentAgrion gefahndet?
– Arsch.
Er lachte und entfernte sich wieder. Mein Nachbar setzte fort:
– Du hast einen Teil der Wahrheit gefunden.
– Meine Ehe ist ruiniert. Meine Frau will sich scheiden lassen. Momentan wohnt sie bei ihrer Mutter.
– Weil deine Frau eine der Möglichkeiten, warum man sich in einem Puff aufhalten kann, als die einzige Wahrheit gehalten hat.
– Ich meine, ich verstehe sie ja, dass sie glaubt, ich wollte dort. Aber sie glaubt mir nicht, dass ich nicht hatte.
– Sie sieht eine der Möglichkeiten als Wahrheit an.
– Was ist schon Wahrheit.
– Du zitierst den Statthalter Jerusalems, als er Jesus zum Kreuzigen verurteilt hatte.
– Na und?
– Angenommen ich werfe jetzt mein Kölschglas hoch, was passiert dann?
– Es wird auf dem Boden zerbersten.
– Warum sollte es so sein? Wenn ich das Glas hoch werfe und es zu Boden gefallen ist, dann weiß ich ohne wenn und aber ob es zerbrochen ist.
– Schön. Und was willst du damit sagen?
– Solange ich das Glas nicht geworfen habe, gibt es unter anderen die folgenden Möglichkeiten: das Glas zerbricht, das Glas bleibt ganz, das Glas erhält nur einen Sprung, das Glas bleibt oben, das Glas bleibt in der Luft stehen, das Glas löst sich in seine Atome auf, das Glas fällt ewig durch ein Loch ins Universum
– Jetzt bleib mal auf dem Teppich. Das Glas wird auf den Boden fallen und zerbrechen.
– Nicht wahr? Das Ergebnis raubt uns alle Möglichkeiten, die ich mir gerade überlegt hatte, nicht wahr. Das Ergebnis macht arm.
– Schön. Und nochmals: Was willst du mir damit sagen?
– Die Wahrheit raubt uns alle Möglichkeiten. Das Ist an sich ist einfältig. Das Kommende, das Zukünftige, dagegen aber ist vielfältig. Nur die Wirklichkeit, also das Ergebnis, ist ohne Möglichkeit.
– Herr Oberspielleiter! Nochmals ein Kölsch für zwei! Der hier neben mir will in meinen Synapsen einen Kurzschluss verursachen.
Der Wirt blickte maliziös lachend zu uns herüber und fuhr fort, Gläser zu spülen. Mein Nachbar versuchte meinen Blick aufzufangen.
– Deine Frau hat eine Möglichkeit als Wahrheit ergriffen und damit dem Kommenden alle Zukunft beraubt. Sie hat euch eurer zukünftigen Vielfalt beraubt.
– Stimmt. Sie ist Schuld, dass ich im Puff war!
– Quatsch. Ich rede nicht von Schuld, sondern Verursachung und Ursache. Schuld ist eine moralische Frage.
– Aber darum geht es doch.
– Okay für dich schon. Aber nicht bei den Papieren von PentAgrion.
– Sondern?
– Gewissheit und Wissen machen arm. Das wurde bereits auch schon in der Bergpredigt der christlichen Bibel geschrieben: Selig sind die, die geistig arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Anders ausgedrückt formuliert: Wissende werden mit Glücksentzug bestraft. So wurden auch Adam und Eva gleich aus dem Paradies geschmissen.
– Sie wussten zu viel. Hört sich ja an wie in einem Mafia-Film. Der letzte Satz bevor der Schuss fällt und der Mitwisser röchelnd stirbt.
– Mag sein. Aber das Fehlen oder der Entzug von Glück hat die Menschheit weiter gebracht. Jemand, der immer ausgeglichen, zufrieden und selbstgenügsam ist, der empfindet niemals den Drang nach Forschung und Wissen. Und zu allem Verhängnis kommt auch noch hinzu, dass das Gefundene und Entdeckte nur kurzfristig zufrieden stellt.
– Und das heißt jetzt?
– Hättest du die Papiere von PentAgrion jetzt vor dir liegen gehabt, dann hätte dich diese Wahrheit aller Möglichkeiten beraubt gehabt.
– Und weil ich sie nicht vor mir habe, erlebe ich jetzt ein Chaos in meinem Leben?
– Eine Zukunft mit vielen Möglichkeiten.
– Super. Mir stehen wieder alle Frauen der Welt offen? In meinem Job kann ich wieder von vorne anfangen? Sind das die vielfältigen Möglichkeiten?
Ich griff nach meinem Kölsch und leerte es ärgerlich.
– Die Wissenschaftler haben für deine Situation ein herrliches Gedankenexperiment.
– Welches?
– Schrödingers Katze.
– Was für ne Pussy?
– In der Quantentheorie der Physik gibt es den Satz, dass Messungen physikalische Zustände beeinflussen. Beispielsweise hat jedes Wasserstoffatom ein Elektron, welches sich in einer Art Hülle um das Atom herum bewegt. Zusätzlich hat das Elektron auch noch eine Eigenrotation. Aber jedes Mal wenn dieser sogenannte Spin gemessen wird, kann der sich ändern. Es ist daher nur eine Momentan-Aussage über den Zustand möglich.
– Sind wir in einer Kneipe oder im Chemieunterricht?
– Warte. Schrödinger hatte aufgrund dieser Sache in einem Gedankenexperiment eine Katze in einer Holzkiste mit einer definierten Menge instabiler Atome gesetzt. Zerfällt jetzt ein Atom in der Kiste, löst dieses einen Mechanismus aus, der wiederum eine Zyankali-Kapsel zerstört, womit die Katze getötet wird.
– Danach hat Schrödinger sicherlich Probleme mit PeTA erhalten.
– Es scheint also nur zwei Zustände zu geben. Zustand 1: Atom ganz, Katze lebt. Zustand 2: Atom zerfallen, Katze tot. Jetzt befinden wir uns also auf Atomebene und das Atom befindet sich auf dem Weg zum Zerfall. Also befindet sich auch die Katze in einem Zwischenstadium aus Tod und Leben.
Aber dann brauch ich ja nur die Kiste zu öffnen, und schon sehe ich, ob die Katze tot oder lebendig ist.
– Genau. Und da greifst du in dem Experiment mit deiner Messung ein und veränderst die Realität. Tot ODER lebendig, während sie vor deiner Messung Tot UND Lebendig war.
– Curiosity kills the cat. Neugierde tötet die Katze.
– Richtig. Die Messung und die Befriedung des eigenen Wissens bestimmt den Zustand der Katze. Sie greifen in die Wirklichkeit ein und rauben vielfältige Zukunftsmöglichkeiten.
– Wie? Sollte die Katze etwa spurlos aus der abgeschlossenen Kiste verschwinden? Sie kann doch nur tot oder lebendig sein. Die Chancen sind 50:50.
– Mit dieser Annahme und Erzwingung der Wirklichkeit raubst du dir die Zukunft. Deine Frau nimmt an, dass du im Puff zum Vögeln warst. Sie wird dir nie glauben, dass du in Architektur und mathematischen Verhältnissen weiter gebildet wurdest.
– So ein Quatsch!
– Bestimmten Heiligen wird die Fähigkeit der Bilokation nachgesagt. Sie sollen zeitgleich an zwei verschiedenen Orten aufgetaucht sein.
– Das kenne ich von Handwerkern. Wenn man die braucht, sind die überall und nirgends. Aber nur nicht dort, wo man sie braucht.
– Andere Heilige sollen über die Fähigkeit des Fliegens, der Levitation, verfügt haben. Schließt man dieses aber von vornherein aus, dann bleibt nur der Schluss, dass es sich hierbei um fromme Legenden handeln muss.
– Du glaubst doch nicht etwa an den Quatsch?
Er schaute mich lächelnd an. Doch, er glaubte daran. Diese Antwort schien ihm auf der Stirn gemeisselt.
– Was wäre, wenn es kein Quatsch wäre?
– Dann müsste Bilokation und Levitaion reproduzierbar sein. Warum sollte es nur von Heiligen beherrschbar sein?
– Im alten Ladakh in Tibet gibt es Mönche, die von sich behaupten, dass sie es beherrschen.
– Und warum tun sie es dann nicht, um Zweifel auszuräumen?
– Weil es denen nicht wichtig ist. Weil es die ganzen anderen Materialisten in die Verzweiflung treiben würde. Denn deren existentialistisches Leben bar jeder vielfältigen Zukunft ist nicht nicht das der Mönche. Wie furchtbar ist Wissen, wenn es dem Wissendem keinen Gewinn bringt?
Ich rollte mit den Augen. Mein Kölsch neigte sich wieder dem Ende entgegen. Proportional zu meinem Unverständnis dem gegenüber, was er mir da so erzählte.
Ich setzte noch einen neuen Versuch ihn zu verstehen:
– Und die Papiere von PentAgrion?
– Wären sie Realität geworden, hättest du sie vor dir, dann hätten sie dein Leben einfältiger und einfarbiger gemacht.
– Eintöniger?
– Du hast die Messung nicht vollzogen, die Kiste zu Schrödingers Katze noch nicht geöffnet. Du kannst nicht definitiv sagen, das Atom sei zerfallen und die Katze deswegen tot. Die Katze schwebt für dich noch immer zwischen tot und lebendig.
– Tot oder lebendig?
– Tot UND lebendig! Erst wenn du in die Kiste hinein schaust kannst du das Wort ODER nutzen. Vorher ist der Zustand zwischen den beiden Extremen.
– Soll das heißen, nur wenn ein höheres Wesen uns beobachtet, dann kann damit etwas über unseren Zustand ausgesagt werden? Jemand, der unser Biotop wie unter einem Mikroskopenauge betrachtet, und dann seine Erfahrungen vom aktuellen Zustand niederschreibt ? Damit wir es lesen? Damit wir wissen, wer wir sind?
– Du sagst es. Wie PentAgrions Papiere, die PentAgrion in seiner zehnjährigen Aufenthaltsphase zusammengestellt hatte.
– Und solange diese Papiere nicht der Öffentlichkeit wieder zugänglich sind, sondern lediglich bei einigen wenigen herum fliegen, solange interpretieren wir nur unsere Welt unzulänglich?
– Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert. Letztendlich kommt es ja darauf an, sie zu gestalten.
– Jetzt hast du fast Karl Marx zitiert. Aber der Marx hat in Schrödingers Kiste auch nicht hinein blicken können.
– Einige haben es vor 20 Jahren aber getan.
– Und dann haben sie festgestellt, dass die Katze nicht gefüttert wurde, der Sozialismus tot verhungert war.
– Dafür haben sie sich konsequent des Oders angenommen und die Mauer fallen lassen.
– Eine Warnung für uns heute. Wir sollten den Blick in der Kiste Schrödingers dem Kapitalismus verbieten. Sonst bliebe uns wieder nur ein ODER.
– Wiederholungen gefallen nicht.
– Und wer weiß dann schon, vielleicht existiert die Kiste mit Schrödinger seiner Katze auch gar nicht. Vielleicht ist unsere Kiste zum Öffnen lediglich die verkleidetet Büchse der Pandorra und alles käme noch schlimmer.
– Ja, wer weiß.
Das Thema war zerredet.
Wir saßen schweigend nebeneinander.
Während ich meine Kölschstange schweigend auf dem Tresen drehte, fragte ich mich, ob sich mir ein zweites Mal die Chance bieten würde, nach Remagen zu reisen, um an die Papiere des PentAgrion zu gelangen.
Draußen wurde es dunkel. Ich zahlte. Um 18:00 hatte ich noch einen Termin beim Scheidungsanwalt.
PentAgrion und seine Papiere.
Ich wurde das Thema nicht los.