Maxwells Silberhammer

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10

***

Draußen ist Vollmond, während ich diese Zeilen in meinem Zimmer schreibe, der 2. November 2009.

Dem Vollmond werden starke Kräfte nachgesagt. Hexen reiten dann auf ihren Besen, einsame Werwölfe streifen durch nebelverschleierte Wälder, Eulen haben besonders große Augen und Fledermäuse fleddern im Lichte des Vollmondes außer Motten und Mücken auch noch Kühe, Ratten und Menschen. Hunde jaulen wehmütig den Vollmond an, weil sie vermuten, was wir bereits seit Langem wissen: Da oben wohnt kein Mensch. Eine menschenfreie Zone.

Ich sitze hier und lecke mir meine Wunden. Heulen könnte ich wie ein Hund. Die Ereignisse hatten sich mit jener Polizeikontrolle verselbständigt. Die Polizei nahm mich mit, weil ich meinen Personalausweis nicht dabei hatte. „Wir müssen Ihre Personalien auf dem Revier überprüfen. Kommen Sie bitte mit“, waren die Worte des Polizeibeamten. Unter Aufsicht durfte ich mich anziehen und nach etlichen Stunden des Wartens wurde ich gegen vier Uhr morgens in ein Polizeirevier gefahren. Eine knappe halbe Stunde später stand ich wieder an der frischen Luft, orientierungslos nach einem Taxi Ausschau haltend.

Bei meinem Abschied vom Revier meinte der protokollierende Polizeibeamte nur noch:
„Sie erhalten einen Anhörungsbogen von uns geschickt. Wir brauchen noch weitere Angaben von Ihnen. Sie sollten es Ihrer Frau beichten, damit ihr Schock nicht zu groß wird.“

Das war jetzt allerdings mein kleineres Problem. Ich war hundemüde und hatte zu allem Überfluss auch noch den Geschäftstermin in Wuppertal-Elberfeld vor mir. Im Hotel angekommen war mein erster Gang zur Kaffeemaschine vom Frühstücksbuffet. Ich schenkte mir eine große Tasse ein und ging Richtung Aufzug. Den ersten Schluck nahm ich noch vor dem Aufzug, den Zweiten im Aufzug, den Letzten, als ich die Code-Karte in den Türschlitz zu meinem Zimmer schob. Den Mischhebel der Dusche hatte ich auf „kalt“ gestellt. Trotz heißem Kaffee und kalter Dusche war ich noch immer nicht so richtig wach. Eine halbe Stunde später stand ich erneut vor dem Kaffeeautomat.

Kurz vor sieben. Der Termin war für elf angesetzt. Ich setzte mich in der Hotellobby in eine der Sessel, um noch bis zur Abfahrt ein wenig Zeitung zu lesen. Als mich der Hotelangestellte weckte, war es bereits fast zehn Uhr. Meine Kalkulation, rechtzeitig vor elf in Wuppertal einzutreffen, wurde am Leverkusener Kreuz gründlich zunichtegemacht. Entsprechend begeistert war dann der Anruf meines Chefs.

„Da spendiere ich dir einen Wellness-Abend und du übertreibst es. Hast du wenigstens den Mietwagen heil gelassen?“
„Ich konnte nichts dafür, ich bin in eine Polizeikontrolle geraten.“
„Ja, ja, ja, Ausreden hast du dauernd auf Lager. Aber erst die Arbeit und dann das Vergnügen, Junge!“
„Das ist keine Ausrede!“
„Und noch was: Wenn du jemanden unsere Faxnummer gibst, dann stelle vorher sicher, dass damit kein Faxspam geschickt wird. Einer deiner sauberen Freunde hat 50 Seiten Müll übers Pentagon gefaxt. Einen Termin schmeißen und dann noch geschäftliche Nummern für Privates nutzen, du kannst dich auf eine scharfe Abmahnung einstellen.“

Mein Chef warte meine Antwort nicht mehr ab und legte auf. Na, toll. Ich befürchtete, dass das, was mein Chef „Pentagon-Faxspam“ nannte, offensichtlich die Papiere des PentAgrion gewesen waren. Ich versuchte, unsere Teamassistentin anzurufen, um in Erfahrung zu bringen, ob die 50 Seiten noch aufbewahrt oder bereits weggeschmissen waren. Nach fünf Minuten hatte ich die Teamassistentin am Telefon. Sie reagierte kühl und distanziert. Ja, sie hatte das Fax entsorgt. Nein, es wäre ihr egal, ob es „Pentagon-“ oder „PentAgrion“-Papiere seien, sie würde die Papiere nicht wieder aus dem Müll fischen. Und süffisant fügte sie hinzu, zudem könne sie nicht mehr weiter telefonieren. Sie würde gerade an einer Abmahnung für denjenigen schreiben, der das Wuppertal-Projekts geschmissen hätte. Noch bevor ich mich rechtfertigen konnte, hatte sie aufgelegt. Ich schien beliebt wie die Pest.

Den dunkelblauen Audi TT neben mir auf der Autobahn hatte ich nicht beachtet gehabt. Erst als aus dessen Seitenfenster energisch winkend eine rote Polizeikelle auftauchte, merkte ich, dass es etwas Besonderes mit den beiden Fahrern auf sich hatte. Nach dem Vollstrecken der Formalitäten (ein Punkt in Flensburg und 40 Euro für das Telefonieren hinterm Steuer) und der Bemerkung, dass ich etwas übermüdet aussehe, konnte ich weiter fahren.

Drei Staus später kam ich am Kölner Flughafen an. Die Fahrzeugrückgabe zog sich in die Länge. Der Mann an der Rückgabestation ließ sich beim Begutachten der Karosserie Zeit. Der Mann war einer der gründlicheren Sorte. Sorgen machte ich mir deswegen aber keine, denn mein Flug ging am frühen Abend und Zeit hatte ich ja genug.

Zeit. Kaum hatte ich das Wort gedacht, wurde mir klar, dass ich die mir verbliebene nicht richtig genutzt hatte. Das Mietfahrzeug hatte ich nicht vollgetankt zurückgegeben. Somit erhöhte der Mann die Rechnung pauschal um 100 Euro. Super. Wie sollte ich das meinem Chef erklären? Die 100 Euro durfte ich selber tragen, da war ich mir sicher.

Zeit. Zu allem Überfluss hatte der Flieger auch noch Verspätung. Eine Stunde. Da konnte ich die Personenüberprüfung innerlich für mich zum Sicherheitsbereich des Flughafens schon als soziale Zuwendung wegbuchen. Der Sicherheitskontrolleur meinte es besonders gründlich mit mir. Dreimal schickte er mich durchs Metalldetektor-Portal. Beim zweiten Mal ohne Schuhe, beim dritten Mal ohne Gürtel. Aber das Portal wollte nicht schweigen. Danach griff er mich manuell ab. Letztendlich musste ich meine Krawattennadel abgeben. Er meinte, ich könne sie als Waffe verwenden. Meine Proteste blieben wirkungslos. Selbst sein Chef war der Meinung, mit meiner Krawattennadel würde ich die Flugzeugsicherheit gefährden.

Zeit. Von der erhielt ich im Laufe des Abends noch genügend. Der Flug wurde wegen technischer Probleme annulliert und ich auf den ersten Flieger am nächsten Morgen gebucht. Ich beschloss am Flughafen zu bleiben, denn ich befürchtete, würde ich in ein Hotel gehen, ich könnte verschlafen. An einem Kiosk kaufte ich mir ein Buch, eine Ersatzkrawattennadel und drei Flaschen Kölsch als Einschlafhilfe. Eine Sitzreihe diente mir als Schlafgelegenheit. Der Weckdienst kam pünktlich gegen fünf Uhr morgens: Ein Schäferhund begleitet von zwei Polizeibeamten. Eine Personalausweiskontrolle später erhielt ich den Hinweis, dass mein Schnarchen Lärmbelästigung gewesen wäre und ich nicht mehr weiterschlafen dürfe.
An einem Kiosk organisierte ich mir Kaffee.

Das Warten auf meinen Flieger in zwei Stunden hatte begonnen. Ist es erwähnenswert, dass mein Flieger mit einer Stunde in München landete? Oder interessiert es wen, dass der Triebwagen meiner S-Bahn für weitere Verspätung sorgte? Oder dass mir mein Chef kurz angebunden per Handy Urlaub bis zum Ende der Woche verordnete? Der nächste Schicksalsschlag erwartete mich dann zu Hause. Im Grunde war es aber nicht wirklich eine Überraschung. Die Polizei arbeitete schneller, als ich mir dachte. Meine Frau hatte den Briefumschlag bereits geöffnet gehabt und las das Schreiben und den Anhörungsbogen. Sie erwartete mich bereits am Wohnzimmertisch, den Brief vor sich liegend. Es war ihr gleichgültig, ob ich nur Kölsch getrunken hatte oder ob ich eine Frau gebucht hatte. Für sie zählte allein die Absicht und der Wunsch mich nicht mehr in der Wohnung zu haben.

Draußen ist Vollmond, während ich diese Zeilen schreibe, an diesem 2. November. Durch das Hotelzimmerfenster starre ich hinaus in die Nacht. Der Mond erleuchtet den Hinterhof. Am Fenster gegenüber konnte ich ein Pärchen ausmachen. Und das gibt sich jetzt bei geöffnetem Fenstervorhängen dem klassischen Akt hin, worum mich wahrscheinlich jetzt alle Spanner dieser Welt beneiden werden.
Im Hintergrund startete das kleine Nachttischradio, ein altes Beatles-Lied zu spielen. Ein Déjà-vu der letzten Tage:

Joan was quizzical / Johanna war skeptisch
Studied pataphysical / studierte pataphysische
Science in the home. / Wissenschaft zu Hause.
Late nights all alone / Nachts mutterseelenallein
With a test tube. / mit einem Reagenzglas
Oh, oh, oh, oh.

Maxwell Edison
Majoring in medicine / Studienschwerpunkt Medizin
Calls her on the phone. / rief sie an
„Can I take you out to the pictures, / Kann ich dich ins Kino ausführen?
Joa, oa, oa, oan?“

But as she’s getting ready to go, / Als sie sich aber zum Ausgehen fertig macht
A knock comes on the door. / klopf es an ihrer Tür.

Bang! Bang! Maxwell’s silver hammer / Bäng! Bäng! Maxwells Silberhammer
Came down on her head. / traf sie auf ihren Kopf

Bang! Bang! Maxwell’s silver hammer / Bäng! Bäng! Maxwells Silberhammer
Made sure she was dead. / stellte sicher, dass sie tot war.

quoted lyric by The Beatles

(Fortsetzung hier)