Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8
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Ich saß auf einem Felsvorsprung. Lange Zeit war ich gewandert, um mich hier hinsetzen zu können. Das heißt, ich bin nicht aus eigenem Verlangen hierher gewandert. Vielmehr hat mich irgendetwas hierhin getrieben. Obwohl ich jetzt hier auf diesem Felsvorsprung saß und glaubte, ans Ziel gelangt zu sein, fühlte ich, dass es jetzt erst richtig rund gehen würde.
Unter mir lag so eine Art brodelnder Sumpf. Immer wieder schlug er Blasen. Und trotzdem erschien mir, da unten noch etwas mehr als nur bloßer Sumpf zu sein. Angestrengt schaute ich in den Sumpf und nach einiger Zeit erkannte ich, dass dort unten noch anderes Leben war. Irgendwas versuchte da unten, sich dem Ufer entgegen zu arbeiten. Manche Lebewesen schafften es, bis zum Ufer zu gelangen. Hatten sie jedoch gerade eine Hand auf das rettende Ufer gelegt, wurden sie von einer unsichtbaren Macht in die Mitte zurückgezogen.
Solange ich auch zuschaute, keiner schaffte es, je das Ufer zu erreichen.
Doch.
Jetzt.
Ein Lebewesen zog sich mit allerletzter Kraft aufs rettende Ufer und richtete sich auf.
Mein Gott, es war ein Mensch!
Jetzt sah ich auch andere, die sich ans Ufer zogen. Anscheinend haben die sich die ganze Zeit ans Ufer gezogen, aber mir war das wahrscheinlich wehen ihrer braunen, drecküberzogenen Körper und ihrer langsamen Bewegungen in diesen braunen Pfuhl entgangen. Jetzt entdeckte ich auch noch andere mitten in diesem Sumpf, die wie einige andere Menschen in dem See verbissen um ihr Leben kämpften, resignierend aber aufgaben, um dann zu versinken.
Mir war übel. Ich fühlte mich elend. Hier oben ich und da unten die. Und ich konnte nichts für sie tun. Wankend drehte ich mich um. Ich tat einen unsicheren Schritt nach vorne und dann sah ich ihn. Er kam auf mich zu.
Du? Du hier?
Wo du bist, bin auch ich.
Und das als PentAgrion?
Nenn mich, wie dir beliebt.
Wer hat dir gesagt, dass ich hier bin?
Nur du.
Was soll das heißen?
Siehst du den Sumpf da unten?
Ja.
Es ist der Sumpf der Erkenntnis.
Der Sumpf der
Was?!?
Jeder Mensch muss in den Sumpf der Erkenntnis.
Sag mal, bist du blöd im Kopf?
Er sah mich lächelnd an.
Wieso sagst du nichts?
Er lächelte mich immer noch an und machte einen Schritt auf mich zu. Unwillkürlich wich ich zurück. Was hatte er vor?
Lass mich in Ruhe!
Doch offensichtlich hörte er nicht mehr auf mich. Lächelnd machte er erneut einen Schritt auf mich zu.
Bleib, wo du bist!
Er hörte nicht. Nochmals trat ich einen Schritt zurück. Ich merkte sofort, dass dieser Schritt einer zu viel war. Wie eine dünne Eisschicht brach der Boden unter mir weg. Ich stürzte ab.
Immer wieder sah ich, entweder wie der immer noch lächelnde PentAgrion sich von mir entfernte oder wie mir der Sumpf in rasendem Flug entgegen kam.
Als Letztes sah ich den Sumpf, wie er mir entgegen raste. Oder besser gesagt, ich sah eine braune Fläche, deren Oberflächenstruktur mir immer deutlicher wurde und dann knallte ich auf.
Es war nur so ein dumpfes Gefühl, aber dies genügte, um mich vollständig aus den Träumen in die Realität zurückzuholen.
Mit offenen Augen lag ich im Hotelbett. Der Schreck saß mir noch in den Knochen. Nachdenken über den Traum, konnte ich jedoch nicht mehr lange, da ich bald wieder ruhig eingeschlafen war.
Wo Berge sind, da sind auch Täler und manche sind ziemlich sumpfig. Nun hatte ich eines dieser Täler gesehen, war dem entkommen und hatte mich wieder auf den nächsten Berg hochgekämpft. Oben war es kalt, aber auch die dünne Luft klar.
Na endlich hast du es geschafft.
Ich kann nicht mehr.
Schau, Careca, da unten das Tal!
Tal?
Vor dir.
Ach so.
Hey, du bist nicht gerade begeistert davon?
PentAgrion, ich bin kaputt. Ich bin unaufhörlich gewandert. Mehrmals ausgerutscht und den Berg runtergerutscht, ich hab mir Wunden zugezogen, die gerade erst geheilt sind und jetzt da ich diesen verdammten Berg, den du einen ‚Hügel‘ nennst, bezwungen habe, da willst du mich schon wieder für ein Tal begeistern, eine ‚Untiefe‘ wie du so etwas sprachlich dauernd beschönigst, nur damit ich nachher wieder herabsteige? Und wenn ich da unten bin, was dann? Dann werde ich vielleicht feststellen, dieses Tal ist total versumpft, dass es eine einzige Sumpfblase ist? So wie das Letzte, wo ich hineinstürzte? Nein, mein Freund, ich will hier oben bleiben, die Aussicht genießen, mich erholen, an der kühlen klaren, dünnen Luft berauschen, in den Tag hinein träumen, die Sonne genießen.
Du genießt die Aussicht, erholst dich, träumst in den Tag hinein, genießt die Sonne und vergisst, dass es vor dir etwas viel Aufregenderes gibt, was vielleicht Überraschungen für dich bereithält. Schau dich um, Careca. Du siehst hier viele andere Menschen, die nicht über diesen Berg gekommen sind, die in deiner kühlen klaren, dünnen Luft berauscht der Höhenkrankheit erlegen und erfroren sind. Menschliche Eissäulen, festgefroren auf diesem Berg hockend. Irgendwann, wenn du von dem vielen Träumen, Erholen und Genießen müde bist und du versuchst dich davon zu erholen, dann wirst du das Tal vielleicht sehen und plötzlich träumst du von einem grünen Tal, voll von Bäumen, von einem Sonnenuntergang hinter den Bergen, davon, dass sich im Tal bestimmt mehr Leben abgespielt hätte, dass dort alles eine Veränderung, eine wirklich permanente Veränderung durchmacht und dass nicht das Tal morgen genauso aussieht, wie hier oben diese ungastliche Stein- und Schneewüste, sondern ein völlig anderes Gesicht hat. Aber deine Träume werden Träume bleiben, da du zu müde bist, hinabzusteigen. Ein besseres Zuhaus als hier oben findest du unten allemal. Komm mit ins Tal hinab.
Ich bin im Augenblick zu müde, PentAgrion.
Oder vielleicht einfach nur berauscht durch diese unwirkliche Welt hier oben?
Nein, das nicht. Aber wieso können wir hier auf diesem Berg keinen Wald anpflanzen? Denselben Plan wie mit dem Tal hier oben auf den Berg übertragen?
Weil hier oben keine Bäume in den Himmel wachsen können.
Woher willst du also wissen, dass es da unten im Tal klappt?
Ich vertrau darauf.
Du vertraust darauf? Gut, PentAgrion, aber gesetzt den Fall, dort unten befindet sich kein nährreicher Boden, kein Sumpf, den man urbar machen könnte? Gesetzt den Fall wir treffen da unten nur eine zweite Steinwüste an?
Du wirst keine Steinwüste antreffen. Das ganze Regenwasser, das diesen Berg herab floss, hat sich dort unten gesammelt und mit dem Wasser potenten Nährboden für Pflanzen herausgeschwemmt, direkt aus den Ritzen dieses Berges. Der Weg dahin ist nie umsonst. Sollte wirklich da unten nur Steinwüste sein, dann bist du so oder so verloren. Denn ohne Regenwasser, das dann nie gefallen wäre, verdurstet du auch hier oben wie da unten.
Aber wenn da unten nur Wasser ist und kein Boden? Woher willst du wissen, dass das Tal fruchtbar ist?
Schau nach unten, Careca. Du siehst nur eine braune Fläche. Keine sandfarbene oder bläulich schimmernde Fläche.
Aber, wenn da unten schon einer ist, der dieses Tal beschlagnahmt hat?
Glaub mir, Careca, du bist nicht umsonst über diesen Berg gekommen. Glaub mir das.
Und wenn es eine Sumpfblase ist, dieses Tal?
Das Tal ist eine Sumpfblase und es wartet nur auf eine Hand, die es befruchtet, die es ergrünen lässt. Es wartet auf dich. Es wartet darauf, dass du in diesem Tal Leben rein bringst. Dieses Tal gehört dir. Ganz allein dir. Du wirst eins werden mit diesem Tal und irgendwann wirst du in die anderen Täler reinblicken können, weil es dir nichts mehr ausmacht, die anderen Berge zu überwinden.
Du hast mich verwirrt, PentAgrion. Du redest so irr, aber doch auch so logisch. Ich werde dir vertrauen. Kommst du mit runter?
Der Wecker fiepte unerbittlich.
Mühsam wälzte ich mich aus der Hotelbettwäsche.
7:30 Uhr.
Die Zeit für den ausgeschlafenen Angestellten.
Guten Morgen, Arbeit.
Zuerst jedoch eine freundliche Dusche. Aufwachen findet bei mir unter fließendem Wasser statt.
Ich hatte krude Träume gehabt. Nicht nur die beiden, von denen ich oben schrieb. Da war auch noch der Traum mit den Papieren. Normalerweise erinnere ich mich nicht an solche. Aber diesmal hingen mir einige Traumfetzen wie Gemälde in meiner Erinnerung nach. In einer Straße lief ich auf und ab. Papier umwehte mich. Bedrucktes Papier. Ich hatte versucht ein Papier zu ergreifen, aber es rutschte mir immer wieder aus meinen Händen. Auf einem konnte ich ein Pentagramm erkennen, auf einem meinte ich, das Wort PentAgrion zu lesen. Auf wieder einem anderen las ich das Wort Vanderford. Ich hatte es versucht mit einem Kugelschreiber zu korrigieren, aber der Kugelschreiber in meiner Hand war ohne Miene und mein Versuch das Wort in van de Voorde zu ändern, führte dazu, dass ich das Blatt zerstörte. Weitere Blätter umwehten mich, ich las das Wort Usjh, König von Juda auf ihnen, sie bildeten mit ihren Seiten ein Fünfeck.
Darauf wachte ich auf. Die Dusche war für mich die Gelegenheit, mich von diesen irren wirren Traumbildern frei zu waschen.