Das Corona-Tagebuch: Provinznotizen aus Deutschland Süd bei Südost (12): Blasen

Es schwebte bereits über den Köpfen aller. Der Himmel hatte sich durch Wolken bereits zugezogen, die Sonne war nicht mehr zu sehen. Jetzt sind die Wolken dichter geworden. Erheblich dichter, dunkler und schwerer. Und aus ihnen fällt der enge Begriff „Kurzarbeit“. Anfangs hieß es noch, Kurzarbeit käme, wenn die Schulschließungen beendet wären, also ab dem 20. April, dann erst in der Karwoche, doch nun ist es angekommen, das Schreckgespenst aller Geldbörsen und Lohnzettel. Kurzarbeit. Weniger Netto vom eingekürzten Brutto aufgrund reduzierten Arbeitsumfang. Es waren weniger Aufträge eingetroffen, weil alle OEMs ihre Rollladen in deren Werken runtergelassen hatten. Und nicht wegen einem nachgewiesenen CoVid-29-positiv Fall. Jetzt kommen die Auswirkungen von der anderen Seite der Pandemie. Statt 5-Tage-Woche habe ich jetzt die 3-Tage-Woche inklusive Ausgangsbeschränkung.

War 2008/2009 noch erkennbar, woher jener Tsunami kam, welche die Wirtschaft unter sich begrub (durch die in den USA durch Gier verursachte Bankenkrise), so ist es nicht absehbar, wie viele Tsunamis heuer einschlagen werden. Geschlossene Produktionen bedingen schließende Zulieferbetriebe. Weniger Arbeit, bedeutet weniger Geld, bedeutet weniger verkaufte Neufahrzeuge, bedingt weniger erforderliche Produktion, bedingt weniger Abrufe bei der Zuliefererindustrie. Im Sektor der Automobilindustrie hatten in der Zeiten der Bankenkrise die Regierungen Abwrackprämien für Altfahrzeuge und Neuanschaffungen heraus gegeben, um diese Abwärtsspirale zu durchbrechen.
Und nun? Die Welt besteht nicht nur aus meiner Firma, nicht nur aus Automobilindustrie. Was mit der Reisebranche? Was mit Hotels, Gaststätten und nicht „systemischen“ Geschäften? Was ist mit dem Dienstleistungssektor? Momentan platzt nicht nur eine Blase, sondern verschiedene Blasen plöppen hörbar auf.

Blasen, die weiterhin funktionieren und nicht platzen, sind die Social-Media-Blasen Dort tummelt sich jeder irgendwie, der dort sich einloggt. Ein Bekannter (Freund?) sitzt in seinem Wohnwagentruck südwestlich innerhalb Barcelonas fest. Er hält die Corona-Sache für einen ausgemachten Wahnsinn mit dem Zweck, Bürger nur noch mehr zu überwachen und in ihren Freiheiten von nun ab entscheidend einzuschränken. Er forderte mich anfangs zu einem Meinungsaustausch auf, bis ich erkannte, dass er unbewusst wohl darunter verstand, dass ich mit meiner Meinung kommen sollte, um dann mit der Meinung aus seiner Blase zu gehen. Jeder lebt in einer Seifenblase und jeder mag keine Gefahr von außen, die diese Blase zum Platzen bringen könnte. Das Wort „jeder“ beinhaltet freilich auch mich. Und ja, ich habe auch meine Vorstellung von dem, was jeder „Realität“ nennt oder auch einfach nur „fake“, wenn es nicht gefällt. Ein Satz hängt mir noch immer nach, als er auf meine Frage, ob er auch positives in Barcelona in der letzten Zeit erlebt habe, zur Antwort gab, falls ich Bespaßung wolle, sollte ich den Fernseher einschalten.

Gestern Abend hatte ich zum ersten Mal seit langem den Fernseher nicht eingeschaltet. Zu groß ist der Kontrast aus pessimistischen Corona-Nachrichten und einer ’normalen‘ vorgespielten Welt der Fernsehserien und Fernsehfilme. Es interessiert mich nicht, ob die Midlife-Crisis Julia im Spagat zwischen Haushalt, Familie, Kita und Job den bieder-braven Bernd nicht mag und sie dann den supersexy Stefan kennenlernt, mit ihm dessen Reichtum auf Malle ihre hedonistische Seite auslebt, und dann doch unter Tränen feststellt, dass zwar der blöde Bernd nicht sexy, aber ein Brandungsfels sei, und erst dann zu ihm zurück kehrt, nachdem er verspricht, den Haushalt zu schmeißen und die Kita-Zuständigkeit unter ihrer Kontrolle zu übernehmen. Währenddessen sich der superenttäuschte Stefan Julias alleinstehende jüngere Freundin Felicia angelt, bei der jetzt Julia feststellt, was sie schon ihr Leben lang vermutete: “Die ist doch eine geldgeile Schlampe!” Worauf dann mindestens zwei Kinder mit einer Torte durch eine geöffnete Türe auf Julia zustürmen und „Mami, wir haben dich so lieb“ rufen. Dann schneidet der Regisseur auf das Gesicht des lieblichen Hausdackels um, fängt dessen Augen im Close-up ein und der Zuschauer sieht diese irgendwie vor Feuchtigkeit auch noch schimmern, bevor dann der Abspann mit Geigenmusik kommt. Ich kann mir sowas nicht anschauen, ich brauche meine Papiertaschentücher für meinen Schnupfen, nicht für Tränen wegen einer Fernsehwelt. Das interessiert mich momentan jetzt nicht mehr.

Der stetig kontrollierende Blick aufs Smartphone zu den neusten Corona-relevanten Zahlen reichte mir gestern aus. Eine ganz andere Zahl fand ich an jenem Abend bedeutsamer: 13,5%. Sie stand auf dem Rücketikett meiner Weinflasche. Wenn Zahlen zur alles bestimmenden Norm werden, zur normativen Kraft des Faktischen, dann wird alles gut? Oder schlechter? Oder ist es wie bei dem Hahn? Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt so, wie es ist.