Das Corona-Tagebuch: Provinznotizen aus Deutschland Süd bei Südost (13): Eins fünfzig

Fragen gehen mir durch den Kopf. Wie geht es mir mit der Ausgangsbeschränkung? Ändert sie mich? Ändere ich mich?

Solange ich zur Arbeit gehen kann, geht es für mich. Diese tägliche Routine, die ich nicht reflektieren mag, erleichtert es, nicht ins Grübeln verfallen zu müssen. Ich stehe auf, dusche, richte meine ActionCam auf die Baustelle vor meinem Fenster, um eine 10-Stündige Zeitrafferaufnahme zu erstellen, trinke zwei Espresso, mache mir eine Portion Flüssignahrung, packe eine weitere ein und mache mich auf den Weg. Auf dem Weg hole bei Nachfrage der Streifenpolizei meinen Passierschein raus und beantworte deren Fragen. Stemple ein, arbeite, stemple aus. Nach der Arbeit geht es zurück in die Wohnung, wo ich verbleibe und aus dem Fenster auf die Hinterhof-Baustelle starre, dabei das Zeitraffervideo auswerte, im Internet surfe und auch mal in einem Computerspiel dem Recht durch Verprügeln von Bösewichten zu seinem Recht verhelfe. Hin und wieder gehe ich gezielt einkaufen. „Gezielt“ heißt, ich spaziere nicht mehr ziellos durch die Lebensmittelgeschäfte und kaufe rein nach gusto ein, sondern ich suche nur bestimmte Dinge des Lebens in den Regalen. Und versuche dabei nicht anderen in deren Eins fünfzig-Sicherheitszone einzudringen. Dass Abstand jetzt sein muss, das sehe ich ein. Dass jeder Mensch jetzt erst recht ein potentieller Krankmacher oder gar Totmacher ist, das schwebt über jedem jetzt als unausweichliches Damokles-Schwert, bewusster als zuvor.

Gestern war ich bei meinem Wein-Händler, um meine Vorräte aufzustocken. Er lässt nur noch zwei Kunden gleichzeitig in seinem großen Geschäft. Nach meinem Einkauf stellte ich fest, dass ich beim Bezahlen versucht hatte, den Weinhändler in ein Gespräch zu verwickeln, um festzustellen, was ihn so umtreibt, wie er mit der Situation umgeht. Das ist nicht meine Art, wenn ich einkaufen gehe. Den Weinhändler in ein Gespräch zu verwickeln, das war jetzt wohl nicht im Sinne der wartenden Kunden draußen vor der Tür. Jeder will noch rein, bevor er regulär abschließt. Aber das fiel mir erst später ein, als ich in einem andren Supermarkt in der Eins fünfzig-Abstand-Warteschlange an der Kasse stand.

Eins fünfzig. Der neue normative Begriff, der Fakten schafft. Eins fünfzig. Anderthalb. Zwei halbe Anderthalbe machen kein ganzes, sondern wieder nur ein Anderthalbes. Eins fünfzig. Die verordnete Kurzarbeit wird mich die Ausgangsbeschränkung intensiver verspüren lassen. In meiner Wohnung gilt keine Eins-Fünfzig-Regelung einzuhalten. Nur schleicht sich die verordnete Kontaktsperre dann intensiver in meine Welt. Einfach mal rausgehen und von einem Café aus die Welt zu beobachten (wie vor zehn Jahren), funktioniert nicht mehr. Kein Café, kein Rausgehen. Wie heißt es doch so schön? Keine Arme, keine Kekse. Die Welt spielt sich mir dann verstärkt nur noch auf der Baustelle vor meinem Fenster und auf dem Monitor als Ausguck ins Internet ab. Living in a bubble.

Wie hieß es noch in dem Lied „Living in a bubble“ von Eiffel65 aus dem Jahre 1999?

Die Blasen sind keine Realität, aber sie sind in deinem Kopf. Sie lassen vergessen, woher du kommst und was dahinter steckt. Die Blase erschafft nicht dich, sondern du erschaffst die Blase. Und das vergegenwärtigst du besser in deiner Vorstellung. Wir leben in einer Blase. Aber das ist nicht der Ort, wo wir sein sollten. Weil es ein Ort der Lügen und eine Welle oberflächlicher Begeisterung ist. Vertraue der Blase nicht, denn sie ist nichts als ein Traum, und wenn sie platzt, bist du allein.

Die Busse sind leer. Die U-Bahnen bietet ausreichend Platz für jeden Passagier. Zumindest orientieren sich die Öffentlichen-Nahverkehr-Versorger nicht an der momentanen Nachfrage, welche zum Einschränken des Angebots führen könnte. Noch nicht. Die Zeitungskästen werden weiterhin regelmäßig von Lesern geleert und vom Zeitungsverteiler aufgefüllt. Des Tags die Straßen zu queren ist problemlos möglich. Es kommen nur selten Autos, denen das eigene Verhalten beim Überqueren angepasst werden muss.

Ich sitze am Fenster und schaue auf die Baustelle. Die Arbeiter sind bereits nach Hause. Die Baustelle liegt leblos brach. Eine Taube landet auf einen Sandhaufen, sucht nur kurz nach Essbaren und fliegt weiter. Die trockene Kälte der letzten Tage hat von dem Beton und dem Aushub den Staub abgetrocknet, welcher der Wind jetzt aufwirbelt. Der Kran dreht sich langsam in den Wind, seine Kabine leuchtet kurz in den Strahlen der nicht sichtbaren Sonne auf. Sie wirft noch die Schatten an den anderen Häuserfronten, um ihren Untergang anzuzeigen. Von meinem Fenster aus sehe ich nur noch sehr selten die Kondensstreifen der Flugzeuge, die München überfliegen. Warum – um Himmelswillen – spielt meine Anlage gerade in diesem Moment aus meiner Playlist „La vie en rose“?

Voilà le portrait sans retouche.