Aus einem nie stattgefundenen Telefongespräch

– Guten Tag, ich bin der Sohn des alten Mannes, dem Sie über die Straße helfen wollten.

  • Sie sind wer?

– Sie wollten meinen Vater über der Straße helfen. Jenem Mann mit dem Rollator.

  • Das war ihr Vater?

– Ja.

  • Und sie wollen sich bedanken?

– Ich finde ihre Hilfsbereitschaft bemerkenswert und so etwas hat Wertschätzung verdient. Es gibt so wenig Liebe und Verständnis in dieser Welt und ihre Tat sollte gewertschätzt werden. Deswegen rufe ich an.

  • Wertschätzung?

– Ja.

  • Ihr Vater hat mich geschlagen.

– Er nannte es …

  • Ich wollte ihm helfen und er schlug mit dem Stock auf mich ein.

– Er hatte sich geirrt und gemerkt, dass er Ihnen Unrecht angetan hat.

  • Er bat mich, ihm über die Straße zu helfen und dann mitten auf der Straße zieht er mir eins mit ihrem Stock über.

– Er dachte, Sie wollten ihn zur falschen Straßenseite bringen.

  • Zur falschen? Es gibt derer nur zwei und auf der einen war er und zur anderen wollte er. Wie kann ich ihn dann zur falschen Straßenseite gebracht haben wollen?

– Wie ich Ihnen bereits erklärte, er hatte sich geirrt und sich deshalb nur lediglich verteidigt.

  • Verteidigt? Er hat mich brutal niedergeschlagen. Mit dem Eisenknauf seines Krückstocks. Und dann hat er noch den Rollator auf mich geworfen. Wie ein wilder Stier! Ich hatte ihn noch nicht mal angegriffen und musste dann mit dem Krankenwagen ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht werden. Erst nach dem Erwachen aus der Not-OP erfuhr ich, was mir widerfahren war. Er hatte sogar weitere Ersthelfer niedergeschlagen und mit dessen demolierten Rollator überfahren.

– Er meinte, auf der anderen Straßenseite verbrecherisches Gesindel erkannt zu haben und glaubte, Sie wären deren Komplize. Er konnte ja nicht wissen, dass er einem Irrtum aufgesessen war. Menschen irren sich bisweilen, nicht wahr. Er war in einem putativen Notstand. Das muss man doch verstehen.

  • Ich ein Komplize? Ich wollte nur helfen. Wer sind Sie überhaupt?

– Ich bin einer seiner Söhne. Nun, nicht direkt ein Sohn, aber ein Sohn von ihm im Geiste. Eigentlich bin ich aber sogar sein größter Fan. Er ist halt unser aller Väterchen. Das Omega von jedem Alpha, was er selber schon immer war, aber nie jemand zu würdigen wusste. Sie müssen verstehen, er ist nun ein altes Väterchen. Mit Rollator. Und einer Gehhilfe. Er verliert hin und wieder mal die Übersicht und dann kann es mal zu so etwas kommen. Sie müssen verstehen. Er hatte schon damals viel Ungerechtigkeit erfahren, viel Leid mitbekommen, Tränen darüber vergossen, sich darüber gegrämt und deshalb …

  • Ach ja? Und Sie machen sich zu dessen Anwalt, oder was.

– Wenn sie so wollen, ja, ich bin sein Anwalt, weil ich ihn verstehe und deswegen seine Interessen in seinem Interesse weltweit hier vor Ort vertrete: Think globally, act locally.

  • Und Sie rufen mich deswegen an? Warum ruft er nicht selber an? Sie sollten sich für ihren Vater schämen! Aber ehrlich!

– Väterchen hat nun mal eine Krankenhausphobie. Das habe ich notariell feststellen lassen. In der Vergangenheit hatte er schon mal einige demoliert, weil er leider seine Phobie nicht ganz kontrollieren konnte. Aber das ist Vergangenheit und passierte auch nicht hier, sondern dort, wo Krankenhäuser eh schon nicht als solche bezeichnet werden sollte. Man muss nun mal eben mit unserem Väterchen pfleglich umgehen. Wie es bei Älteren sein sollte, deren Interessen dauernd missachtet werden. Wenn das nicht beachtet wird, dann können Väterchen nun mal ein wenig robuster reagieren, nicht wahr. Dafür sollten wir Verständnis haben.

  • Robuster? Bis jemand im Krankenhaus liegt?

– Jetzt machen Sie doch nicht aus einer Mücke einen Elefant. In einem Jahr springen Sie wieder über Wiesen und Bäche, so munter wie ein Zicklein im Frühling, während unser Väterchen aber weiterhin mit dem alten Rollator und seiner Gehhilfe unterwegs sein wird.

  • Wissen Sie, was die größte Mücke-zu-Elefant-Mutation ist? Sie sind es! Das Sie es überhaupt wagen, mich um Verständnis zu bitten, dass sich ihr Väterchen wie ein Berserker benimmt, weil die Welt doch so schlecht ist. Mit Verlaub, Sie sind doch bescheuert! Und wie ist der Name Ihres ach-so-ehrenwerten Väterchens?

– Putin. Vladimir. Und Sie müssen verstehen, dass unser Väterchen halt so seine Gründe hat, dass er ein wenig über die Stränge geschlagen hat. Es sind gewisse, evidenzbasierte Gründe, ganz wissenschaftlich gesehen der reinen Selbstverteidigung gehorchend.

  • Gut. Ich schlage dann vor, wir sprechen den Vornamen ihres Väterchens wie bei Bram Stocker aus. Und den Nachnamen ihres Väterchen einfach nur noch französisch. Dann trifft es wohl dessen Geisteshaltung anderen Menschen gegenüber, nicht wahr. Bitte rufen Sie mich nicht mehr an.

– Nehmen Sie die Entschuldigung für mein Väterchen an?

  • Gott erhalte ihren Putin!

– Oh, das ist aber sehr schön von Ihnen. Ich bedanke mich für ihr Verständnis und werde ihre Aussage als Entlastung vor Gericht zitieren, sollte er vor solchen gebracht werden.

  • Sie haben mich unterbrochen! Mein Satz ist noch nicht fertig.

– Ach ja? Das ist aber schön von Ihnen. Sie haben wirklich einen großen demütigen Geist. Was wollten Sie noch weiter sagen?

  • Möglichst bald!

Ein Gedanke zu „Aus einem nie stattgefundenen Telefongespräch

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.