Was vorher geschah: Teil 1, Teil 2
“Ho-ho“, intonierte Thomas wie ein Weihnachtsmann diese Buchstaben, hauchte sie atonal aus seiner Kehle heraus, “ja ist denn schon wieder Weihnachten?”
“Ho! Ho!”
Thomas zuckte zusammen. Hatte ihm jemand geantwortet? Er schaute sich um: “Ist da jemand?”
In dem Moment verfing sich die dornige Ranke in seinen Strumpf. Er spürte schmerzhaft wie die Dornen über seinen Knöchel ritzten.
So saß er also dort über seinen Rucksack, starrte auf sein Smartphone, blickte erneut auf seine Karte und den Aufzeichnungen seines Notizbuches und überlegte, ob er noch auf den richtigen Weg wäre. Konzentriert schaute er sich nochmals um. Den Unterstand konnte er nicht mehr sehen. Dafür sah er nicht unweit vor ihm einen Schlagbaum und darauf eine Frau sitzend. Hinter dem Schlagbaum schien es einen Weg zu geben. Thomas packte seine Sachen in den Rucksack, stand auf und ging zu der Frau hinüber. Je näher er kam, desto mehr erkannte er, dass die Frau eine alte Haspel vor sich stehen hatte, auf der sie einen Faden abwickelte.
Haspel? Spinnleonore? Thomas musste grinsen. Was sollte das denn? Kulturgutpflege? In dieser Gegend? Für einzelne Wanderer? Das konnte er nicht glauben. Wahrscheinlich hatte war sie es, welche seinen Ruf beantwortet hatte. Übermütig rief er der Frau zu: “Hey, sind Sie die Spinnleonore? Leonore, sind Sie es? Ho-ho!”
Die Frau blickte auf und ein weiteres “Ho-ho” ertönte als Antwort. Aber es kam nicht von der Frau. Thomas tippte auf ein Echo.
“Ho-ho, Spinnleonore. Hier soll es eine Absturzstelle aus dem Zweiten Weltkrieg geben. Wissen Sie, wo ich die hier finde?“ rief er der Frau zu.
“Ho-ho”, antwortete es, diesmal näher als zuvor. Nur, die Spinnleonore war es nicht. Sie saß weiter dort und haspelte ungerührt, gleichwohl sie ihn trotzdem anblickte. Ihr Mund formten Worte, die er so nie zuvor gehörte hatte: “Ick häör et auk. Ick häör et auk.” Eine Stimme hinter der Frau antwortete: “Awat, du bis nich wies!” “Ick nich wies? Dann luster doch äs up!”, schien die Frau zu antworten. “Alles dumm Tüg! Alles dumm Tüg!” “Dat Viennmöerken halt die!”
Thomas war verwirrt. Was wurde da geredet? Wohin musste er? Wies? Luster? Tüg? Und wo soll jenes Viennmöerken halten? Er verstand nur noch Bahnhof. Zögerlich rief er es nochmals mit der Stimme eines heiseren Weihnachtsmann ein “ho-ho”, als es über ihn krachte. Er konnte noch erkennen, dass er unter einer knorrigen Eiche stand und ein kleinwüchsiger Mann auf ihn zu fallen drohte. Fallen? Der fiel nicht! Wenn Fall, dann Überfall, waren seine panischen Gedanken. Gleichzeitig spürte er wie dieser Zwerg-Mann im Fall auf seinen Kopf traf, dabei dessen Hände um Thomas Hals legte und zudrückte. Verflucht! Heimtückische Davert …
Thomas öffnete langsam seine Augen. Sein Kopf schmerzte, sein Hals tat ihm weh. Er lag unter einem Baum, einer Eiche, einer knorrigen Eiche. Es war dunkel und die Astlöcher der Eiche sahen wie Augen aus, die ihn kalt musterten. Zum Teufel nochmal! Sein Rucksack. Er tastete um sich und atmete erleichtert auf, als er ihn erfasste. Gott, sei Dank, er wurde nicht geraubt. Thomas richtete sich auf, zog ihn zu sich, öffnete ihn und zog sein Smartphone hervor. Er musste wohl schon einige Zeit lang gelegen haben, denn die Uhr zeigte ein Uhr nachts an. Der Akkustand war niedrig, aber reichte noch aus. Netz hatte er keines, Funkloch offenbar. Obwohl, er hatte doch vorher … . Er zuckte mit den Schultern. Seine Karten dieser Gegend funktionierten auch offline. Er hatte sie sich zuvor herunter geladen. Verwirrt richtete er sich auf und erblickte vor sich eine hell erleuchtete Waldlichtung. Er schaute auf seine Smartphonekarte, um sich zu orientieren. Es dauerte ein wenig, bis das GPS ihn lokalisiert hatte. Er wartete noch etwas. Aber die Karte baute sich auf seinem Smartphone nicht auf, sondern die App verlangte nach Internetzugang. Er wedelte kurz mit seinem Smartphone in alle Himmelsrichtungen, um irgendwie einen Zugang zu erhalten, aber es war nutzlos. Kein Netz.
Er schaute zu einer Waldlichtung rüber. Sie lag in einem fahlen Licht getaucht. Im Geäst über sich konnte Thomas den Mond ausmachen, der die Szenerie beleuchtete. Offensichtlich der Vollmond. In der Lichtung erstreckte sich eine Wiese, deren helles Grün eigentümlich verführerisch leuchtete. Thomas wechselte auf die Kamera-App, stützte das Smartphone auf sein Knie ab und hielt es auf die Szenerie. Er atmete tief ein und aus, um eine ruhige Hand zu bekommen und löste aus. Dreimal wiederholte er das Ganze. Er wollte sicher gehen, dass zumindest ein Foto nicht verwackelt sein würde. Mit ein paar Wischen kontrollierte er die Fotos. Zwei erschienen ihm unverwackelt, das dritte wollte er löschen, als er von einer Bewegung auf der Lichtung abgelenkt wurde. Er kniff seine Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Tanzten dort zwei Frauen? Er schloss kurz seine Augen, schüttelte seinen Kopf rasch hin und her, um wacher zu werden und öffnete sie wieder. In der Tat, er sah zwei nicht mehr so junge Frauen. Tanzende Frauen in weißen Nachtgewändern. Sicher war sich Thomas nicht, denn er bemerkte auch, dass die Wiese dampfte, dass aus ihr Nebelschleier aufstiegen, die aussahen wie Spinnweben. Und das Tanzen der Frauen bestand eher aus seltsamen Sprüngen. Zudem er glaubte auch Gesang zu vernehmen. Dem, was er sah, traute er jedoch nicht. Er hatte vor, sich bemerkbar zu machen und ihm lag schon wieder dieses “ho-ho” auf der Zunge. Aber instinktiv verbiss er sich es. Dieses “ho-ho” erschien ihm nicht geheuer.
Ein Ast knackte. Thomas duckte sich und bemerkte wie eine Gestalt sich den Frauen näherte. Verwundert schaute er zweimal hin. Die Gestalt war die eines Kiepenkerls. Zumindest hatte er eine Kiepe auf seinen Rücken geschnallt, trug offensichtlich Holzschuhe und hielt eine leicht rauchende Pfeife in seiner Hand. Die Frauen bemerkten ihn und tanzten den Kiepenkerl an. Der leise Gesang der Frauen wurde ein wenig lauter, aber Thomas verstand nicht wirklich, was sie sangen. Er hatte sich inzwischen flach hingelegt und beobachtete, das seltsame Treiben. Die beiden alten Frauen betanzten den starken stämmigen Kerl und irgendwie hatte er das Gefühl, dass das Ganze wie eine der Szenen aus dem Film “Dirty Dancing” ausschaute. Die Frauen rieben sich beim Tanzen sichtbar mit Vergnügen an dem Mann.
Fortsetzung folgt