Der Mann ohne Helden-Lizenz, der die Welt rettete

In einem fernen Land und Zeitalter der heutigen Jetztzeit existierten Paralleluniversen. Sie waren zahlreich und wurden immer argwöhnisch beobachtet. Es herrschte immer ein wenig Angst darüber, dass diese Paralleluniversen schädlich für die Zukunft sein könnten. Dass sie deren Bewohner gehirnwaschend verblöden könnten, weil deren Bewohner nicht erreichbar waren und kein Auslieferungsvereinbarungen für jene machbar waren, noch gab es Visen, um diese rechtmäßig zu betreten.

Comics waren so ein Paralleluniversum. Comics waren die Verkörperung der Ausgeburt der Ungebildetheit. Viel schlimmer noch: sie sollten die Bildung schädigen. Wie das Fernsehen. Dass Fernsehen blöd macht, weil es die Menschen amüsiert und vom Ernst des Lebens ablenkt. Vielleicht hatten die Erwachsenen von damals Recht und der Welt ist eine Generation von Einsteins entgangen. Oder neue Führer, welche wie Jeanne d’Arc ihr Heer in die Schlacht werfen, foltern und morden und dann als Märtyrerin, Jungfrau und Heilige verehrt werden.

Helden.

Jede Kindheit hatte ihre Helden. Meine ersten waren Fix und Foxi, zwei kleine bunte Plastikfigürchen. Zusammen mit einem kleinen Würfel und zwei Bleistiften spielten wir drei die KO-Runde der Fußball-WM 1974 nach, bis ins Finale, wo dann Müller den Ball vor sich hatte, in einer Drehung den Ball vorm Elfmeterpunkt, im Fallen, drehend … und der Torwart lang und länger sich machte und der Ball ins Netz und die darauffolgende zweite Halbzeit bang und bänger … . Paralleluniversum. Es ist bewiesen. So etwas schadet. Ich wurde in Folge dessen nie Fußballspieler (maximal -treter) und reckte nie einen bedeutenden Pokal in eine sternenglänzende vibrierende Nacht, wurde nie berühmt und spielte mit Plastikfigürchen, Würfel und Bleistiften auf einem grasgrünen Teppichbodenbelag liegend.

Danach hatte die Firma “Mattel” neue Paralleluniversen geschaffen, Ende der 70er Jahre. Sie brachte “Action Man”-Figuren raus. “Big Jim” hieß eine Reihe. Während die  Mädchen fleißig mit Barbie und Ken die harmonische Welt einer Bilderbuchehe in einem Bilderbuchhaus trainierten, hatte wir Jungen die “Action Man”-Figuren. “Äktschen-Männer” brauchten keine Villa, keinen großes amerikanischen Straßenkreuzer oder eine treu sorgende Hausfrau. Sie hatten die Wildnis als Villa, maximal einen Jeep und ihre Braut war irgendeine Waffe, um sich gegen wilde Tiere zu wehren. Unbesiegbar, erfolgreich und heldenhaft. Aber Helden sterben einsam. Keine Ahnung, was aus meiner “Big Jim”-Figur letztendlich wurde, ob meine Eltern sie verschenkt haben oder ob sie auf einen der illegalen Müllgruben auf dem westfälischen Land in einem tiefen Erdloch verschwanden. “Big Jim” jedenfalls landete da, wo es keine Leidenschaft mehr gibt, wo höchsten Spinnen ihr Netz aufhängen, um anderen Lebewesen heroisch deren Leben das Garaus zu machen, in einer Ecke.

Freunde lasen Comics mit den angesagten Superhelden. Tarzan, Spiderman, Batman oder Superman. Superman vor allem. Der brave Clark Kent, der immer ein wenig so aussah, wie Barbies Ken. Clark Kent, der Journalist, der seine Barbie – jene Lois Lane – anhimmelte und dann eine Telefonzelle betrat, um aus ihr nachher mit einem Arm voraus gestreckt fliegend die Welt vor den Bösen rettete. Das war ein Superheld. Ein Freund überließ mir zwei Comics und ich las sie heimlich, wie es sich gehörte unter der Bettdecke mit meiner Taschenlampe. Meine Eltern mochten keine Comics, erstens weil sie schaden sollen und zweitens auch noch unnötig Geld kosteten. Ich las sie aber trotzdem. … Paralleluniversum. Erneut ist es bewiesen. So etwas schadet definitiv. Ich wurde nie Superheld, flog nie durch sternenglänzende, vibrierende Nächte, wurde nie berühmt und las stattdessen weiterhin gerne Comics unter der Bettdecke.

Mir fällt da noch das Comic “YPS” (mit Unterschlagzeile: “Comic mit Gimmick”). Die Comics waren so platt wie die einfach gezeichneten Figuren und das trotz der Geld-Zauber-Maschine oder der Trick-Schiebe-Schachtel (= eine Mark rein und zurück gab es 5 Pfennig). Braucht es noch ein Beweis, wie schädlich Comics sind? Ich wurde nie Millionär trotz der angebotenen Möglichkeit, andere um ihre mühsam ersparten Märker oder 5-Mark-Scheine zu bringen … . Wahre Helden wären damit groß geworden. Wie Ronald Briggs. Oder unsere Helden der Finanzkrise, der Josef Ackermann oder der Peer Steinbrück. Die haben garantiert in ihrer Jugend keine Comics gelesen. Oder fern gesehen. Oder mit Anziehpuppen gespielt.

Irgendwann war die Freundschaft mit den Figuren aus. Sie hatten des Lebens nicht. Der Entscheidung nicht. Es fehlte ein Impuls für weiteres. Dann kamen die “wirklichen” Helden. John Lennon, Mahatma Ghandi. Aber das war den anderen auch nicht recht. Der eine Kommunist, der andere geistiger Spinner, aber beide real von Kugeln ins Herz getroffen, was nach Ansicht der anderen, diese als berechtigte Begründer einer Parallelwelt disqualifizierte. Denn es waren keine “Action”-Helden-Figuren aus der Mattel-Reihe, keine Comic-Heft-Helden, keine Fernsehprodukte. Aber sie wurden eindeutig als “schädlich” für die Zukunft eingeordnet. Denn mit jenen Typus Mensch der beiden “wär der Russe schon in drei Tagen hier” wurde gleichzeitig der Teufel an die Wand gemalt.

Es war die Zeit der Proteste gegen die Aufrüstung und gegen ein institutionalisiertes Feindbild, dem alles untergeordnet wurde. Es war die Zeit Anfang der 80er und in unserem Dorf war nur Platz für die wenigen “wahren” Helden: Kohl, Strauß und der Papst. Alle andere waren entweder Kommunisten, Heiden oder beides. Wer das nicht kapierte, lebte eh in einem Paralleluniversum und war bereits unrettbar geschädigt. So stand ich also mit paar Freunden 1983 jede Woche rund um unseren kleinen Dorfpumpenbrunnen und trug ein Schild um den Hals: “Schweigen für den Frieden” hieß die Aktion und sollte auf den Rüstungswahnsinn der Welt hinweisen. Blicke streiften uns hin und wieder. Freundliche waren kaum dabei. Aber den meisten war wir sowieso egal. Auch der Gruppe von etwas älteren Jugendlichen, bei der eine junge Frau ihr Baby immer wieder leicht in die Höhe warf und das Baby dabei vor Freude gluckste. “Lass es fallen, ich mach dir ein neues”, war die Bemerkung eines der dabei stehenden jungen Männer. Die Szene hat sich in mein Hirn eingegraben und ist mir so lebendig wie damals vor Augen. Und dann eine Vision, was wäre, wenn jetzt über unseren Köpfen eine atomare Rakete explodieren würde, weil das ganze System der atomaren Abschreckung aus dem Gleichgewicht geraten sein würde.

Das Jahr 1983. Mit friedlichen Methoden der Umgebung aufzuzeigen, wie aus dem Freund-Feind-Denken ausgestiegen werden konnte, war recht unwillkommen. Wer das tat, gehörte zu den “Weltfremden”,”Spinnern” und “Träumern”. Wäre der Russe wirklich einmal mit seinen Panzern angerollt gekommen, es hätten alle selbsternannten Realisten ihre PKWs sofort in die eigenen Garagen gefahren, damit das Blech keinen Schaden nehmen würde. Denn Helden, die gab es in unserem Dorfe nicht. Helden gab es auf der Leinwand. Christoper Reeve flog “Superman” ja bereits in der dritten Verfilmung über die Leinwand und rettete mehrfach die Welt. “James Bond” hatte ebenfalls nur eine Aufgabe und zwar heldenhaft die Welt vorm Bösen zu retten. Und dann war da noch “Conan, der Barbar”, jener Boxer “Rocky” und sein wilder Pedant “Rambo”. Die Welt war voll von fiktiven Superhelden.

Aber niemand gab etwas auf denjenigen, der wirklich die Welt rettete und weder durch Comic-Heftseiten, noch über Leinwände jagte, noch die Fernsehzuschauer an der Mattscheibe kleben ließ, geschweige denn einen Friedensnobelpreis erhielt:

Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow.

Sein Name ist kaum jemanden ein Begriff. Auch Menschen in meinem Altersbereich sagt der Name nichts. Er konnte nicht mit voraus gestrecktem Arm atomare Raketen umlenken, er durchschnitt kein Kabel einer Atombombe, während er mit einem Lächeln auf den Lippen einen bösen, machthungrigen General per Blattschuss aus seiner Walther PPK mit Brausch-Schalldämpfer erledigte. Er ritt auch nicht bis an die Zähne bewaffnet ins Feindgebiet, um dort jeden Bösewicht ins Jenseits zu befördern, damit die Frommen in Frieden leben können.

Nein, Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow hat sich dadurch zum Retter der Welt gemacht, indem er einmal einfach das tat, was von Helden nicht erwartet wird. Oder besser gesagt: indem er nicht das tat, was von ihm erwartet wurde: nicht nachzudenken, sondern einfach zu handeln. Petrow war vor 35 Jahren (1983) Oberstleutnant der Sowjetarmee. Am 26. September 1983 meldeten die Frühwarnsysteme einen amerikanischen Angriff durch Atomraketen. Da Petrow den Systemen nicht traute und lieber abwartete statt die Meldung direkt weiterzuleiten, stellte es sich heraus, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hatte. Hätte er nicht abgewartet und pflichtgemäß gehandelt, der atomare Holocaust wäre 1983 eingetreten.

Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow war im übrigen nicht der erste, der die Welt rettete. Es gab vor ihm auch noch Wassili Alexandrowitsch Archipow, der in der Kuba-Krise seine Zustimmung zu einem atomaren Torpedo-Abschusses an Bord seines U-Boots verweigerte, obwohl bereits die amerikanischen Streitkräfte das U-Boot mit Übungswasserbomben attackierten und die U-Boot-Mannschaft davon ausging, dass sich die Kuba-Krise in einen Krieg ausgeweitet hätte.

Petrow und Archipow passen irgendwie nicht in unser Superhelden-Raster und auch nicht in die Freund-Feind-Denke, was den “bösen” Feind in Russland angeht. Sie haben weder Hollywood-mäßig spektakulär gehandelt, noch waren sie herausragende Menschen. Petrow beispielsweise war wohl eher einer, den man auch mal als “Stinkstiefel” bezeichnen würde. Als sich der Angriffsalarm des Frühwarnsystems als Fehlalarm herausgestellt hatte, ging jeder in seiner Einheit davon aus, dass Petrow hoch dekoriert werden würde. Bei dem Alarm handelte es sich um einen Systemsoftware-Fehler und eine Auszeichnung Petrows wäre ein Zeichen der Demütigung anderer hochdekorierter Generäle empfunden worden. Und daher wurde Petrow auch nicht ausgezeichnet. Er wurde nicht zum Superhelden. Er wurde wegen seiner weltrettenden Entscheidung nicht bekannt. Er wurde nicht berühmt und zeitnah weltweit in Zeitungen und Fernsehen geehrt. Es wurde kein Hollywood-Film über seine Tat gedreht. Lediglich ein dänischer Dokumentarfilmer, Peter Anthony, nahm sich des Stoffes an und dokumentierte ihn, als Petrow 20 Jahre später ein wenig bekannter und in der UN geehrt wurde. Aber selbst das wurde nie wirklich an die große Glocke gehangen. Denn die wurde im Jahre 2006 bereits als Todesglocke für Militäreinsätze in Irak, Pakistan und Afghanistan benötigt.

Eigentlich weine ich dem Superhelden “Superman” ein wenig hinter her, wenn er über die Leinwand fliegt. Die Verbindung zu seinem Paralleluniversum wurde zerstört. Er ist nur noch in Lichtspielhäusern willkommen. Die Telefonzellen wurden abgeschafft.

Sie machen heuer sehr viel massenhaft Überstunden, die Superhelden in den Kinos dieser Welt, um eben diese Welt für die Kinobesucher zu retten. Eine schöne Illusion. Die unbekannten Helden eben eher in deren unbekannten Raum eines wirklichen Universums, in jenen Räumen, auf denen nur hin und wieder kurz ein kleines Licht fällt. Superhelden stehen immer im Licht und leben davon. Die unbekannten Helden spekulieren nie auf ein Rampenlicht und taugen daher nicht für Heldenepen. Deswegen kennt sie auch nie jemand … .

Danke, Petrow, und alles Gute!

In Memoriam Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow (*1939,+ 2017)

 

All that happened didn’t matter to me—it was my job. I was simply doing my job, and I was the right person at the right time, that’s all. My late wife for 10 years knew nothing about it. ‚So what did you do?‘ she asked me. ‚Nothing. I did nothing.‘

(Petrow)

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