Kinder, die auf Brücken starren

Unter Brücken, über Brücken, mit Brücken, auf Brücken. Ein Bauwerk zur Überquerung von Hindernissen.

Wenn er zur Schule wollte, dann hatte er regelmäßig mindestens eine Brücke zu überqueren. Er konnte allerdings auch wählen, gleich sieben Brücken zu passieren. Einige davon waren neutral, so dass er mit seiner Leeze kaum etwas verspürte außer einer Bodenwelle im Asphalt. Eine andere dagegen war für ihn sein „L’Alpe d’Huez“, seine Herausforderung, morgens wenn er noch müde sich abstrampelte, um rechtzeitig zur drei Kilometer entfernten Bushaltestelle zu gelangen, von wo er auf einem Stehplatz mit anderen Kindern im Gang des Bus eingezwängt in die 14 Kilometer entfernte Schule fuhr. Oder – wenn er den einzigen Bus verpasst hatte – über der Landstraße trampte.

Sein „L’Alpe d’Huez“ hatte den Nachteil des ihm unendlich lang vorkommenden Aufstiegs. Da half ihm auch seine Drei-Gang-Schaltung nicht, die Trittfrequenz zu halten. Die letzten zehn Meter zum Scheitelpunkt der Brücke quälten ihn morgens immer, besonders mit dem Tornister und seinen Büchern und Heften auf dem Rücken, das war ihm kein Spaß. Oben auf dem Scheitelpunkt der Brücke starrte er runter und sah kurz dem Verkehr der Autobahn zu, wie er unter ihm lärmend vorbei rauschte. Die Abfahrt von seinem persönlichen „L’Alpe d’Huez“ konnte er auch nicht genießen. Auf dem halben Wege der Abfahrt kam versteckt hinter dichten Büschen eine Straße von rechts. Seine Eltern hatten ihm stets eingeschärft „rechts vor links“ und er hatte festgestellt, dass Autofahrer sich diese Regel immer dann zu Herzen nahmen, wenn es für sie an unübersichtlichen Stellen zum Vorteil gereichte. Autofahrer respektierten wohl gleiche Verkehrsmittel, lediglich Fahrradfahrer interessierten weniger. Die hatten von jeher immer aufzupassen. Also bremste er immer wieder an der Einmündung ab und schaute genau hin, ob jemand mal wieder einfach aus der Straße hervor zog..

Oder er mied seinen „L’Alpe d’Huez“. Dann musste er die Autobahn mindestens einmal unterqueren, vier Bäche überqueren und konnte seine Trittfrequenz halten. Die Autobahnunterführung war grau und trostlos. Aber sie hatte ein gutes Echo. Ein Schrei, schrill ausgestoßen, hallte dann zurück wie in einem Horrorfilm. Immer herrschte dort die Geräuschuntermalung der Autobahn über ihn. Es polterte, bollerte, bummerte, rauschte, heulte, rollte von der „Hansalinie“, die er von seinem „L’Alpe d’Huez“ aus von oben kannte. Mit der Zeit meinte er in der Unterführung zwischen LKWs mit Anhänger unterscheiden, leichteren Fahrzeugen, Rasern und gemütlich Reisenden unterscheiden zu können.

Auf der Wiese vor der Autobahn unweit der Unterführung spielte er öfters mit seinem Bruder Fußball. Jacken und Pullover markierten die Pfosten des jeweiligen Tores. Ein Fußballspiel hatte sich in seinem Gedächtnis eingegraben. Es war am Karfreitag und die Zeit bis zur nachmittäglichen Karfreitagsmesse musste überbrückt werden. Die Struwen waren gegessen und wollten verdaut werden. Er spielte mit seinem Bruder zum wiederholten Mal Schalke gegen Bayern, wobei sein Bruder immer Schalke war und ihm es eigentlich Wurst war, ob er Dortmund, Bayern oder Tasmania Berlin war. Er hatte das Tor seines Bruders mit der Autobahn dahinter im Blick und fixierte seinen heran dribbelnden Bruder. Seine Aufmerksamkeit wurde allerdings durch einen aufheulenden Ton von der Autobahn abgelenkt. Der Ton stammte von einem Motor, der urplötzlich hochdrehte. Das dazugehörende Fahrzeug sah er seitlich aufsteigen. Es hob ab, schien höher als die Büsche an der Autobahn zu streben und fiel herab sich seitlich überschlagend. Bremsen quietschten, untermalt von dem Geräusch von Metall, welches auf dem Asphalt schliff. Das Konzert der Bremsen war lauter als die Geräuschkulisses des sich überschlagenden Fahrzeugs. Auf der Autobahn herrschte in Folge gespenstige Ruhe. Vereinzelnd waren Rufe zu hören. Der Verkehr in beiden Fahrtrichtungen war zum Erliegen gekommen. Stau. Er sah Menschen zu einer Stelle laufen, ihm verborgen hinter den Autobahnbepflanzung. Sein Vater hatte den Unfall ebenfalls mitbekommen, die Polizei verständigt und lief darauf die Böschung hoch. Auf seine Fragen an ihn, was er denn dort gesehen hätte, antwortete er ausweichend, aber sein Gesichtsausdruck ließ nichts gutes vermuten. Später landete einer der „Christoph“-Hubschrauber an der Unfallstelle, um die Verunglückten aufs Schnellste in ein Krankenhaus zu fliegen. Es war einer der ADAC-Hubschrauber, denen inzwischen an der Autobahn A1 am Kamener Kreuz ein weithin sichtbares Denkmal gesetzt wurde.

An der 100 Meter vor der Unfallstelle liegenden Unterführung kam ihm die Idee, mit einem „Edding 2000“ eine Liste der Unfälle zu führen. Die A1 als Blutader der Region, denn auf keiner Straße floss mehr Blut. Besonders und seltsamerweise in den folgenden Jahren immer zu Karfreitag. Aber schwarz Schrift auf grauem Beton, das fiel kaum auf. Und das fiel wahrscheinlich auch nur ihm auf, denn die Unterführung wurde nur selten für Verkehr genutzt. Mit geklauter Schulkreide versuchte er daraufhin dem Ganzen eine neue Schattierung zu geben. Jedoch gab er es letztendlich auf. Denn die Unterführung hatte ihr eigenes Leben. Wenn sie „schwitzte“, dann setzte ihr Selbstreinigungsprozess ein und löschte seine Eintragungen. Früher hatte er nie verstanden, warum Unterführungen schwitzen können. Erst später erfuhr er über den Zusammenhang zwischen Taupunkt und Umgebungstemperaturen und warum Brücken „schwitzen“ können.

Tatsächlich fuhr er täglich unter jener Brücke hindurch. Einen Namen hatte die Unterführung auch: „Viehtrift“ wurde sie genannt. Nicht wirklich ein ungewöhnlicher Name, aber damit war eindeutig beschrieben, welche Brücke gemeint war. Denn auf der anderen Seite der Autobahn, war Weideland und der einzige Weg zurück in den Kuhstall seiner Eltern führte durch jene „Viehtrift“. In den 70ern wurde sie zu einem ernsthaft bedrohlichen Nadelöhr. In den Schulferien im Juli hatte es seit drei Tagen ohne Unterlass geregnet. Die Äcker und Weiden saugten sich voll, die Drainagen kapitulierten, die Gräben füllten sich und leiteten ihr Wasser in den Nahe gelegenen größeren Bach, der immer mehr anschwoll. Am dritten Tag trat über seine Ufer und überschwemmte anliegenden Weiden und Äcker. Seine Eltern mussten die Rinder hinter der Autobahn zurück holen, allerdings lief die Viehtrift langsam aber stetig wie ein Schwimmbecken voll. Die Rinder wollten nicht durch das Wasser, welches einen halben Meter hoch stand. Irgendwie gelang es, das Leitrind mit Schlägen durch das ansteigende Wasser zu treiben und die Herde folgte. Am nächsten Tag hatte das Wetter über Nacht aufgeklart. Keine Wolke war mehr am Himmel, die Sonne brannte hernieder und die Unterführung stand mit knapp mehr als einem Meter unter Wasser.

Für ihn erschien die Unterführung wie ein riesiges Schwimmbecken. Er durchquerte die Unterführung in allen Schwimmstilarten, die er konnte: Brust, Kraulen, Rücken. Und er war sich sicher, kein Auto würde ihn dabei stören. Die Sonne heizte die Luft auf über 30 Grad auf und das kühlte wunderbar. Sommer pur. Am nächsten Tag ging das Wasser langsam wieder zurück. Im nahe gelegenen Dorf hatte es sich bei den Kindern herumgesprochen, dass die Unterführung stark unter Wasser stand und dass man dort unbeschwert schwimmen konnte. Nicht nur Kinder kamen zum Schwimmen, sondern auch zwei, die ihre Kajaks mitgebracht hatten und unter der Unterführung paddelten. Irgendwann am Nachmittag kamen einige mit ihren getunten Opel Kaddets vorbei. Und einer davon riskierte das Undenkbare. Nachdem seine Freunde dafür gesorgt hatten, dass sich niemand in der Unterführung befand, raste der Fahrer in die Wasserfluten der Unterführung hinein. Eine schöne Bugwelle war das Beste, was er erreichte. Und eine hübsch anzuschauende Dampfwolke über seiner Motorhaube. Seine Freunde schleppten ihn mit einem Strick mittels eines VW Golfs aus dem Wasser und dann nach Hause. Die zuschauenden Kinder hatte sich darüber königlich amüsiert. Am dritten Tag nach der Überschwemmung knallte die Sonne immer noch vom Himmel und das Wasser in der Unterführung war handwarm, aber zum Schwimmen taugte es nicht, denn es war nur noch wadentief. Am vierten Tag erinnerte nur noch eine Pfütze und der Wasserrand an der Betonunterführung an jene Überflutung. Paar Wochen später nutzte er die Unterführung wieder, um zur Schule zu radeln. Nichts erinnerte mehr an das Sommervergnügen.

Wieder überquerte und unterquerte er jene Brücken, die grau und trist sich ihm darboten.

Ein Jahrzehnt später verließ er die Gegend und ließ sich woanders nieder und wieder hatte es eine Brücke, die er regelmäßig auf dem Weg zur Arbeit unterquerte. Grauer Beton, verziert von blauen unlesbaren Sprüchen aus der Sprühdose. Trist, trostlos. Und darüber gab es nur ein Geräusch, wenn es eines gab: das Poltern der Nahverkehrszüge.

Als er eines Tages aus seinem Urlaub zurück kam und zur Arbeit ging, war das Grau des Betons verschwunden. Auch von den blauen Sprühschriften sah er nichts mehr. Er blickte auf ein riesiges Graffiti mit seltsamen Bildern. Er blickte in bunte, schräge Gesichter und versuchte sie zu lesen, aber er verstand ihre Botschaften nicht. Er starrte auf die farbenfrohen, seelenlosen Bilder der Brücke und fühlte  nichts. Es war wie das vorherige Grau des Betons, was ihm auch nichts sagte. Lediglich dass er dort immer wieder mal in seiner Vergangenheit abglitt, welche sich mit dem Grau der Brücken in seinen Geschichten verband … damals …

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