Ein Schloss, ein König, erneut PentAgrion und dann die Zahlenmystik

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2

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Es war ein regnerischer Tag. Für Mitte Oktober war es eindeutig ein zu kalter Tag. Im Grunde war das einer der Tage, sich die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und weiter zu schlafen.

Stattdessen stand ich an einem Schlossfenster und starrte auf den Hof. Bekannte hatten mich zu Schloss Neuschwanstein mitgenommen. Es war nicht das erste Mal, dass ich das Schloss besuchte, aber meine Hoffnung war, dass das Wetter dort vielleicht besser sein würde. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Sie starb.

Wir nahmen die Pferdekutsche, um den Weg zum Schloss zu bewältigen. Zu Fuß wollten wir nicht. Es fiel uns zu viel Regen. Oben am Schloss hatte es aufgehört zu regnen. Dafür schneite es. Die Sicht war bescheiden, die Berge nicht zu erkennen.
Selbst vom Schlossfenster aus war nicht viel zu erkennnen. Der Blick auf das Füssener Umland war das Einzige, was ein wenig lohnte. Aber das Bergpanorama fehlte mir nun doch ein wenig.

Im Hof vom Schloss befanden sich kaum Menschen. Die Besucher hielten sich im Torbogen zum Hof auf und warteten darauf, dass deren Tournummer angezeigt werden würde. Sprang die Anzeige um, dann setzte ein Schubsen und Stoßen ein, die Menge lebte auf und die Besucher versuchten, zu den Kartenlesern im Hof zu gelangen.

Der Reiseführer unserer Gruppe erschien mir ein wenig vergeistert. Seine Präsentation lief in einem Tempo ab, dass es eigentlich nur mit dem Wort „lahm“ beschrieben werden kann. Es ist nicht so, dass er Uninteressantes erzählte. Aber so gleichmäßig, so ohne bemerkenswerte Betonung, so wie er seinen Text rüber vortrug, er wäre der ideale Märchenvorleser für Kinder, die noch nicht müde sind. Er hatte ein gewisses Leuchten in seinen Augen, als er von der Wagner-Leidenschaft des Schlossbauherrn erzählte. Seine Stimme hatte einen salbungsvollen Unterton und seine Handbewegungen waren von ausgesuchten Andeutungsphasen.

So stand ich nun immer noch am Fenster, als der Reiseführer sich neben mich an das andere Fenster schob. Naja, er hat sich nicht direkt neben mich geschoben, ich würde es eher als schweben beschreiben. Ich blickte ihm kurz ins Gesicht, um mit einem Lächeln kurz Kontakt aufzunehmen. Aber er beachtete mich nicht.

Er streckte langsam seine linke Hand zu dem geöffneten Fenster aus. Es war, als ob er seine Hand durchs Fenster strecken wollte, um zu fühlen, ob es regnen würde. Langsam bewegte sich seine Hand durch das Fenster. Aber auf dem halben Weg hielt er inne. Seine Hand schien fast schwerelos zu verharren. Ich versuchte, sein jugendhaftes Gesicht zu lesen. Aber es war mir nicht möglich. Ich sah das gleiche vergeistigte Gesicht, das er während der Führung präsentierte. Wie lobotomiert. Genau so, wie, das von Jack Nicholson als „Randall Patrick McMurphy“ nach seiner Operation in dem Film „Einer flog über das Kuckucksnest“.

So verharrte er einen Moment. In diesem Moment passierte mir die Dummheit des Tages. Der peinliche Augenblick. Der Moment, wofür ich mich hätte, nachträglich Ohrfeigen könnte. Den Moment hätte ich mir sparen sollen. Ein innerer Drang ließ meine Lippen aufeinanderpressen und mit Innendruck auseinanderfliegen, die Zunge danach an meine Schneidezähne rutschen und den Rest des Wortes formulieren.

„PentAgrion.“

Das Wort war nicht mehr zurückzuholen. Das Wort bahnte sich seinen Weg und er musste es gehört haben. Er reagierte jedoch nicht. Sein Gesicht ließ keine Regung erkennen. Seine Hand schwebte für eine unendlich kurze weitere Zeit lang, dann zog er sie ganz langsam zurück, führte seine Hand an den Hosenbund und drehte sowohl Körper als auch Gesicht mir zu.

„Gibt es nicht.“

Seine Worte kamen so gleichförmig, so tonlos, so teilnahmslos. Er sah mich zwar an, aber seine Augen waren auf einer sanften freundlichen Art ausdruckslos, was mich unwillkürlich an Krankenhauspatienten unter Medikamentenauswirkung denken ließ.

Und dann fiel mir ein, dass der Reiseführer auch unter einer anderen Droge stehen könnte. Vielleicht hatte er sich vor der Führung eine Portion Richard Wagner reingepfiffen. Eine deftige Portion „Lohengrin“ oder „Parzival“? Kurz vor der Führung noch die volle Dröhnung „Ritt der Walküren“ oder „Tannhäuser“?

Egal, was er vorher sich eingeschmissen hatte, ich würde es nicht haben wollen. Ich wartete auf weitere Worte von ihm. Aber er sah mich nicht mehr an, sondern wandte sich den Besuchern wieder zu.

„Gibt es nicht“, waren seine Worte. Er hatte keine Anzeichen von Überraschung gezeigt, keine Anzeichen von Verwunderung, kein Hinweis darauf, dass er mit meinem so überraschend ihm zugeworfenem Wort „PentAgrion“ Schwierigkeiten hätte.

Ich atmete durch. Wie konnte er antworten, dass es „PentAgrion“ nicht gebe? Wäre nicht die normale Reaktion gewesen, zu fragen, wer oder was „PentAgrion“ sei? War seine Antwort nicht der Beweis, dass er das Wort „PentAgrion“ sehr wohl einordnen konnte? In mir wuchs die Überzeugung, dass der Reiseführer sehr wohl wissen musste, wer oder was „PentAgrion“ sei.

Der Reiseführer hatte seinen Erklärungen gemacht, verließ den Raum und schritt (schwebte?) zu dem letzten Schlossraum, in die Sängerhalle. Ich versuchte ihn einzuholen. Aber die vielen Besucher erwiesen sich als schwierige Slalomstangen. In die Sängerhalle kamen die letzten Erklärungen. Dann verabschiedete er sich von allen Besuchern und stellte sich neben der Ausgangstür, wie um sich von jedem Besucher zu verabschieden. Diskret hielt er dabei seine Hand auf und ebenso diskret drückten ihm die Besucher Geldmünzen in seine Hand. Mir kam der Gedanke in den Kopf, ob ich ihn nochmals auf unsere Begegnung am Fenster ansprechen sollte. Ich unterließ es und drückte mich bei dem Verabschiedungsritual an einem Besucher vorbei.

Meine Bekannten warteten am Ausgang auf mich an dem Postkartenständer. An den Wänden hingen Fotos vom Aufbau des Schlosses. Dessen Bauherr starb im Jahre 1886 an den Ufern des Starnberger Sees. Ertrunken. Gemäß bestimmten Quellen in 40 Zentimeter Wassertiefe. Noch heute streiten sich die Experten aller Couleur, ob er sich selbst ertränkte oder ermordet wurde. Die Bayern jedenfalls lieben ihren „King Lui“, König Ludwig II., im bayrischen Volksmund auch „Kini“ genannt. Für den Bau des Schlosses hat er sein Volk bluten lassen, aber es liebt ihn trotzdem. Für Bayern ist das nichts Ungewöhnliches. Herrschafts- und Gottes-gläubig, wie die sind, sehen sie die Regierenden immer als Gottesurteil und als Schwert Gottes. Schon seit der „Sendlinger Blutweihnacht“ 1705/1706, als der bayrische Kurfürst es sich in Brüssel gut gehen ließ und sein Bauernvolk vor den Toren Münchens abgeschlachtet wurde, das hat das Bayernvolk nicht wirklich von den Obrigkeiten entfremdet.

Aber warum sollte der „Kini“ sterben müssen? Drei Tage, nachdem er bereits entmündigt worden war? Wollte er was ausplaudern?
Eine Frau stand neben mir und sah mich in einem Buch über den angeblichen Selbstmord blättern.

„Er wurde umgebracht! Der Märchenkönig hätte sich niemals selber umgebracht!“
„Aber er war doch bereits entmündigt worden.“
„Das war eine Verschwörung. Da waren verkappte Revolutionäre am Werk. Die wussten das nicht und haben ihn deswegen umgebracht.“
„Wer?“
„Revolutionäre. Vielleicht die Preußen.“
„Die Preußen?“
„Schatz, unser Bus fährt gleich,“ sprach ein untersetzter Mann, packte die Frau am Arm und zog sie weg.
„Ja, wegen des Wissens, gutes Bier zu brauen“, konnte sie noch sagen.

Aber es klang nicht sehr überzeugend. Wegen des Bierbrauerwissens? Ich vermute, sie wollte was anderes sagen, aber der Mann hatte uns überrascht und unterbrochen. Meine Bekannten rissen mich aus meinen Gedanken und teilten mir mit, dass sie jetzt unbedingt zur Zugspitze wollten.

„Vielleicht finden wir ja nen Ötzi auf den Weg dorthin“, war die lakonische Bemerkung von mir.
Eisleichen? Früher durfte es diese wohl öfters an der Zugspitze gegeben haben. Aber heute?

Wir programmierten das GPS-Gerät auf „Zugspitze“ und ließen uns durch Satelliten leiten. Es ging durch Österreich. Der Regen wurde erneut zu Schnee und die Straßenbedingungen verschlechterten sich erheblich.Irgendwann tauchten die ersten Menschen mit Schneefräsen auf. Die Äste der Tannen bogen sich unter der Last des Schnees. Der Winter hatte am österreichischen Plansee Rast gemacht.
Als wir letztendlich am deutschen Elbsee ankamen, war es fünf Uhr nachmittags. Die Zugspitz-Seilbahn hatte schon geschlossen. Wir waren zu spät angekommen. Die Reise von 1000 Metern auf knapp 3000 Meter hätte 30 Euro gekostet. Erschwinglich, aber wir kamen zu spät.

Wir steuerten ein Restaurant an und setzen uns in eine Ecke der Stube. Es war ein seltsames Restaurant. Überall standen Bücher herum, die meisten sahen schon abgegriffen aus. An einem Tisch blieb ich stehen und nahm mir ein Buch. Ein Buch über Zahlenmystik und Numerologie. Ich fing an zu blättern und quer zu lesen.

Jedem Buchstaben ist eine Zahl zugeordnet. Das „A“ hat den Wert „1“, das „B“ die „2“, „C“ die „3“ und so weiter. Durch Addition dieser Zahlen und durch Bildung der Quersummen ergibt sich eine Zahl, welche die Pflichten für das eigene Leben ausdrückt. In einer Laune berechnete ich die Namenszahl für das Wort „PentAgrion“. Die Zahl, die sich ergibt, ist die „2“. Die Zwei steht für die Dualität, die Zweiheit. Ich war fasziniert, denn das Wort „PentAgrion“ trägt diese Dualität in sich. Der Bestandteil „Penta“ und „Agrion“. „Penta“ ist ein griechisches Zahlenwort und bedeutet „5“. Die Pythagoreer sahen die 5 als Zeichen der Ehe und geistigen Vervollkommnung. „Agrion“ ist eine Wasserjungfer-Libelle. Die Libelle ist der nordgermanischen Göttin Freya zugeordnet, welche wiederum die Göttin der Ehe ist. Trägt also der Name „PentAgrion“ eine Bedeutung, welche auf das Prinzip der so oft beschworenen Keimzelle der Gesellschaft? Die eheliche Gemeinschaft?

Mittels dieser Zahlenmystik rechnete ich noch die anderen Daten durch, welche Trithemius bei sich veröffentlicht hat:
PentAgrion soll vom 7. November 1999 bis zum 28. Juni 2009 sich auf der Erde aufgehalten haben. Diese beiden Daten nahm ich als Geburts- und Sterbedatum. Als Geburtszahl erhielt ich die „1“ und als Sterbezahl die „9“. Die Geburtszahl ist der Anfang, die Sterbezahl das Ziel, an dem das Leben seinen Zweck erfüllt hat.

Bei den beiden hier vorliegenden Daten, steht die „1“ steht das Unteilbare, das Göttliche. Die „9“ als Zahl drückt die höchste Vollendung aus. Die Zahl der Erleuchteten. Denn die 9 ist die Quadratzahl der „3“ und die „3“ gilt als heilige Zahl schlechthin. Nicht umsonst heißt es, aller guten Dinge seien derer drei. Die „3“ löst das Spannungsverhältnis der Zahlen „1“ und „2“ auf. Sie ist die Summe der beiden.

Im Endeffekt bestand nach dem Buch der Zahlenmystik, alles, was ich bisher von PentAgrion an Daten gelesen hatte, aus einer Kombination von den Zahlen „1“, „2“ und „3“. Eine fast schon zu einfache Deduktion einer Person, der bislang jeder nur über Dritte im Internet begegnete.
Zufall?

Als meine Bekannten gehen wollten, hatten sie mich kurz suchen müssen. Sie meinten nachher, ich sei total entrückt an dem Regal mit dem Buch in der Hand gestanden haben. „Irgendwie weggetreten“ soll ich ausgesehen haben. Meine Cola stand noch unberührt auf jenem Tisch, wo meine Bekannten zuvor gesessen und auf mich gewartet hatten. Sie wollten zurückfahren. Ich legte das Buch zurück, ging zum Tisch, leerte mein Glas in einem Zug, legte mein Geld hin und folgte ihnen zum Wagen.

Auf der Fahrt war ich wohl sehr unkommunikativ. Sie versuchten mich mit Witzen abzulenken, aber ich war von den Gedanken an das Gelesene vertieft. Eisleichen am Fuße der Zugspitze hatte ich nicht gesehen, aber das Gelesene im Restaurant ließ mich erstarren.
War das jetzt alles nur ein Zufall?

Der Mensch versucht, selbst im größten Chaos eine Ordnung hineinzuprojizieren. Ohne diese Ordnung des Chaos wäre der Mensch nicht überlebenswert. Er würde im Chaos untergehen und darin sterben. Darum sind viele Menschen auch für Verschwörungstheorien anfällig. Sie mögen denen von außen seltsam und unwirklich, ja, gar paranoid erscheinen, aber wenn der eigene Verstand plötzlich Linien in ein unübersichtliches Meer von Informationen zieht, wie soll er da noch sich orientieren und diesen Theorien nicht verfallen?

Der Mensch versucht, die Entropie des Chaos in einem höheren Energie-Niveau zu bringen. Sein Verstand beginnt, dem Körper die Energien zu entziehen, die er vielleicht für wichtigere Dinge benötigt. Nur, wo Energie fehlt, da stellt sich Kälte ein. Wenn alle verwertbare Energie verwertet ist, dann ist die Entropie null. Die Eisleichen der Berggipfel sind der Beweis dafür, dass Energie-Niveaus nichts mit der Höhe der Gipfel zu tun haben muss. Die Erfrorenen sind ganz Berg geworden. Nicht zu nutzende Energieformen. „Null-Entropie“ würde der Thermodynamiker lapidar sagen.

Wikipedia bezeichnet die Entropie auch noch als ein Maß für den mittleren Informationsgehalt pro Zeichen einer Quelle, die ein System oder eine Informationsfolge darstellt. In der Informationstheorie spricht man bei Information ebenso von einem Maß für beseitigte Unsicherheit. Je mehr Zeichen im Allgemeinen von einer Quelle empfangen werden, desto mehr Information erhält man und gleichzeitig sinkt die Unsicherheit über das, was hätte gesendet werden können.

Beim Schreiben dieses Artikels fühle ich, wie ich diese zuvor erwähnte Entropie vergrößert habe. Es gibt ein nicht genau Definierbares, was sich mit Namen „PentAgrion“ immer mehr Raum greift, was immer mehr die Gedanken von mir beschäftigt.

Das, was die Zukunft bringen mag, werde ich betrachten und überlegen, ob es wert sei, darüber zu berichten.

(Fortsetzung hier)

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