Die Festung Oktoberfest 2009

Nach der Haager Landkriegsordnung dürfen gegnerische Truppen eine zur „Festung“ deklarierte Stadt angreifen. Eine Stadt wird als „Festung“ bezeichnet, wenn in ihr entsprechend militärische Mittel zur Verteidigung vorhanden sind. Ob tatsächliche militärische Mittel vorhanden sind, ist unerheblich, wenn der Verteidiger eine Stadt zur Festung erklärt hat. Der Gegner ist nicht dazu verpflichtet, dieses vor einem Angriff zu überprüfen. Es gilt das Wort des Verteidigers.
Kampfhandlungen gegenüber einer Festung werden entweder durch Einnahme oder durch Kapitulation beendet.

Im Gegensatz dazu steht im Kriege eine „offene Stadt“. Eine solche Stadt gibt dadurch zu erkennen, dass sie wehrlos ist und dem Gegner offen steht. Entsprechend der Haager Landkriegsordnung darf so eine Stadt in keiner Weise angegriffen werden.

Aus strategischen Gründen können im Krieg bestimmte Städte zu „Festungen“ erklärt werden, um den Gegner aufzuhalten. Ein weiterer Hintergedanke, eigene Städte zu „Festungen“ zu erklären kann auch sein, jene Städte zu „bestrafen“, zum Beispiel weil die Stadtoberen nicht den Wünschen des Kriegsherren entsprechen.

Sonntag.
Bundestagswahl.
Montag.
Die Wahl ist gelaufen. Das Wahlergebnis entspricht nicht dem Wunsch eines Terroristen einer Terrorgruppe.
Dienstag.
Die vier Münchener Tageszeitungen AZ, TZ, SZ und BILD schreiben über die neu errichtete Festung „Oktoberfest“.

Bereits zuvor war klar, dass nach der Wahl die Sicherheitsbedingungen verschärft werden würden. Auch die auf dem Münchener Oktoberfest. Insbesondere nachdem ein Werbeflugzeug die Wiesn am Samstag überflogen hatte und einige schon an eine terroristische Attacke dachten.

Bei mir auf der Arbeit hat sich am Montag gegen 11:00 Uhr folgende Szene entwickelt:

A: Ein Kollege hat mich angerufen. Etwas stimmt mit dem Oktoberfest nicht.
B: Was soll denn sein?
A: Der meinte, es könnte eine Bombe explodiert sein.
B: Eine Bombe?
A: Oder eine Bombendrohung.
C: Die Terroristen?
A: Es soll alles voller Polizei sein.
C: Auf dem Oktoberfest?
A: Die sollen alles abgeriegelt haben.
B: Das ganze Gelände.
A: Sogar die direkte U-Bahn zur Wiesn soll gesperrt sein, die Züge sollen einfach durchfahren.
C: Oje, das heißt nichts gutes.

A kam zu mir.

A: Kannst du mal im Internet nachschauen, ob da irgendwas passiert ist?

Wir riefen die Seiten der Süddeutschen auf, die der FAZ, N-TV, N24, News-Google. Nichts. Rein gar nichts. AZ, TZ, TAZ. Nichts. Nullinger. Nada. Niente. Und bei BILD surf ich prinzipiell nicht vorbei.

A: Im Internet steht nichts.
B: Ja, wenn was passiert ist, dann werden die es nicht gleich verbreiten.
A: Meinst du?
B: Als 1980 der Nazi die Bombe gezündet hatte, kam auch erst nichts im Radio.
A: Die dürfen auch erst nichts verbreiten. Um Panik zu vermeiden.
C: Oh Gott, hoffentlich hat es jetzt nicht viele Tote gegeben.

Meine Suche nach einer WebCam vom Oktoberfest zeigte feiernde Leute in einem Bierzelt. Eine WebCam der Umgebung der Wiesn zeigte leere Straßen aber ein recht gut besuchtes Oktoberfest.

Ich: Die feiern dort alle ungehemmt.
B: Ja, wenn die nichts wissen.
A: Ich könnte ja mal den Rudi anrufen. Der hat mir gestern gesagt, der wolle heute früh auf die Wiesn.
B: Ja, ruf mal an. Ich bin jetzt auch beunruhigt.
C: Man ist nirgendwo mehr sicher.

A holt sein Handy raus und wählt. Warten.

A: Der nimmt nicht ab. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.
C: Wenn der verletzt ist, dann kann der …
B: Oftmals hat es auf der Wiesn auch kein Netz.
A: Normal nimmt der immer sofort ab. Das ist schon seltsam.

Erneutes Wählen.

A: Der nimmt nicht ab.
C: Hoffentlich …
A: Rudi? Rudi? Bist du es?

Gespannte Stille.

A: Du Rudi, da hat wer hier gemeint, auf der Wiesn sei ne Bombe hoch gegangen. Stimmt das? Ja? Was? Ihr seid gemütlich am feiern? Aber ist da überall Polizei? Nicht? Nichts? Rudi, ich bin ja so froh, dass nichts passiert ist. Aber bist nicht ans Handy gegangen. Da dachten wir … Was? Die Musik war vorhin so laut? Jetzt ist Spielpause?
C: Gott, sei Dank.
B: Für einen Moment …
A: Rudi, noch viel Spass, ja. Servus, bis später!

In allen vier Münchener Zeitungen stand als Aufmacher, dass das Oktoberfest in eine „Festung“ verwandelt worden sei. Ein scharf überwachter Sperrgürtel ist um das Oktoberfest gebildet worden. Darin herrscht Parkverbot und Durchfahrverbot für Nicht-Anwohner. An den Polizeisperren solle es zu riesigen Menschenansammlungen kommen – so die Zeitungen – und man müsse damit rechnen, dass man länger brauche auf die Wiesn zu kommen. Zusätzlich würde man an den Eingängen der Bierzelte auf Wafffen abgetastet werden.

Gegen 18:00 kam mir die Idee, diese Menschensammlungen zu fotografieren. Ich wollte mich an den Zelteingängen abtasten lassen.
Aber nichts von alldem, rein gar nichts ist passiert bei meinem ersten Wiesnbesuch in diesem Jahr.

Die Polizisten behielten unaufgeregt und freundlich die Übersicht, patrouillierten wie Jahre zuvor über die Wiesn, schauten sich die Karussells an, fachsimpelten über Lebkuchenherzen oder dienten als Fotostaffage für Touristen.

Auch an den Zelteingängen war nichts ungewöhnliches. Die üblichen Sicherheitskontrollen des Sicherheitspersonals. Nicht nur beim reingehen wurden Rucksäcke überprüft. Auch beim verlassen. Und ein den Rücksäcken versteckte Bierkrüge einbehalten. Einige Münchener Diskotheken haben eine schärfere Tür als an den Wiesnzelten heute.

Ich war schnell auf der Wiesn und auch schnell wieder runter. Skandalträchtige Fotos waren nicht möglich. Schade. Und auch gut so. Die Presse kocht nun mal heißer als üblicherweise gegessen wird.

Zumindest die Zeitungen konnten auf ihren Titelseiten den alten Kriegsbegriff der „Festung“ wieder reaktiviert.
Für die Zeitungen befinden wir uns also im Kriegszustand. Das Oktoberfest wurde von Polizei und Medien unisono zur „Festung“ erklärt. Eine Heimatfront sozusagen.

Die Wirte der Bierzelte hoffen weiterhin, dass es eine friedliche Wiesn bleibt. Im alten Rom hätten das Wort „pazifisiert“ Verwendung gefunden.

4 Gedanken zu „Die Festung Oktoberfest 2009

  1. Google und die Suche nach „Bombe Oktoberfest 2009“Es ist auf meinem Blog in dieser Woche was seltsames geschehen.

    Normalerweise habe ich so täglich immer zwei bis drei Dutzend Besucher. Doch seit vergangenem Dienstag ist meine Besucherzahl mir regelrecht explodiert. Mit einem Male habe ich dreiste…

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  2. In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt. Und im Krieg wird eher Clausewitz, Machiavelli oder Sun Tsu gelesen. Alle anderen lesen auch noch, was Anfang letzten Jahrhunderts beschlossen wurde, um zu wissen, welche Tabus zum Ãœberschreiten einladen. Im humanitären Völkerrecht existiert nicht nur das Genfer Recht, sondern auch das Haager Recht. Direkt nach dem „Hard Power“-Recht, welches Großmächte für sich in Anspruch nehmen. Aber manche Arschlöchern von Diktatoren und Machtwütigen interessiert weder das eine noch das andere.
    Und nach eine Maß Wiesnbier mich im übrigen auch nicht. Außer die völkerrechtliche Frage: Warum ist da so ein waagerechter Strich bei mir am Glas direkt über dem bißchen Schaumkrone?

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  3. „Haager Landkriegsordnung“, d.h. bevor ich einen Krieg anfange, muss ich diese Landkriegsordnung erst lesen, damit ich nix falsch mache? Und muss man sich erst zertifizieren lassen, bevor man einen Krieg beginnen darf?

    Das mit der Polizeifestung auf der Wien habe ich auch gehört…

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