– Du warst schon lange nicht mehr hier.
Er schaute mich lange von der Seite an, während ich ein paar Lockerungsübungen durchführte, bevor ich mir mein Kölsch ergriff.
– Stimmt.
– Geburtstag? Hochzeit? Namensänderung? Und das alles nacheinander?
– Stimmt.
– Nu red keinen Driss. Wo warste?
– Nirgendwo. Ich hab nur versucht die Fastenzeit durchzuhalten.
– Mal wieder den Gürtel enger schnallen bis Ostern?
– Genau.
– Das ist doch Quatsch. Wozu Fastenzeit? Wir haben doch schon die Krise.
– Genau. Hat meine Friseurin auch gesagt. Die Krise als Katharsis der eigenen Gier, meinte sie.
– Der was bitte?
– Katharsis. Kennste das nicht? Das eigene Erleben von Furcht, Jammerei und Schaudervollem führt zur Läuterung der eigenen Seele gegenüber schlechter Leidenschaften. Hier ist die schlechte Leidenschaft die Gier.
– Komisch, ich dachte wir stecken in einer Absatzkrise und in keiner Gierkrise.
– Naja, das Fehlen von Absatz könnte man auch als das Fehlen von Gier verstehen. Ohne Gier, keinen Absatz.
– Also könnte man das jetzt fehlende Gier von einem anderen Blickwinkel aus auch als real existierende Fastenzeit bezeichnen.
– Das wäre jetzt aber beschönigend ausgedrückt. Eine christliche, zeitlich begrenzte Lebenseinstellung als Erklärung dafür, dass niemand mehr unsere Produkte kaufen will.
– Geiz ist eben geil.
– Und wir hassen teuer.
– Aber immerhin 20% auf alles.
– Außer Tiernahrung.
– Genau. Denn unterm Strich zähl ich!
– Falsch. Bei der Bruchrechnung steht der Zähler überm Strich und unterm steht nur der Nenner. Und erst bei der Bruchrechnung kann man wunderbar abziehen, wenn alles unterm Strich auf einen Nenner gebracht wurde.
– Die Gleichschaltung der Bedürfnisse in der Krise?
– Freilich. Fragen Sie die Kurzarbeiter. Die können doch schon einen Satz alle im Schlaf aufsagen: Besser ein Kurzarbeiter-Los als arbeitslos.
– Hauptsache einigermaßen beim Krisenmonopoly ungeschoren an Parkstraße und Schloßallee vorbei über Los kommen, dann könnte es wieder Bonuszahlungen geben.
– Dabei ist weniger manchmal mehr. Die neue Maxime des Wertewandels. Die Wiedergewinnung der Unmittelbarkeit.
– Wow. Schön gesagt. Geht es auch genauer?
– Tja, die Infragestellung zivilisatorischer Artifizialismen bringt die Menschen den elementaren Fragen urplötzlich näher.
– Artifiziali … was bitte?
– Artifizialismus.
– Was bitteschön ist das denn schon wieder?
Ich schnaufte kurz durch.
Mein Kölschglas hatte schon erheblich zu viel Luft drinne. Ich winkte dem Wirt. Der kam auch gleich, stellte mir eine Stange hin ging zu meinem Nachbarn lehnte sich verschwörerisch rüber und meinte maliziös lächelnd
– Hör mal, Jupp, glaub dem nichts. Das Obergärige gärt bei dem gerade richtig obergärig. Und das ganz knapp unter der Haarwurzel.
und ging wieder zurück zu seiner eigenen Stange Kölsch.
– Artifizialismus ist der Glaube der Kinder vom zweiten bis siebten Lebensjahr, die Welt um sie herum sei ausschließlich von Menschen oder auch Gott gemacht.
– Und dieses Weltbild-Patchwork wird jetzt also durch die Krise in Frage gestellt? Wolltest du das vorhin sagen?
– So in etwa. Von der Selbst-Kontrolle der 50er und 60er über die Selbst-Verwirklichung der 70er und 80er war die Gesellschaft beim Selbst-Management der 90er und des neuen Jahrtausends angekommen.
– Und jetzt macht die Krise diese selbstkonstruierte Wirklichkeit kaputt.
– Im Fernsehen ließ sich das gut verfolgen: 50er und 60er Jahre da war es die Serie „Stahlnetz“. Die 70er und 80er prägte „Schimanski“. Mit dem rebellisch-anarchischen „Schimmi“ und seine Gegenfigur, dem amtlich korrekten „Thanner“. Und damm kam das „Starke Team“ oder auch die Tatorte mit zwei Ermittlern mit deren eigenen Regelkonstruktionen.
– Aha. „Der goldene Schuß“ als Selbst-Kontrolle, „Wetten dass“ als Selbst-Verwirklichung und „Werden Sie Millionär“ als Selbst-Management.
– Ja. „Werden Sie Millionär“ sehen einige auch als Beispiel, dass positive Verstärkung der individuellen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Wünschen in dieser Gesellschaft hoch im Kurs steht.
– Heute wissen wir, „Werden Sie Millionär“ und die hohen Lotto-Jackpots waren nur eine tiefenpsychologische Vorbereitung darauf, dass in jedem von uns auch ein Zocker steckt.
– Das Selbst-Management funktioniert nun nicht mehr. Es geht ans Eingemachte. „Back to basic“ galt zuvor als modern. Jetzt wirft es mehr Fragen auf, als es einem lieb ist.
– Und ich wette mit dir, die Antworten dazu werden mehr und mehr auch im Jenseits der christlich-abendländischen Tradition gesucht.
– Es sei die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg, wird ja immer wieder gesagt.
– Das ist ja beruhigend. Dann brauchen wir ja nicht aktiv werden und zur Antwortsuche Sturmtruppen ins Jenseits schicken. So wie im zweiten Weltkrieg.
– Genau. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan sollte erstmal völlig ausreichen, um die ersten Vortrupps zur Erkundigung der Antworten auszusenden. Den Rest findet dann die BILD-Zeitung per Interview raus …
Zeit für eine Redepause. Auf einen Schluck.
Neben mir hatte sich so ein junger vierschrötig Kerl mit Weißbier aufgebaut gehabt. Er gaffte mich an, als ob ich der erste Mensch wäre. Als er meinen Blick bemerkte, drehte er sich ab und seinen Kollegen wieder zu. „Die Preußen philosophieren heute wieder nen Mist zusammen“ verstand ich nur und hörte deren bayrisches Lachen.
– BILD-Zeitung? Da war ja jene DSDS’lerin nackt drin abgebildet.
– DSDS schau ich mir nicht an.
– Nicht? Hast du dir etwa den Biathlon im Ersten angeschaut?
– Nicht mal das. Ich verlass mich auf die Praktiken der Industrie.
– Welche?
– Sie fordern ihr Mitarbeiter auf zu verzichten, damit ihnen wieder besser geht. Ich verzichte aufs Anschauen solcher Sachen.
– Na, dann brauchste dir keine Gedanken machen, um HDTV und Co machen …