Mit weit offenem Mund …

… liege ich Patientenstuhl. Der Zahnarzt schüttelt den Kopf.

– Da ist nicht mehr viel zu machen. Sie benötigen da ein Inlay im Backenzahn.

Er war mir offenbar zerbröselt. Ein MENTOS hat mir den Backenzahn bröseln lassen. Zuviel hatten die vorherigen Zahnärzte schon weggebohrt und mit Amalgan nachgefüllt. Und jetzt ist der Zahn an einer Seite weggebrochen.

– Sie können da zwar noch eine Füllung machen, aber wenn die bricht, dann muss ich den Zahn ziehen. Der Zahn ist durch die vielen Füllungen zuvor instabil geworden

Hm. Ich liebe Zahnärzte.
Mein erster Zahnarzt hatte seine Praxis nicht im Heimatort. Er war fast 15 Kilometer weit weg. Und er sollte humaner sein als der Dorfzahnarzt. Der hatte bei meinen Eltern nämlich recht unsensibel gebohrt, obwohl die Dorfgrößen auf den schworen.
Und unser Zahnarzt, der war tendenziell besser. Trotzdem empfand ich ihn als einen recht unsensiblen Bohrer. Dessen Vater war damals in Rente gegangen und der Sohn übernahm die Praxis und hatte die neusten medizinischen Tricks auf Lager. Aber er war trotzdem Auslöser meiner Zahnarztangst.

Später lernte ich einen sensibleren Zahnarzt kennen und wechselte. Meine Mutter wechselte aber nicht. Sie war da mehr traditioneller. Sie hoffte, dass ihre Treue sich bei ihm auszahlen würde. Er zog ihr trotzdem alle Zähne und verpasste ihr ein Gebiss. Und spritzte ihre Oberlippe taub. Taub für immer.
Da ist es auch kein Trost mehr, dass jener Zahnarzt inzwischen gestorben ist, meine Mutter aber noch immer putzmunter ist.

Als ich das meinem dritten Zahnarzt im Patientenstuhl erzählte, fauchte er mich an, dass ich mir so ein Urteil gar nicht erlauben dürfe. Ich sei schließlich kein Experte. Ich bleib ihm eine Antwort schuldig. Ich lag bei ihm im Stuhl und er hatte schon angefangen. Die Machtverhältnisse waren extrem ungünstig für ein Streitgespräch. Ich hielt die Klappe und machte den Mund weiter auf.
Mein zweiter und mein vierter Zahnarzt teilten meine Verärgerung über meinen Zahnarzt Nummer 1.

Ich hasse das Surren von Bohrmaschinen beim Zahnarzt.

– Das Inlay kostet so 400 Euro und ist bombenfest. Für die Füllung fallen so an die 100 Euro an.
– Und die Krankenkasse?
– Die zahlt nichts dazu. Das müssen Sie selber tragen. Oder haben Sie eine Zusatzversicherung?

Nein, die hab ich natürlich nicht.
Mir dämmerte was. Wegen der vielen Arbeit im letzten Jahr war das Angebot meiner Krankenkasse vollkommen an mir vorbeigerauscht.
Dumm gelaufen.

– Nein, ich habe keine Zusatzversicherung.
– Überlegen Sie es sich noch mal, was Sie haben wollen. Das Inlay oder die Füllung. Ich würde Ihnen aber zum Inlay raten. Auch wenn es 400 Euro kostet. Aber überlegen Sie nicht zu lange, denn sonst geht nachher der ganze Zahn kaputt und dann müsste ich ziehen.

Ziehen zahlt die Krankenkasse. Wahrscheinlich mit Kußhand. Denn Zahnlose sind nun mal nicht so bissig. Und fördern den Absatz von Schnabeltassen. Ich muss mal nachforschen, welche Firmen Schnabeltassen herstellen und ob Krankenkassen daran Anteile halten.

„Kaputtreformiert wie meinen Backenzahn durch Zahnärzte“, denke ich mir.

Gesundheitsreform und nicht Krankheitsreform heißt es.
Die Industrie verdient über die Angst vor Krankheiten und verkauft entsprechend. Gesundheit wird als der Zustand als die Abwesenheit von Krankheit definiert. Und nie umgekehrt. Wer sich Krankheit leistet, soll auch dafür zahlen. Wenn dann was außer der Eigenleistung noch übrig bleibt, das wird später bei der nächsten Gesundheitsreform noch weg reformiert. Keine Chance den Krankenkassen-Schmarozzern. Die nagen denen gleich Nagetieren (wie Ratten) die Gewinne weg. Gesundheit muss sich wirtschaftlich lohnen. Krankheit tut es nicht. Nie.

Auf den Weg nach Hause denke ich nochmals über meine Leidenschaft für MENTOS nach und den Augenblick, als ich das MENTOS herzhaft zerbeißen wollte. Ist schon recht, dass ich dafür jetzt zahlen muss. Es wird das letzte für mich gewesen sein.

Für meine künstlichen Schneidezähne zahle ich ja immer vierstellige Summen, nur weil ich als Kind einmal auf Glatteis ausgerutscht bin. Selbst schuld. Was musste ich auch damals Fangen spielen.
Der Zahnarzt im Nachbarort hatte mir unter lokaler Betäubung die Wurzel des Schneidezahns abgetötet. Der andere war schon tot. Mit einem Bunsenbrenner hatte der noch vor meiner Nase rumgefuchtelt. Spaßig fand ich das nicht. Geschmerzt hatte es auch. Trotz der lokalen Betäubung. Und für die Öschis, die er mir damals eingesetzt hatte, wurde ich nachher wegen meinem Aussehen der Frontzähne in der Schule „Häschen“ gerufen. Der Zahnarzt meinte dazu nur, die müssten so sein. Das trägt man so.

Mit Achtzehn erhielt ich meine neuen zweiten Dritten. Passend zum Tanzkurs. Das hatte mir aber auch keine Vorteile bei der Damenwelt verschafft.
Zwanzig Jahre später erhielt ich neue. Meine jetzigen aktuellen.

Und jetzt verabschiedet sich ein Backenzahn.
Ich werd‘ alt.

Da gibt es von Bob Dylan das Lied „Forever joung“.
Vorhin hörte ich die Cover-Version davon von der Gruppe BAP.
Für immer jung.
Schöner Soundtrack zu meiner Situation.
Für immer jung.
Ich wünscht, meine Zähne könnten es bleiben.
Schließlich würd ich doch gerne später mal herzhaft damit ins Gras beißen können.
Andererseits Zahnlose haben größere Zungenfreiheit. …

Op dat ding Häng immer ze dunn hann, dat du dich wehrs, wenn dir jet stink,
dat du dir joot merks, wo du herküss un wo ding wohre Fründe sinn.
Op dat dieh Häzz immer enn Dur schläät, singe Takt hällt, singe Schwung,
dann blievs du für immer jung.

Für immer jung, für immer jung,
dann blievs du für immer jung…

Übersetzung:

Auf dass deine Hände immer zu tun haben, dass du dich wehrst, wenn dir etwas stinkt,
dass du dir gut merkst, wo du herkommst und wo deine wahren Freunde sind.
Auf dass dein Herz immer in Dur schlägt, seinen Takt hält, seinen Schwung,
dann bleibst du für immer jung.

Für immer jung, für immer jung,
dann bleibst du für immer jung.

10 Gedanken zu „Mit weit offenem Mund …

  1. Klar, Gesundheit ist mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes ein kostbares Gut. Passt aber auch gut zur Gesamtschlucht, die sich immer mehr herausbildet. Mind the Gap.

    Ich bereue es auch nicht, in die Kasse einzuzahlen, ich will gar keine amerikanischen Verhältnisse. Und ich befürworte auch Solidarprinzipien. Nur die Gewichtung verstehe ich halt auch nicht. Prävention Selbstzahler, Behandlung wird übernommen. So schafft man doch kein Bewusstsein…

    An das realpolitische Ziel mag ich dann doch auch nicht glauben. Ich bin ja doch naiv…

    Und immer schön zuckerfreien Brei in die Schnabeltasse füllen, sonst schleichen sich Karius und Baktus doch an!

    Ach, das ist ein Thema, darüber lässt es sich trefflich ärgern…

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  2. Vor drei Jahre lag ich plötzlich vier Tage auf der Intensivstation. Kostenpunkt war ca. 2000 Euro pro Tag. Seitdem bereue ich es nicht mehr für die Krankenkasse zu zahlen. Aber bei den Zähnen verstehe ich deren Einsparungsziele nicht wirklich. Oder sollen wir lieber gleich unsere Breie aus der Schnabeltasche lutschen. Sozusagen als Zahnprevention? … Na ja … und wenn ich dann hier im Kommentarbreich lese, dass Zahnbrackets für Kinder über 3500 Euro kosten sollen … ich bin zu doof dafür, diese Politik wirklich zu verstehen … entweder wollen sich die einen eine goldene Nase verdienen, die die Versicherungen nicht mehr zahlen wollen oder es ist ein abgekartertes Ziel, aber auf alle Fälle wird der Versicherte immer mehr abgeschöpft. Gesundheit wird somit wirklich zu einem wertvollen Gut, denn alles andere geht gehörig ins Geld. Gut, sollte das renten- und gesundheitskassenneutrale Ableben realpolitisches Ziel sein, dann Gute Nacht …

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  3. Sehr verärgerlich, in der Tat, völlig Deiner Meinung.
    Und betrifft so viele Gebiete in der Krankenversicherung.
    Warum ich für Vorsorge so viel abdrücken soll z.B.
    Macht dann doch auch keiner, der die Kohle nicht hat.
    Hinkt doch irgendwie.
    Nun ja.

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  4. Was?!? Ich dachte, du meintest sowas für Erwachsene … für Kinder-Brackets ist das – absolut und relativ gesehen – ein echter Hammer …

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  5. Ach mein Bester, auch ich könnte mir gerade noch so die 400 € leisten, aber die Brackets für meine Lütte habe mich tatsächlich dermaßen aus den latschen gehauen, dass da bis 2011 definitiv kein Brasilien-Aufenthalt mehr drin ist.

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  6. Für den einen sind 400 Euro nichts, für andere schon ein Batzen Geld und für andere unbezahlbar. „Brackets“ wären für mich unbezahlbar, während für dich 400 Euro nichts dagegen sind. Jedem, was er verdient. Nur gibt es mir zu viele, die jene 400 Euro nun mal nicht so aus dem effeff zahlen können, geschweige denn bei 3832,95 Euro keinen Komaanfall (wie beispielsweise ich) erleiden würden …

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  7. Sicher werd ich das machen.
    Nur was mich verärgert, ist dass solche Ausgaben andere finanziell gleich vollkommen überfordern, da sie sich sowas nie leisten können. Und trotzdem regelmäßig Geld für die Krankenkasse abführen …

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  8. Hör mir auf mit Kostenerstattung… Heilplan… Zusatzversicherung! Ich soll für die Brackets 3832,95 € blechen!!!

    Also was sind da schon 400 €?

    Liebe Grüße
    belinda.

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  9. Halbfachlich:
    ich hab auch schon viel Geld in Inlays & Co. gesteckt, mehrere Urlaube stecken in meinem Mund,
    aber die Kasse hat immer was dazu gezahlt!
    Auch ohne Zusatzversicherung.

    Lass Dir erst mal einen Heil- und Kostenplan ausdrucken und reich den bei der Kasse ein!!

    Und damit: „Schließlich würd ich doch gerne später mal herzhaft damit ins Gras beißen können.“ hast Du mich herzlich zum Lachen gebracht, danke!

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