Kandidat für das Unwort des Jahres einfach zum Fremdschämen

Ich nehme mir ein Makaken-Neugeborenes in beide Hände, halte es vor meinem Gesicht und strecke ihm die Zunge raus. Das Makaken-Baby streckt mir die Zunge raus.
Und jetzt schäme ich mich fremd für das Makaken-Baby.
Wie kann es nur solch eine ungezogene Unartigkeit für Mitteleuropa nachmachen?
Und weil ich mich jetzt für das Makaken-Baby fremd schäme, schämt es sich für mich fremd. Es spiegelt einfach mein Verhalten.

Was will uns diese sinnlose Übung sagen?
Sowohl Makaken-Baby als auch der Mensch scheinen über Spiegelneuronen zu verfügen.
Spiegelneurone?

Spiegelneurone (auch: Spiegelneuronen) sind Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet, sondern (aktiv) gestaltet würde.

Quelle: Wikipedia
Diese Spiegelneuronen könnten eine Erklärung dafür sein, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, mit zu leiden. Genau das zu empfinden, was und wie der andere empfindet. Freude, Leid, Neid, Triumpf, Ekel. All diese Emotionen, die einem den Tag so bedeutsam machen können.
Aber der Mensch kann sogar noch mehr. Er kann sich sozusagen anstatt eines anderen schämen.

„Ich würd‘ mich an deiner Stelle schämen!“ ist so ein bekannter Satz. Nur kommt dieser Satz mit soviel erhobenen moralischem Zeigefinger daher, dass man sich dafür schon wieder schämen muss. Und das in Zeiten, wo es doch darauf ankommt, moralisch einwandfrei zu sein.

Daher hatten sich schlaue Köpfe in Deutschland zusammengesetzt, um einen Ersatz für den langen unhandlichen Satz „Ich würd‘ mich an deiner Stelle schämen“ zu finden. Diese Wortfindungskomission mit dem Gesamt -IQ von knapp 100 grübelte hinter verschlossenen Türen. Erst stieg dumpfer grauer Rauch auf und jeder meinte nur: „Das wird noch!“
Fünf Tage grübelten, überlegten und dachten sie.
Und am sechsten Tag stieg kurz vor Mitternacht urplötzlich weißer Rauch auf. Die Leute draußen jubelten und waren gespannt wie Flitzebögen. Aber am siebten Tag ruhte die Wortfindungskomission bekanntermaßen angesichts ihrer veritablen Schöpfungsphase. Somit gingen viele enttäuscht nach Hause und verpassten den Montag, als die Komission verkündete:
„Die Tätigkeit, sich ersatzweise öffentlich für andere zu schämen und die normalerweise mit dem Satz ‚Ich würde mich an deiner Stelle schämen‘ beschrieben wurde, heiße ab heute:

Fremdschämen.“

Nun ja.
So oder so ähnlich wurde dieses neue Unwort erfunden. Und ich muss sagen, es ist ein wirklich guter Kandidat für die Komission, die immer das Unwort des Jahres sucht.
Wenn nämlich ein Wort das ausdrückt, was man einerseits für andere moralischerweise machen würde, andererseits aber das ausdrückt, für was man sich generell schämen sollte, dann ist es das Unwort „Fremdschämen“.
Und das alles wegen ein paar lächerliche Spiegelneuronen bei uns im Hirn.
Nun ja.
Dann lasst es uns mal das Verb konjugieren:

  • Ich schäme mich fremd.
  • Du schämst mich fremd.
  • Er, sie, es schämt mich fremd.

Ups.
Kleiner Fehler.
Ich muss mich an dieser Stelle für mich fremd schämen. Denn das Verb ist eindeutig reflexiv und somit sollte es richtigerweise heißen:

  • Ich schäme mich fremd.
  • Du schämst dich fremd.
  • Er, sie, es schämt sich fremd.
  • Wir schämen uns fremd.

Hm.
Kann ich mich eigentlich auch für jemanden fremd schämen, der mir bekannt ist? Kann ich mich folglich für jemanden „bekanntschämen“?
Wenn also ein Blogfreund, mit dem ich schon diverse Bierchen getrunken habe, plötzlich mitten des nachts auf der Strasse in Unterhosen steht, weil er ohne Hose da steht, kann ich mich dann für meinen Freund überhaupt „fremdschämen“? Müsste ich mich nicht „bekanntschämen“?
Wenn mir ein Schauspieler oder Fußballspieler bekannt ist, wäre dann „fremd“ schämen nicht eine radikale Brüskierung meiner eigenen Kenntnisse über diesen und für den nicht eine Art indirekte Beleidigung ihm gegenüber?
Und ist mir jemand wirklich absolut fremd, kann ich mich dann wirklich für ihn „fremdschämen“ oder ist das ganze nicht einfach nur eine Mache, um mich im moralisch besseren Licht dar zu stellen. Mich im Vergleich zu anderen als den besseren zu profilieren?

Inzwischen begegne ich dem Wort „fremdschämen“ immer häufiger. Auch hier in den Blogs ist das Wort ja eine ausgesprochene Modewelle geworden. Sei es in den Kommentaren, wo sich jeder wirklich kollektiv fremd geschämt wird. Oder in den Blogs selber, wo sich jemand mit erhobenen moralischen Zeigefinger fremd schämt.

Wie ich jetzt.

Das Wort ist fatal. Man kann es gar nicht benutzen, ohne dass man sich als den Besseren darstellt. Wir sollten uns für diejenigen fremd schämen, die das Wort „fremd schämen“ noch nie in ihrem Blog verwendet haben. Einmal so richtig gemeinsam „Fremdschämen“.
Außer natürlich für Enzyklopädie-Werke.
Nicht einmal Wikipedia kennt bislang dieses Wort. Zwar findet sich zum Thema „schämen“ der folgende Satz „Scham hat zu empfinden, wem Unrecht zugefügt wurde“. Aber das Wort „Fremdschämen“ ist dort noch undefiniert.

Vielleicht hat es auch noch niemand reflektiert, wie häufig das Wort inzwischen als neuer moralischer Zeigefinger verwendet wird.
Für mich ein Kandidat für das Unwort des Jahres. Ich werde der Uni Frankfurt dieses Wort als Unwort vorschlagen.
Wat mut, dat mut.
Fremdschämen.

Ein Modewort im Spiegel der Zeit.

Womit ich wieder bei den Spiegelneuronen wäre.

Ich strecke gleich nochmals dem Äffchen meine Zunge raus.
Und anschließend schäme ich mich mit brutalst offener Radikalität für das Äffchen einfach mal richtiggehend fremd.

Und fühle mich dann gut dabei.

Richtig fremd gut.

Im Zeichen der Spiegelneuronen.

Hugh.

10 Gedanken zu „Kandidat für das Unwort des Jahres einfach zum Fremdschämen

  1. Die BILD-Zeitung hatte dieses Wort offenbar im April/Mai millionenfach verbreitet, als dort eine Fernsehsendung besprochen wurde. Inhaltlich hat BILD damit entsprechende Darsteller erheblich kompromittiert (Bloßstellung einer Person anderen Personen gegenüber und die damit verbundene Demütigung bzw. Kränkung).
    Dieses Wort selber ist ja eine Entfremdung vom eigentlichen „schämen“ selber und drückt was anderes aus, als was „schämen“ impliziert und bedeutet. Das Wort „Fremdschämen“ versucht den „fremd Beschämten“ zu kompromittieren und somit Bruchstellen zu schaffen. „Schämen“ als innerer Prozess eines Menschen dagegen versucht innere Bruchstellen (z.B. moralische Fehltritte) zu beheben, was ein als schmerzhaft empfundener Prozess ist. „Fremdschämen“ dagegen ist wie der Krieg einer Nation nach außen, um von inneren Problemen abzulenken.

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  2. Wieso? Es hat schon immer ein Wort dafür gegeben.
    Wenn heute jemand sagte „Der war ja richtig peinlich“, so wird heute dafür gesagt „Ich hab mich für ihn fremdgeschämt“. Der Unterschied hierbei ist nur, dass mit dem Wort „fremdschämen“ verschiedenes zum Ausdruck gebracht wird, was man offen nicht sagen möchte, weil es eben peinlich wäre (ergo, zum Fremdschämen beim anderen führen würde …)

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  3. Uni Frankfurt steckt bei jener Gesellschaft mit drinne. Einfach den Link im Text von mir anklicken. Dort findest du die Erklärung dazu.
    Keine Sorgen. In dem Satz mit der Unterhose war natürlich lediglich eine fiktive Angabe drinne. Ob es sich bei dieser unwahren Behauptung darum handelt, ob es sich bei der Person wirklich um einen „Blogfreund“ gehandelt haben könnte oder ob ich infam log, als ich schrieb jene Person hätte eine Unterhose angehabt, als er mit runtergelassener Hose auf der Strasse stand, das sag‘ und schreib‘ ich hier nicht …
    Schämen ist ja eigentlich ein aktiver Prozess der Selbstreflektion. Ein innerer Prozess, der die inneren Brüche in dem Leben versucht in Harmonie zu bringen. Das ist verdammt schmerzhaft. Denn es bleibt immer ein innerer eigener Reinigungsprozess (in der Tradition von Schuld und Sühne). Aber wie soll dann überhaupt „fremdschämen“ gehen? Die Leute nutzen ein Wort in falscher Weise um etwas anderes auszudrücken. Das Wort „fremdschämen“ ist verdammt unehrlich.
    Keinen Grund zum Schämen wird es nie geben. Immer wo Menschen zusammen leben, wird es dieses Gefühl geben. Das gehört zum Leben und zeichnet u.a.a. den Menschen als Menschen aus.

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  4. Hehehe, auch ich habe dieses Wort schon in meinem Blog benutzt (http://junikat.blog.de/2007/09/17/laute_menschen~2995141) und schäme mich nicht mal dafür. Viel interessanter dagegen finde ich, wie sich solche Worte entwickeln, von der einfachen Benutzung eines Wortjongleurs (?) bis zum Allgemeinplatz. Siehe auch „nicht wirklich“, das aus dem amerikanischen Not really entlehnt sich als ähnlich nervige Phrase entufert hat.

    Ich finde grundsätzlich gut, wenn jemand phantasievoll mit Sprache umgeht. Wobei ich gestehe, daß ich die Formulierung Fremdschämen irgendwo übernommen habe und nicht mal weiß, woher.

    Und jetzt, da ich nochmal kritisch meinen Kommentar lese, frage ich mich, ob etwas „als Phrase entufern“ kann, oder ob sie da nur mit mir durchgegangen sind. Nicht, daß Du Dich für mich schämen mußt…

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  5. Ich schäme mich auch öfters mal fremd, habe aber bisher nie wirklich einen Ausdruck dafür gefunden. Jetzt bin ich erfreut darüber, dass ich mich für mich fremdschämen kann und auch manchmal mit den Spiegelneuronen über mich selbst bekanntgeschämt habe.

    Bekannte Fremden Fremde Bekanntengrüße
    belinda.

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  6. Spiegelneuronen bilden sich im Kopf aller Redakteuere, die länger als drei Tage beim SPIEGEL arbeiten. Oder waren es doch eher Sppiegelneurosen??

    Beichte: ich hab den Text nicht mal zur Hälfte gelesen…

    …aber er scheint gut zu sein!! :>>

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  7. Uni Frankfurt? Macht das nicht eher die Gesellschaft für deutsche Sprache? Ich will hier aber mal nicht korinthenkacken und mich fremdschämen.

    Soll ich Dir was gestehen? Ich habe dieses Wort noch nie bemerkt und somit auch nicht benutzt.

    Bin aber froh, dass ich bei unserem Treffen wenig bis nichts getrunken habe (an Alkohol), weil ich sonst vielleicht in Dessous vorm Eschenheimer Tor gestanden hätte und Du Dich vielleicht fremd- oder bekannt- oder was auch immer geschämtfreut hättest :)

    Im übrigen finde ich es bemerkenswert, dass sich überhaupt mal jemand wagt, sich zu schämen. Fremd oder auch bekannt. Es könnte ein Anfang für eine neue Zeitrechnung der Menschlichkeit stehen, wozu es mir allerdings noch wichtiger wäre, dass es überhaupt keinen Grund zum Schämen gäbe.

    Sonnige Grüße in die Oktoberfest-Stadt!

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  8. Und ich werd mich jetzt in zehn Minuten im Fremdschämen üben: Über Dauer-Linksfahrer, Drängler und Blitzer auf deutschen Autobahnen. Und über mich freilich, wenn meine dunkle Seite der Autofahrermacht aus mir herausbricht. Mr. Hide gewissermaßen …

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