Der Fotoladen (Läden einer Kindheit – ein Erzählprojekt)


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Dieser Eintrag ist Teil eines Erzählprojekts von Jules van der Ley. In seinem Blogeintrag „Die Läden meiner Kindheit“ erklärt er dazu Intention und Motivation. Dort finden sich auch weitere Verlinkungen zu anderen Blogs, die das Thema aufgenommen haben und sich lohnen zu lesen.


Das Dorf war nicht groß, aber es repräsentierte die damalige Struktur eines gewachsenen Dorfes. Ein jedes Dorf braucht einen Mittelpunkt, um den es stetig wachsen konnte. Eine Keimzelle des organisierten Lebens gewissermaßen. Und in meinem Dorf war das die Kirche. Dort wurde jedes Wochenende den Dorfbewohnern erklärt, wogegen sie sich permanent im Kriege befinden würden: der heilige Krieg gegen Tod und Teufel. Und traditionsgemäß befand sich um die Kirche somit auch der erste weltliche Verteidigungsring: die Dorf-Kneipen. Von der Heiligen Kommunion überreicht vom wichtigen Dorfpfarrer bis zum ersten Pils-Korn-Gedeck serviert vom bedeutesten Dorf-Wirt betrug der Abstand vielleicht maximal vierzig Schritte.

Dass sich der Kirchen-Organist diesen Abstand immer zu eigen machte, um sich statt der Predigt solch ein westfälisches Gedeck zu gönnen, das ist aber nicht der Kern dieser Geschichte und auch nicht, dass paar Jugendliche sich den Streich erlaubten und den Organist einfach von der Orgelbühne aussperrten, als er zum Te-Deum wieder auf die Orgelbühne zurück wollte, aber nicht konnte und der Pfarrer irritiert blickte, weil zum Lobpreisen nicht den Anwesenden die Orgeltöne gespielt wurden.

Zurück zur Dorfstruktur: ein zweiter Verteidigungsring existierte nicht. Denn für die Verteidigung sind traditionsgemäß Männer zuständig und die Männerwelt war die Kneipenwelt. Die dahinter gelegenen Blumen- und Bäckereigeschäfte waren erst sekundär wichtig: für Geburtstagsblumen oder Grabgestecke und für was Süßes zum Fest oder für Bestellungen zum Leichenschmaus. Danach kamen erst Banken und Rathaus. Das Leben musste ja bezahlt oder ab- oder angemeldet werden. So hatte alles seine Ordnung.

Ganz am Rande des Dorfes existierte ein Laden, der hatte seine Magie. Gewissermaßen eine Magie in dörflicher Randlage. Der Laden war nicht groß und er war nicht aufgeräumt. Oder er war es doch, aber als kleiner Steppke durchblickte ich die Ordnung nicht. Die Größe des Ladens würde heute wahrscheinlich keiner mehr als Große der eigenen Wohnung akzeptieren. Es war ein Kramladen. Sein Besitzer war Fotograf. Mein Vater bezeichnete ihn wegen dessen Stirnglatze einmal als Denker und erklärte mir, dass der Besitzer sich gerade deswegen mit dem Fotografieren wohl so gut auskennen würde. Meine Vater hatte eine alte AGFA Kamera und hegte und pflegte sie mit Liebe. Und der Ladenbesitzer – ich nenne ihn mal Rudi – hatte meinen Vater bei dessen Begegnung dazu sehr beglückwünscht. Aufrichtige Wertschätzung bindet Kundschaft. Und AGFA war auch die Marke des Vertrauens von Rudi. Draußen am Eingang des Ladens hatte er als Überzeugungstäter auch das AGFA-Reklameschild. Während der Drogist in der Nähe der Kirche KODAK-Negativfilme als das non-plus-ultra anpries, vertrat Rudi die Marke AGFA. Mein Vater war überzeugter AGFA-Fotograf. Ob Schwarz-Weiß oder später in Farbe, er vertraute AGFA. Abzüge auf AGFA-Papier von AGFA Negativen waren immer besser, egal in welcher Farbausprägung. Das war so. Damals.

Rudi entwickelte Negativfilme selber in seiner eigenen Dunkelkammer und stellte auch die Abzüge her. Daher war Vertrauen wichtig und mein Vater vertraute Rudi. Und ich durfte immer dabei sein, wenn mein Vater sich neue Negativfilme kaufte. Der Laden war im Grunde nicht unbedingt hell gestaltet, aber das vorhandene Licht war ausreichend, um alles aus meiner kleinen Größe aus anzuschauen. Denn Rudi bot nicht nur Fotoapparate an, sondern sein Laden hatte auch Schreib- und Spielsachen. Und besonders die Spielsachen interessierten mich. So sah ich in einem Herbst ganz oben auf einem Regal den Karton einer Carrera-Rennbahn. Heilig Abend stand dann der Karton unterm Weihnachtsbaum, für mich und meinem Bruder.

Das Thema „Fotografie“ hatte aber auch mich gepackt. Und so quengelte ich bei meinen Eltern so lange, bis ich mit meinem Vater bei Rudi im Laden stand. Und Rudi hatte die passende Idee: ein „Opticus Baukasten“ der Firma „Kosmos“. Damit könnte ich etwas über Linsen, Objektive und Kameras lernen. Und: der Clou war, dass ich mir meine eigene Kamera basteln könnte. Ich bastelte fleißig und die Kamera war fertig. Der mitgelieferte Schwarz-Weiß-Rollfilm kam rein und ich versuchte mich zum ersten Mal daran, mit Licht zu gestalten. Die Negative des Rollfilms wurden freilich in Rudis Dunkelkammer entwickelt. Ich war schon ein wenig enttäuscht, als er mir und meinem Vater zeigte, dass ich nur ein zwei Silhouetten fotografiert hatte und der Rest der 34 Negativbilder schlichtweg schwarz glänzten. Die Kamera war wohl einfach nicht lichtdicht.

Nur, der Foto-Virus hatte mich infiziert und das Ziel war für mich klar: wenn ich mir keine funktionierende Kamera basteln konnte, dann musste es eine fertige sein. Und wieder stand mein Vater und ich vor Weihnachten in Rudis Laden. Mein Vater wollte, dass die Kamera was taugte, also musste es AGFA sein, und nicht zu teuer werden würde. Rudi wusste, was passend sein könnte, und am Schluss hatte ich unterm Weihnachtbaum meine „Ritsch-Ratsch-Klick“ mit rotem Auslöseknopf: eine Pocketkamera, die „Agfamatic 4000“.

Beim Kauf der Pocketkamera war mir noch etwas im Kramladen aufgefallen: es roch noch Streu, nach Heu und im Hintergrund tschilpten Vögel. Irgendwann musste Rudi sein Geschäft um eine Zoohandlung erweitert haben. Und wenn Sohnemann quengelig wird, aber Vater sein dagegen sehr …

Und wieder stand ich mit meinem Vater im Laden von Rudi. Die Spielsachen interessierten mich schon wie beim Kauf der Pocketkamera nicht die Bohne. Ich hatte die zugesagte schulische Leistung gezeigt und mein Vater löste seinen Teil des Versprechens ein. Kurz darauf versorgte ich zu Hause einen Wellensittich. Meinen Wellensittich.

Zehn Jahre war ich alt, als mein Vater mir traurig mitteilte, dass Rudi überraschend gestorben sei. Das Dorf verlor seinen Foto-Chronisten und entsprechend groß war die Trauergemeinde bei der Beerdigung. Als ich verstanden hatte, was „gestorben“ bedeutete, fragte ich meinen Vater:

„Was ist mit den AGFA-Filmen?“ „In der Drogerie gibt es welche.“ „Und das Futter für meinen Peterle?“ „Auch in der Drogerie.“ „Und die Schulsachen?“ „Die kaufen wir woanders, aber nicht in der Lottoannahmestelle an der Eisdiele.“

Deren Besitzerin mochte mein Vater nicht. Er ging dort nur hin, wenn es um Karten für alle Gelegenheiten ging. In jenem Geschäft war das Kopierer- und Druckerei-Monopol des Dorfes beheimatet. Ging es um Geburts-, Trauer-, Kommunions- und Einladungskarten, dann führte an jenem Laden kein Weg vorbei. Weder mein Vater, noch meine Mutter mochten die Besitzerin. Sie würde zu viel Böses tratschen, sagten sie mir. Ich selber, nebenbei angemerkt, mochte sie auch nicht. Denn sich in ihrem Kramladen etwas anzuschauen, das war für jene Frau offenbar ein Gräuel. Noch heute höre ich ihre meckernde Stimme beim autologistisch dahin gerotzten Standardsatz: „Wenn du es nicht kaufen wirst, brauchst du es dir auch nicht anschauen.“

Rudis Laden wurde geschlossen. Es eröffnete dort niemand mehr einen anderen Laden, denn der Besitzer der Drogerie hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und übernahm das Foto-Monopol des Dorfes. Jahrelang fuhr ich als Jugendlicher am ehemaligen Laden von Rudi vorbei. Jener kleine Kramladen mit seinem AGFA-Werbeschild und seiner seltsam muffig, heimeligen Atmosphäre blieb mir in lebendiger Erinnerung. Vor einem halben Jahr kam ich dort wieder einmal vorbei. Nichts erinnerte mehr daran, dass in dem Haus ein Foto-Kramladen war. Ein normales Familien-Eckhaus in einer normalen Straße.

Die Fotografier-Leidenschaft meines Vaters habe ich weiterentwickelt. AGFA spielt bekanntermaßen keine Rolle mehr am Fotomarkt, weder als Kamera-Hersteller noch als Film-Hersteller (ja, ich fotografiere sowohl analog als auch digital). Rudi allerdings bleibt mir weiterhin in Erinnerung. Letztens, als ich ein Foto des Schauspielers Vincent Schiavelli aus jungen Jahren sah, musste ich an Rudi denken. Rudi war zwar eher ein gesetzter Typ, aber Vincent und Rudi haben ähnliche Physiognomien. Rudi war der Typus Mensch, welchen man  gern als „väterlichen Onkel“ bezeichnen würde. Und beim Betrachten von Schiavellis Foto glaubte ich für einen Moment Rudis Stimme zu hören, aber das war nur eine Illusion. Von Rudi ist letztendlich bei mir nur ein vages Bild zurück geblieben. Seine Stimme ist aus meiner Erinnerung verschwunden. Nach jetzt vierzig Jahren.

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