Umnächtigtes Erwachen

Was vorher geschah: Prolog, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12, Teil 13, Teil 14, Teil 15, Teil 16, Teil 17

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Wann beide Züge in einen gemeinsamen Bahnhof einlaufen, ob es je geschieht, das ist eine offene Stelle in der Netzstruktur.

Bahnhof.
Das war das erste Wort, dass mir einfiel, als ich langsam zu mir kam. Mein Kopf schmerzte, besonders vorne rechts an der Stirn. Mir war, als würde ich schwitzen. Ein Tropfen lief mir zäh am Augewinkel vorbei, die Backe runter, wo er verharrte. Ich registrierte, dass ich mit dem Gesicht nach unten auf einem Boden lag.
Die Kopfschmerzen verlangten kurzfristig wieder meine Aufmerksamkeit, stechende Kopfschmerzen, die wie Blitze von meiner Stirn auszugehen schienen und sich wie ein glühender Ring um meinen Kopf zu legen schienen. Die Schmerzen dauerten nur Sekunden, aber ließen mich innerlich verkrampfen. Etwas in mir sagte mir, mit jeder Muskelfaser meines Körpers dagegen anzukämpfen und alle Muskeln gehorchten. Einem Spasmus gleich verkrampfte sich mein Körper. Vor Schmerzen versuchte ich meine Augen gewaltsam zusammen zukneifen, mein Oberkiefer schien gewaltsam auf meinen Unterkiefer zu pressen, sodass mein Kinn auf meine Brust gedrückt wurde. So schnell, wie die stechenden Kopfschmerzen gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Mein Körper entspannte sich wieder, der Druck im Gebiss ließ nach, meine Augen entkrampften sich. Zögernd öffnete sich, aber ich konnte nichts erkennen, es war dunkel um mich herum. Die Luft schmeckte eigentümlich. Es war aber nicht die Luft, die so schmeckte. Es war eine Erinnerung, die in mir auftauchte und in meinem Mund diesen Geschmack hervor rief.
Ein Fahrradunfall in meiner Jugend.
Damals wollte ich den Abstandshalter vom Vorderradschutzblech vom Vorderrad wegbiegen, damit dieser nicht in mein Vorderrad geraten konnte. Stattdessen geriet ich mit meiner Hand ins Vorderrad. Wäre das im Stehen geschehen, es wäre keiner Erwähnung mehr wert gewesen. Es geschah aber in voller Fahrt. Aufgrund dieses Leichtsinns überschlug ich mich. Als ich nach dem Überschlag wieder auf der Straße liegend erwachte, hatte ich einen eigentümlichen Geschmack im Mund. Leicht steinig, erdig, mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge und metallischen Nachhall an den Zähnen.
Es wurde für mich der Geschmack von Beton und Asphalt. Jedes Mal, wenn ich mit diesem Material näher in Kontakt kam, schmeckte ich ihn im Mund. Dafür brauchte ich noch nicht mal gewaltsam mit diesen Materialien in Kontakt kommen. Es reichte, wenn ich mich in Vollkontakt mit ihm begab. Dann tauchte der Geschmack auf, so wie das Amen in der Kirche.
Und wieder schmeckte ich ihn wieder, diesen Untergrund, im Dunkeln. Ich versuchte meine Hände zu bewegen und war im ersten Moment überrascht, dass ich nicht wusste, wo sie waren. Erst als ich meine Schultern bewegte, bemerkte ich, in welcher beengten Lage ich mich befand. Meine Arme waren mir an den Körper gepresst. Vermutlich lag ich zwischen zwei Wänden eingeklemmt, meine Ellenbogen drückten gegen diese und kaum hatte ich das bemerkt, meldeten sie sich mit einem leichten Schmerzgefühl. Für einen Augenblick ging ich der Frage nach, was zuerst war, der Schmerz oder der Gedanke, es müsse eigentlich Schmerzen geben. Ich ließ den Gedanken fahren und konzentrierte mich, meine Hände zu entdecken.
Es war ein eigentümliches Gefühl, jedes Körperteil gewissermaßen per Gedanken reaktivieren zu müssen. Und wieder hatte ich ein Déjà-vu. Diese Situation des Wiederentdeckens kannte ich bereits. Von meinem damaligen Fahrradunfall.
Nachdem ich alle meine Sinne wieder beisammenhatte, erkannte ich, dass ich wohlmöglich in einem Schacht lag, der wahrscheinlich nicht mehr als einen halben Meter Breite maß. Und, obwohl ich beengt lag, meine Ellbogen leicht schmerzten und mein Kopf auf Beton lag, fühlte ich mich nicht unwohl in meiner Position.
Einstweilen aber nur.
Zumal verstand ich nur Bahnhof, wo ich mich befand. Bahnhof. Mein Hirn fing emsig an, mit dem Wort »Bahnhof« zu arbeiten. Irgendetwas sollte das Wort sagen. Aber warum “Bahnhof” und nicht “Schacht”? Und überhaupt wie kam ich hierher?
Zu dem Geschmack von Beton und Asphalt mischte sich nun auch noch der Geschmack von Magensäure und diversen Alkoholika. Rotwein, Bier, Absinth. Und wieder Magensäure. Nein, mir war nicht übel, aber der Geschmack von Magensäure signalisierte mir unmissverständlich, dass es mir wohl vorher schon erheblich schlechter gegangen sein muss.
Ich versuchte leicht den Kopf zu heben und sofort setzte der stechende Schmerz wieder ein. Wie ein Blitzstrahl strahlte er auf meinen gesamten Kopf aus und umfasste ihn wie einen Schraubstock. Mein Körper verkrampfte erneut. Diesmal spürte ich, wie sich meine Hände in den auf denen liegenden Oberschenkel krallten. Ich wollte locker lassen, aber es ging nicht.
Kurze Zeit später verschwand der Schmerz, so wie er gekommen war. Mein Körper entkrampfte. Erleichtert seufzte ich. Wie schön, wenn Schmerz nachlässt. Gleichzeitig übermannte mich Müdigkeit. Ein wenig ruhen, nur noch ein wenig, nur ein wenig Schlafen, ein bißchen. Meine Gedanken wurden matter, erlahmten regelrecht und mein Körper fiel in ein schwarzes Loch aus unruhigem Schlaf.

(Fortsetzung)