Die Männer aus Zaïre

Da stand der Bus vor dem „Hotel Jagdschlösschen“ (Ascheberg / Westf.) in den Landesfarben von Zaïre lackiert. Wir Kinder standen vor dem Seitenausgang und warteten mit Notizblock und Kugelschreiber. Unsere Eltern im sicheren Abstand. Mein Vater schob mich noch nach vorne: „Du musst dich trauen.“

Die ersten Spieler durchschritten die Tür. Die Kinder drängten sich ihnen entgegen und reckten ihnen Notizblock und Kugelschreiber entgegen.

„Autogramm! Autogramm!“, hallte es unentwegt. Deutsch sprachen sie nicht, aber irgendwer meinte, dass würden sie verstehen. Einige Kinder hatten Sammelkarten und Mannschaftsfotos des Teams aus Zaïre, Fotos und Karten, welche im Vorfeld der WM 1974 in Deutschland in den Geschäften und Tankstellen verkauft wurden.

Je älter man wird, desto verwaschener werden Erinnerungen. Oft bleibt nur eine idealisierte Erinnerung zurück. Erinnerungen, die man sich gerne ins Gedächtnis zurück ruft. Das Gedächtnis manipuliert und erst wenn man seine Erinnerungen mit jemand anders vergleichen kann, verschwindet mancher idealisierender Nebel der Erinnerung und es bleibt das zurück, was wirklich war.

Ich sehe mich noch in dem Ring der Kinder um jenen Eingang, als wir auf die Fussballspieler der Wm-Mannschaft aus Zaïre warteten. „Zaïre“ gibt es nicht mehr. Das Land hatte viele Namen. Damals hieß es „Zaïre“, heute heißt es „Demokratische Republik Kongo“. Aber für mich hieß es damals nur Zaïre und dessen Diktator Mobuto hatte für mich das gleiche Sympathieniveau wie der damalige Ugandische Diktator Idi Amin. Also so knapp über dem Niveau eines Menschenfressers.

Die Mannschaft aus Zaïre war die einzige afrikanische Mannschaft bei der Fußball WM 1974 in Deutschland und war in meinem Dorf im dortigen Hotel „Jagdschlösschen“ untergebracht. Dass ca. 30 Kilometer weiter in Hiltrup die Fußballmannschaft der Niederlande einquartiert war, wusste ich nicht. Es war mir auch unwichtig. Ich wollte nur Autogramme von den Spieler aus Zaïre, aber ich traute mich nicht. Mein Vater schob mich nachhelfend nach vorne. Und dann kamen die schwarzen Männer aus Zaïre. Schwarze Männer kannte ich nur aus der Kirche. Dort hatte die katholische Kirche immer Hilfsgeistliche aus Zentralafrika hingeschickt und sie waren für uns immer ein Hingucker. Denn Schwarze kannten wir nicht.

„Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?“ „K-e-i-n-e-r!“ „Und wenn er kommt?“ „Dann laufen wir!“ So war die Standardeinleitung eines Fangen-Spiels auf dem Schulhof der heimatlichen Grundschule. Einer versuchte soviel Kinder wie möglich abzuklatschen, die ihm entgegenliefen. Dann lief jener mit den Abgeklatschten erneut den Nicht-Abgeklatschten entgegen. Gewonnen hatte jener, der als letzter abgeklatscht wurde. Und der wurde dann der neue „Schwarze Mann“, der dann rufen durfte:“Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?“

Ich reckte den Spielern meinen Autogrammblock mit meinem Kugelschreiber entgegen. Meinen Erinnerungen nach hatte ich wohl von vier oder fünf Spielern Autogramme ergattert. Auf dem Block standen unleserliche Namen, die ich sowieso nicht kannte, die mir aber nur eines sagten: Spieler der Nationalmannschaft aus Zaïre hatten mir ein Autogramm gegeben. Nur habe ich den Block nie mehr wieder gefunden. Er wird wahrscheinlich verloren gegangen sein.

Zaïre hatte bei der WM kein Glück. Brasilien, Jugoslawien und Schottland nutzten die Mannschaft, um deren Torquote aufzuwerten. Sie verließen nach drei Spielen die WM in Deutschland. Zuvor aber hatten die Spieler in dem Ort für Aufregung gesorgt. Es gab zwei Elektro-Einzelhandelsgeschäfte, in denen es Fernseher, Radios und andere Elektronikartikel gab.Diese Geschäfte waren komplett von der Nationalmannschaft Zaïres leer gekauft worden. Die Spieler hatten deren vor der WM ausgehändigtes Handgeld genutzt, um das ganze Dorf ins Schwitzen zu bringen. Denn nun durfte während der WM kein Fernsehgerät spontan ausfallen. Denn Ersatz bei den beiden einzigen Einzelhändlern gab es nicht. Aber das Dorf überlebte diese bedrohliche Situation und sah, wie Beckenbauer in München den WM-Pokal in den Himmel reckte.

Von der Nationalmannschaft Zaïres erfuhr man nur eines: würden sie das letzte Spiel so verlieren, wie die beiden Spiele zuvor, so drohte der Diktator Mobuto per Fax ins Hotel – so wurde im Dorf mit entsetztem Unterton erzählt – die Spieler bei der Heimkehr ins Gefängnis zu stecken und/oder zu hängen. Sie verloren das letzte Spiel. Was aus den Spielern danach wurde, habe ich nie erfahren.

Letztes Wochenende übernachtete ich im „Hotel Jagdschlösschen“ und an der Wand hing das Bild der Leoparden Zaïres mit dem, was ich nie erreichte: die Autogramme jeden Spielers der Nationalmannschaft. Eine Fundstück als Ergänzung meiner Erinnerungen …

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2 Gedanken zu „Die Männer aus Zaïre

    • Naja, es geht ums gefühlte Alter, nicht wahr. Denn jedes Jahr wird halt jeder älter. Isso. Kann man nichts gegen machen, gibt es auch nicht’s dagegen von Ratiopharm. Aber ein wenig ignorieren ist schon machbar. Und auch das, was ich vor dreißig Jahren über die Männer mit fünfzig gesagt hatte … ;)

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