Über Ratlosigkeit und Fluchtwege

Die Ansage ist eindeutig.

„Aufgrund der Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland wurde der gesamte Bahnverkehr zwischen Österreich und Deutschland eingestellt. Es gibt keine Bahnverbindungen mehr nach Deutschland. Dieser Zug fährt nicht mehr nach München. Der Zug endet in Innsbruck. Nächster Halt ist Innsbruck Hauptbahnhof. Der Zug endet hier.“

Die Reisenden im Zug sind bunt gewürfelt. So bunt wie es die mitteleuropäische Gesellschaft nicht ist. Egal, wie bunt gewürfelt oder wie einfarbig jeder ausschaut, jetzt haben alle etwas gemeinsam: die Ratlosigkeit.

„What did she said?“

„Was hat die gesagt?“

„How do we get to Germany? We do have a valid ticket to Munich!“

„Wie kommen wir nach Deutschland? Wir haben ein gültiges Ticket nach München!“

Die Verwirrung ist groß. Der Zug läuft in den Hauptbahnhof ein und die Passagiere reagieren zögerlich. Die Durchsage wiederholt sich. Zweisprachig. Die Ansage ist nüchtern, klar, nicht unfreundlich, aber auch irgendwie völlig teilnahmslos. Keine übliche Höflichkeitsfloskel wird hinterher geschoben, in welcher die Passagiere bedankt werden, mit den Österreichischen Bundesbahnen gefahren zu sein. Der Blick aus dem Fenster bestätigt, dass der Zug Innsbruck erreicht hat. Die nächtliche Neonreklame einer Tageszeitung am Bahnsteig verspricht ein buntes Leben auf den Seiten dieser Welt

Die ersten Reisenden stehen auf, ergreifen ihre Koffer, holen sie aus den Gepäcknetzen herunter, stellen sie in den Gang, blicken um sich und schieben sich mit ihrem Gepäck auf die Zugtüren zu. Sind die Großraumwagen der Züge noch recht geräumig, so sind deren Ausgänge Nadelöhre. Mehr als ein gezogener oder geschobener Koffer geht kaum hindurch. An den Türen werden die Koffer angehoben und die drei Stufen runter gewuchtet. Männer helfen Frauen, bis sie mit ihrem Gepäck auf dem Bahnsteig stehen.

Der Bahnsteig gleicht einem Ameisengewimmel, an dessen Rändern sich deren Straßen von Menschen mit Koffern bilden. Nur Stehen am Bahnsteig keine freundlich lächelnden Berater, welche den Ratsuchenden mit einem Fahrplan in der Hand die Anschlussmöglichkeiten nach München erklären. Stattdessen breitschultrige Polizisten auf die Passagiere. Jeder, der nicht ausreichend mitteleuropäisch ausschaut, wird gleich aussortiert und zu Gruppen von gleich ausschauenden Menschen geschoben. Warum „gleich ausschauend“? Weil sie alle anders als der durchschnittlich Mitteleuropäer ausschauen.

Wir bleiben von den blau Uniformierten unbemerkt. Vielleicht ist es nur ein glücklicher Moment, vielleicht waren wir schon beim Aussteigen als unwichtige Passagiere kategorisiert worden. Ihre Rücken sind uns zugewendet, als wir sie passieren. Sie gehen ihrer Hauptbeschäftigung nach: wie Schäferhunde halten sie die Herde der schwarzen Schafe zusammen. Ein Junge aus der Gruppe winkt jemandem hinter uns zu, ruft etwas unverständliches, geht zwei, drei Schritte aus der Gruppe heraus, jener Person entgegen, wird aber von den Wächtern grob an der Schulter gefasst. „Zurück!“ blafft der Polizist und schubst ihn unsanft wieder in die Gruppe zurück. Es ist wie in einem schlechten klischeeüberladenden Film.

Wir befinden uns im Strom der Menschen auf eine Treppe zu. Die Aufzüge sind abgestellt und funktionieren nicht. Die Rolltreppen bewegen sich seltsamerweise alle nur nach oben. Es wirkt wie Murphys Law. Also tragen wir unser Gepäck alleine der langen Treppe runter.

In der Bahnhofshalle sammeln sich die Reisenden, die nicht bereits durch die Fänge der Polizisten aussortiert wurden. An dem Infostand der Bahnhofshalle stehen die Menschen in einer langen Schlange: deutsche Passagiere halten ihre Fahrkarten in den Händen und warten auf Hilfe. Ihre Sprache ist universell geprägt von Ratlosigkeit. Warum dürfen sie nicht mehr mit dem Zug in ihr Land zurück?

Ein Mann wischt auf seinem Smartphone herum und erklärt seiner Gruppe: „Die Deutschen haben die Grenzen zu Österreich dicht gemacht! Aber nur die Bahnverbindungen. Auto geht weiterhin.“ „Und wie kommen wir hier jetzt weiter? Wir haben kein Auto. Warum haben die das im Zug erst kurz vor der Einfahrt in Innsbruck vermeldet? Warum haben die keine Busse organisiert?“, erwidert eine Frau aus der Gruppe. Ihre Hände fuchteln dabei hilflos in der Gegend herum. Gemurmelte Bestätigungen begleiten ihre Aussage wie unterdrückter Applaus. Ratlosigkeit ist wieder greifbar.

Wir entfernen uns von diesem Menschenrummel, gehen raus aus der Menge, an deren Rand, um einen Überblick zu gewinnen. Welcher Überblick das sein soll, ist uns allerdings noch gar nicht klar.

Unweit von uns, faucht ein Mann in blauer Fahrradfahrermontur gereizt seine ebenfalls blau in Fahrradfahrerbekleidung einfolierte Begleiterin an: „Nun gib mir schon dein Handy! Ich brauch die Nummer!“ „Nein! Das ist mein Handy, ich gebe es dir nicht!“ Der Dialog endet im Aufzählen von Beleidigungen gegeneinander.

Wir kommen an einer weiteren Gruppe von fünf Fahrradfahrern vorbei. Mit ihren Fahrrädern scheinen sie eine Art Wagenburg für ihr ihre Gruppe zu bilden. Auf ihren quitschend orangenen T-Shirts steht „Alpen-Überquerung 2015 der fidelen Flitzer“.  Von frohen Mutes und Freudetrunkenheit kann ich bei diesen ausgebremsten Alpenflitzern nichts mehr erkennen.

„Ich muss morgen früh zur Arbeit! Ich kann doch nicht gleich direkt am ersten Tag wieder fehlen!“

Ganz am anderen Ende der Halle hinter der Menschenmenge ist noch gerade zu sehen, wie wieder zwei Schwarze und zwei Kopftuchträgerinnen von der Polizei auf ihren Weg zur Bahnhofshalle kompromisslos abgefangen und rigoros umgeleitet werden.

Um uns herum stehen viele und analysieren ihre Situation. Einen Plan „B“ hat niemand. Zwar hat sich zuvor gezeigt, dass die kleine Regierungskoalitionspartei CSU in der Thematik der Flüchtlinge eine klare rigide Ansicht vertretet, aber dass die bayrische CSU es schafft, den Grenzverkehr zu ihren geliebten österreichischen Nachbarn am letzten Tag der Schulferien einzustellen, das kam aus heiterem Himmel, wenn auch in der Nachbetrachtung nicht wirklich überraschend ist.

Drei andere Menschen hatten sich zu uns gesellt. Auch sie sind vor dem Erreichen des Ziels München gestrandet. 170 Kilometer vor dem Ziel. Nicht unweit von uns befindet sich der Ausgang. Davor stehen Taxis. Wir haben beschlossen, den Preis für ein gemeinsames Taxi  in Erfahrung zu bringen. Ein türkischer Taxifahrer kommt auf uns zu.

„Wieviel?“

„Fünf Personen mit Gepäck.“

„Okay. 300 Euro und ich bring euch rüber.“

„250 Euro“

„300. Festpreis.“

„Die Grenzen werden kontrolliert. Wir wollen ohne Kontrolle rüber.“

„Ich kenne einen Weg. Dort wird garantiert nicht kontrolliert.“

Unser Gepäck verschwindet im Heck des geräumigen schwarzen A-Klasse-Mercedes. Der Weg führt über Seefeld. Keine Polizei. Lediglich knapp fünfhundert Meter hinter der Grenze ein Polizeiwagen auf einem Parkplatz an der Landstraße. Dessen Scheinwerfer leuchten direkt in die Strasse und auf jedes Fahrzeug aus der Richtung Österreich. Unser Fahrzeug huscht im Scheinwerferlicht vorbei. Unkontrolliert.

Kurz danach taucht ein Schild auf: „Schloß Elmau“ bei Elmau. Der Gipfel. Der G7-Gipfel im vergangenen Sommer. Dort waren die Ströme der flüchtenden Menschen aus den Krisenregionen nicht wirklich ein Thema. Dafür aber mehr die Krisenregionen und wie die G7-Gipfler dort staatlich eingegriffen können. Militärisch. Und wie die Weltwirtschaft mit ihren Geldströmen gelenkt werden sollte. Monetär.

Immer wieder klingelt das Telefon des Fahrers neben ihm in der Mittelkonsole. Auf dem Smartphone-Display lese ich mehrfach den Name „Harkan“. Die Anrufe dauern kaum länger als drei Sekunden. Wie Kontrollanrufe. Der Fahrer gibt offenbar auf türkisch kurz seine Position durch und dann ist das Gespräch sofort wieder beendet.

Über eine Stunde später erreicht unser Fahrzeug am Münchener Hauptbahnhof. Auf der Südseite. Auf der Nordseite treffen regulär die Flüchtlinge ein und erhalten Betreuung. Allerdings nur, sollten nicht gerade mal wieder Zugverbindungen gekappt worden sein. Der Taxifahrer hält am Hauptbahnhof auf der rechten Fahrspur. In zweiter Reihe. Wir laden unser Gepäck aus und übergeben ihm das geforderte Geld.

Angekommen. Am Münchener Hauptbahnhof. Innsbruck liegt 180 Kilometer hinter uns. Mit dem Helfer haben wir es geschafft, unkontrolliert über die österreichisch-deutsche Grenze zu gelangen.

Die anderen drei waren noch nicht am Ziel. Sie nahmen den Mitternachtszug nach Stuttgart. In Stuttgart warteten deren Angehörige.

Wir beide dagegen setzten unseren Weg in München fort. Nach Hause.

4 Gedanken zu „Über Ratlosigkeit und Fluchtwege

  1. Toller Bericht! Bin froh, ihn hier lösen zu können, denn ich habe mich schon gefragtt, wie es gewöhnlichen Reisenden wohl ergeht, wenn die Grenzen dichtgemacht werden und Züge nicht mehr fahren. Ist alles ein großes chaos jetzt. Schade, dass unsere Politiker erst letzte Woche von hinterm Mond eingewandert und völlig unvorbereitet sind, auch kein Konzept haben. Irgendwann wird die private Hilfsbereitschaft einbrechen, sehr bald sogar, und dann muss nur was Blödes passieren, schon haben wir hier die große Kopflosigkeit der politischen Klasse diese Mutter-Merkel-Plakathochhalter sind auf sich allein gestellt und wir kriegen hier Polizeistaatmethoden.

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    • Es ist ein komisches Gefühl. Ein Gefühl des Ausgeschlossen-Seins. Des Nicht-Dazu-Gehörens. Auch wurde mir klar, dass es auch kein Plan „B“ für so eine Situation meiner Reise geben konnte, denn die eigene Vorstellung war ausschließlich Plan „A“. Die Wolke der Glückseeligen. Denn nur so wird klar, dass Lampedusa nicht lediglich eine Endstation der Flüchtenden sein konnte, dass Menschen nicht aus Jux und Dollerei im Mittelmeer ersaufen, während das erste halbe Jahr versucht wurde, Griechenland als Exempel der eigenen Wirtschaftsstärke Ausgabenkürzungen aufzuzwingen. Wenn nun Italien und Griechenland lediglich Durchreiseländer der Flüchtlinge geworden sind, weil diese Länder das Geld nicht haben, um Flüchtlinge zu betreuen, dann ernten die anderen Länder, wofür sie den Acker bestellt haben. Aber ich möchte hier nicht Ursache und Wirkung durcheinander werfen. Denn Ursache der Flüchtlinge ist die Destabilisierung derer Regionen durch unsere Regierungsentscheidungen. Vielleicht sind die Flüchtlinge die Ursache der Grenzschließung beim Bahnverkehr. Aber deren Schuld ist es definitiv nicht. Die Schuldigen sitzen woanders. In trockenen Tüchern.
      Auswirkungen der Situation sind fühlbar. Ich selber werde nie behaupten können oder dürfen, dass ich von all dem nie etwas mitbekommen hätte.

      Nebenbei: Interessant ist ja auch die Sache, dass es keine Züge von Deutschland nach Österreich gab. Es mussten also Leute in München geben, die dort ebenfalls gestrandet waren. Und etwas hatte die Situation in Innsbruck ähnelnd derer von „Flüchtling“ (Reisende) und „Schlepper“ (Taxifahrer), auch wenn ich mir mit dieser Bemerkung sicherlich den Zorn und die Wut von Lesern zuziehen kann.

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